Dümpfhaubsee

Neue Erfahrung von Kälte. Das Thermometer zeigt 7° Wassertemperatur, mit gutem Willen und scheelem Blick 7,5°. Neulich schon bis fast zur Hälfte des kleinen Sees am Dümpfhaub zurückgelegt, gestern dann wirklich die Hälfte, bis an die Stelle, wo sich das Gewässer weitet. Meine zehn klammen Schwimmzüge bringen mich nicht einmal an den Rand der Nachbarschaft des Vorbereichs dieser Zone, schrieb ich im Frühjahr; inzwischen bin ich da, wohin zu gelangen damals unmöglich schien. Beim Zurück dann ein erstaunliches Brennen in den Oberarmen. Keine Schwäche; aber eine spannende neue Empfindung; ein Gefühl von Wärme, wie von einem Panzer. Die Atmung macht noch Probleme, tauche ich den Kopf ein (in der graugrünen Wassersäule schweben hydrostatisch aufgehängte Blätter und vermitteln ein Gefühl von Tiefe und Räumlichkeit, deren es der trüben Brühe sonst ermangelt), will mir der Atem stocken, man muß eine Weile untergetaucht bleiben, und sich zum Ausatmen zwingen. Immerhin schmerzt die Stirn nicht mehr, das war vor zwei Tagen noch sehr unangenehm. Was sonst noch schmerzt, davon will ich lieber schweigen … Was bei normalen Wassertemperaturen nicht auffällt, daß ich rechts nicht so gut atme wie links, wird, je kälter das Wasser, desto deutlicher.

Schwangau (2)

Früh am Tag in Füssen, ein Herbstmorgen Ende September, die Berge überzuckert von vortäglichem Schneefall, die Straßen naß, die Luft kalt, klar, trägt jedes Sonnengleißen leicht und weit in die verschatteten Straßen hinein. Leuchtender Kaminrauch, darunter stehen die Häuser kältestarr, Atemwölkchen verdampfen von den Lippen der Touristen, die sich, noch nicht allzu zahlreich, am Bussteig (“Tegelberg Station via Castles”) einfinden.

Ein katholisches Land, die Glocken tragen uns stundenlang bergauf, bis wir das Tal hinter uns gelassen haben.

Überhaupt, Glocken: eine Herde Kühe ist vom Schlafzimmerfenster aus hörbar am Abend. Wenige Geräusche sind so friedevoll wie das Läuten von Viehglocken, munter, behaglich, träge wie die Wiederkäuer selbst, die die Glocken tragen.

Nachts Stille, wie man nur sehr selten nichts hört. Es ist weniger als nichts zu hören. Als wäre der Raum, in dem sich das Schweigen abspielt, größer als dort, wo ich zu Hause bin. Als verteilte sich das Schweigen und würde dabei immer noch tiefer, nein, nicht tiefer; reiner, klarer, durchhöriger, offener und empfindlicher für jedwede Störung. Ein hochskaliertes Nichts, die akustische Parallele zur Nachtschwärze, in der selbst ein raschelndes Blatt, ein fallender Tropfen, der Schritt eines Vogels noch wie Lärm toben würde.

Schwangau (1)

Fahrt durch Wiesen, gepflegte, wie Teppiche dargebotene Flächen. Die häufigen Raubvögel, Bussarde wohl, wollen gar nicht passen zu dieser Gepflegtheit. Die Anwesen stehen auf winzigen Inseln darin. Man spart am Gärtlein, es ist knapp den die Gehöfte umwallenden Wiesen abgezwickt, Wiesen, Weiden, Heu sind wichtiger als Rosen und Hortensien.

Vermeintlich harmlos strecken diese Weiden sich, freundlich und grün spannen sie sich über sanfte Hügel, bedrängen dabei aber Forste, die sich, in die Vereinzeltung getrieben, von allen Seiten vom Offenen belagert, kaum behaupten können.

Das Land der Weiden aber ist selbst in Gefahr. Irgendwann schiebt sich eine Art Schatten ins Sichtfeld, während der Zug träge durch dieses Wiesenland rattert. Zuerst scheinen es Wolken zu sein, doch dann verdichtet sich diese Masse zum Grund hin, bis deutlich wird, das Dunkle, gegen die Wiesen Hinunterrollende gehört nicht dem Ätherischen sondern dem tellurischen Element an. Erde ist es, Hang und Grat, das nicht so sehr ins Neblige hinaufführt, als von dort, von dem Himmelssphären, langsam herabgelassen wird, bis seine Füße den Grund berühren und es dort Stand nimmt.

Man schaut und schaut, man folgt dieser mal fels- mal baumbestandenen Linie, hinauf und immer höher hinauf, wo die Gefilde des Himmels beginnen, und Land so unmöglich und dann so bestürzend doch möglich ist, daß einen ein Schwindel überkommt. Die Welt steht Kopf, wo Himmel war, steigt Erde auf, und man wendet schnell den Blick ab, um nicht dort hinaufzustürzen.

Die alte Faszination hat mich sofort wieder, wenn ich diese echten Berge anschaue. Wie oft aus dem Autofenster betrachtete geheimnisvolle Riesen, deren Reich jenseits des Genfer Sees begann — es ist ein Bezirk nicht nur der reicheren Geographie und Topologie, es ist auch ein Bezirk der reicheren Geschichten. Der Nebel überm See, aus dem auf der anderen, entrückten, nie, es sei denn, in der Phantasie, zu erreichenden Seite die ruhenden, ihre Geheimnisse hütenden Berge aufstiegen. Wie Traum und Welt ineinanderflossen und sich fruchtbar berührten zu mehr als dem dürren Augenblick, in dem eingeschlossen man über den Spiegel blickte, mit seinen Segelbooten und Schiffen, die immer nur dem diesseitigen Ufer angehörten, wie weit draußen sie auch ihre Segel entfalteten. Man brachte Geschichten mit, die von den fabelhaften, Fabel-haften, Räumen der Berge am andersanderen, am fremden Ufer neu ausgesponnen wurden, von dort weiterführten, ins Unerhörte hinein. So wie man die Reihen der Buchrücken mit einem Schauer der Erregung abegschritten war in der Kinderbibliothek. Nur daß dies keine eingerollten, verpackten Geschichten mit Anfang und Ende waren. Sondern die Räume boten für dieser Geschichten Unendlichkeiten.