Wuppertalsperre

Huh! Hah! Oh, oha!

Die Geräusche sind unmißverständlich. So nah sind die Stimmen, wenn ich mich ein bißchen recke, müßte ich die beiden sehen können. Tatsächlich, da schimmert ein Kopf durchs Gezweig. Also bin ich heute nicht alleine hier. Das ist gar nicht verkehrt. Wenn andere auch so verrückt sind wie ich, stehen wir schon zu dritt gegen eventuelle behördliche Spaßverderber. Erheitert entkleide ich mich und stopfe die Sachen in den Rucksack.

Huah, ist das kalt. huh, ist das kalt, ist das kaaaahalt!

Wieso, ich bin doch noch gar nicht drin?

Kaaaahalt! Huh!

Boje umschnallen, Schwimmbrille auf und rein ins Wasser. Das Wasser verändert sich mit der Zeit, höre ich die Stimme, jetzt ruhiger, sagen. Nach ein paar schnellen Zügen Kraulstil sehe ich einen Frauenkopf mit Schwimmbrille ufernah vorbeidümpeln. Das Gesicht der Schwimmerin ist zum Ufer gewandt, sie sieht mich nicht, oder, so mein Eindruck, sie will mich nicht bemerken. Und mit wem spricht sie eigentlich? Mit sich selbst? Oder mit dem Hund, der am Ufer steht und uns einigermaßen fassungslos zusieht? Dabei muß ich ihr recht geben, das Wasser verändert sich, nicht alleine seine Temperatur, sondern auch seine Textur, die Art der Reibung, die es auf die Haut ausübt. An manchen Tagen ist es härter, wie grobkörnig, an anderen weich, geschmeidig, durchlässig. Manchmal ist es schwerer, dann wieder wiegt es fast nichts. Schon die Art, wie es in seinem Talbett liegt, ist wandelbar. Mal ist der Raum zwischen den Hängen wie mit Blei ausgefüllt, dann wieder scheint die Flüssigkeit so beweglich wie Nebel, mal wirkt die Masse prorös, spröde, dann wieder kompakt; oder luftig, oder aufgerauht, oder schwammartig-dicklich. Wenn es sehr kalt ist, beißt das Wasser wie Chili oder Pfeffer.
Weil man sich als die einzigen zwei Schwimmer auf zehn Quadratkilometer Wasserfläche schlecht ignorieren kann, wünsche ich guten Morgen, als ich vorbeischwimme. Ich habe schon ein Sprüchlein auf den Lippen wie, daß bei so viel Andrang demnächst die Überfüllung drohe, aber die Frau scheint nicht zu Späßen aufgelegt. Tatsächlich scheint es ihr unangenehm zu sein, daß da noch jemand im Wasser ist. Als hätte ich sie bei etwas Unziemlichem ertappt.

Oder bin ich derjenige mit der Unziemlichkeit?

