Am Teltschik-Turm scheinen Leute mit Hunden zu sein, schon aus einiger Entfernung höre ich ein Jaulen und Fiepen. Tatsächlich, ein Wagen hat nahebei geparkt. Aber wo ist der Hund, wo seine Halter? Der Platz um den Turm ist verlassen, die Bänke und Tische stehen wie Viehtränken im Regen. Und überhaupt, das Geheul klingt seltsam, bei näherem Hinhören eigentlich gar nicht nach Hund. Kann es sein, daß …? Ernsthaft, bei dem Wetter? Doch doch, unter dieser Annahme ergibt das Geräusch sofort Sinn. Kein Zweifel, was da so jault, kläfft, heult, ist ein Mensch, und der Ursache des jetzt neu eingeordneten Schalls zufolge sind es mit ziemlicher Sicherheit zwei — auch wenn man zunächst nur sie hört. Aber wo sind die beiden? In dem Wagen? Bestimmt nicht, denn sonst wären die Scheiben von Innen wohl ziemlich beschlagen, und nach der Heftigkeit der Schreie zu urteilen, müßte das Fahrzeug tüchtig wackeln. Daß sie irgendwo im nassen Gras liegen, auf dem feuchten Waldboden im Unterholz, scheint wegen der Witterung unwahrscheinlich. Andererseits ist an der Situation sowieso und überhaupt nichts wahrscheinlich. Auch stimmt die Richtung nicht: Die Laute kommen ganz klar von oben, vom Turm. In offener Bauweise errichtet, sind dessen Treppen von außen einsehbar. Würde das Epizentrum des Schalls auf einem der unteren oder mittleren Absätze liegen, müßte man Bewegungen sehen können. Aber da rührt sich nichts, da ist nur tropfender Stahl und nasses Holz. Indessen das Geschrei kurz verebbt, nur um gleich darauf umso lauter wieder einzusetzen. Aber ganz oben, wirklich? Der Turm ist mindestens 40 Meter hoch, die Spitze mit der Aussichtsplattform verliert sich im Nebel. Dort oben weht selbst an einem vermeintlich windstillen Tag immer eine steife Brise, und an diesem Spätwintertag, Temperaturen zwischen 1 und 8 Grad, Nieselregen, muß es da oben scheußlich sein — triefende Nase, klamme Finger, quid non vincit amor?
Rücksichtsvoll doch amüsiert verzog ich mich unter die nächststehenden Bäume (obwohl mich von oben so wenig jemand würde bemerkt haben, wie ich von unten die Aussichtsplattform im Nebel erkennen konnte), dachte an ein Lessinggedicht (nur umgekehrt) und lauschte mit einigem Vergnügen, wie oben die Schreie spitzer und schriller wurden, Fleisch gegen Fleisch klatschte und endlich auch seine Stimme, ein kurzes Keuchen, sich hören ließ — und dann war es vorbei. Ein, zweimal quiekte und seufzte es noch von oben, dann hörte ich, wie zwei sich vermutlich Liebes zumurmelten, und beschloß, daß es Zeit sei, dem Ort und dem Geschehen taktvoll den Rücken zu kehren.
Von meinem Schreibtisch habe ich einen guten Blick auf eine Bushaltestelle. An der Bushaltestelle haust ein Paar, das Flaschen sammelt, und mehr sage ich nicht… (zum Glück bin ich nur noch einmal in der Woche im Home Office).
Sie haben das Geschehen hoffentlich in HD und Farbe mitgeschnitten.
Immerhin sind Sie bis zum Finale geblieben, und so könnte man aus Ihrem Erlebnis auch eine Erotik des Hörens ableiten: das Kopfkino kann sich ohne jede Einmischung realkörperlicher Bilder allein im Hörenden entwickeln 🙂
Eine Erotik des Hörens: unbedingt, die gibt es! Das Kopfkino, würde ich sagen, bekommt ja umso mehr zu tun, je weniger Input da ist. Je weniger man sieht, desto mehr kann die Phantasie sich austoben.
(Es gab mal einen Pornokanal, der ausschließlich Gesichter von Menschen beim Orgasmus zeigte. Man muß das gesehen haben, um zu begreifen, wie erregend dieser reduzierte Anblick — mit Geräusch — sein kann.)