Später unterhalte ich mich mit einer Freundin darüber. Ich hätte, sage ich, der Mitbadenden fast ein Scherzwort zugerufen, oder zurufen wollen, aber die Dame habe nicht so ausgesehen, als würde sie Spaß verstehen. Die Freundin, etwas streng, meint, wer als Frau alleine schwimmen gehe, wolle nicht angesprochen werden. Das sei zwar, erwidere ich, idiotisch, aber dann hätte ich, indem ich mich auf ein Guten Morgen! beschränkte, alles richtig gemacht. Nicht auszudenken, scherze ich, ich hätte auf die Badehose verzichtet. Die Freundin behauptet, das würde sie persönlich weniger stören als irgendwelche Kontaktaufnahmen. Oder würde ich mich gern ansprechen lassen, wenn ich in Ruhe meine Bahnen ziehen wolle? Ein Witzchen machen, finde ich, ist noch nicht ansprechen, aber die Freundin beharrt darauf, irgendwelche Witze oder Fragen, nee nee. Das läßt mir keine Ruhe. Ausnahmsweise nämlich habe ich mich mal gefreut, nicht der einzige Schwimmer zu sein auf weitem Spiegel. So etwas verbindet ja auch. Und zudringliche Menschen pflegen nicht so weit zu gehen, als Vorwand der Kontaktaufnahme ins Wasser zu steigen, wenn sie es ursprünglich nicht vorgehabt hätten. Und ganz bestimmt nicht mit Schwimmbrille und Boje hinter sich, da scheinen mir die Absichten klar zu sein. Aber vielleicht, vermute ich, sehe ich das anders, weil ich mich als Mann grundsätzlich nicht bedroht fühle. Wie sich das anfühlt, wird man als Frau wahrscheinlich so wenig begreifen, wie wir Männer das Gefühl ständiger latenter Bedrohung begreifen können, das Frauen zur zweiten Natur wird, wenn sie heranwachsen. Jedenfalls war ich fast ein wenig bestürzt, daß diese aus meiner Sicht spaßige Begegnung von der anderen Seite möglicherweise als so wenig lustig wahrgenommen worden ist. (Meine eigene Vermutung ist, daß der Schwimmerin bei meinem Anblick klar wurde, daß ihre Selbstgespräche mitgehört worden waren, und daß ihr das peinlich war. Huh!, Hah! Kahalt! — Mir wäre das jedenfalls peinlich gewesen.)

Ich lasse die Schwimmerin hinter mir, schwimme ein paar hundert Meter die Länge des Tals vor, quere zur anderen Seite rüber, schwimme zurück, und als ich mich wieder meiner Ablegestelle nähere, ist niemand mehr zu sehen auf der Wasserfläche, nicht Hund nicht Schwimmerin, die Verstecke und Einstiegsstellen am Ufer sind alle leer. Was an Stimmen zu hören ist, tönt von den entfernten Wegen übers Wasser. Ich steige ans Ufer, wo mein Rucksack in der Sonne leuchtet, und ziehe mich um, ohne einem Menschen mit meinem Anblick zu nahe zu treten.

Drei linguistische Beobachtungen

Über Sinn und Bedeutung: ein neuer Ausdruck der Jugendsprache fragt nach dem Sinn, wo eigentlich nur eine ablehnende Haltung oder so etwas wie milde Entrüstung transportiert werden soll. Neulich in der Bahn unterhalten sich zwei Schülerinnen über Vornamen. Ein Mitschüler von ihnen heißt Wolfgang, sie finden den Namen unmöglich. „Wie kann man sein Kind Wolfgang nennen?“ sagt die eine von ihnen, „Wo. Ist. Der. Sinn?“ Eine andere Mitschülerin heißt Susanne. Wo ist der Sinn? Susanne, meint eine, sei ein Name für Tanten und Großtanten. (Als wären die schon immer Tanten und Großtanten gewesen.) Einen Moment bin ich entsetzt, doch dann rechne ich ein bißchen. Die sich da unterhalten, sind dreizehn oder vierzehn. Und mir kommt Susanne völlig normal vor, weil ich altersgemäß schon nicht mehr der Vater, sondern wohl eher schon der Großvater der beiden sein könnte und also der Generation genau der Großtanten angehöre, die als meine Mitschülerinnen Susanne, Yvonne, Sibylle, Monika, Sandra, Michaela hießen, nur daß sie damals noch keine Großtanten waren. Ich dagegen finde, wie kann man sein Kind nur Emilia oder Greta nennen? Das ist ein Name für Großeltern! Wo ist der Sinn?

Busfahren ist eine stete Quelle linguistischer Puzzle und Preziosen. Auf einer anderen Fahrt belausche ich zwei junge Frauen, in Ausbildung oder Studium befindlich, aber um Jahre jünger, als ich in ihrem Alter war. Daß sie gebildet sind, daran besteht nicht der geringste Zweifel (einmal sagt die eine zur anderen „Dafür bist du nicht die geeignete Kontrollgruppe“), aber das Kauderwelsch aus Englisch und Deutsch, das die zwei unter sich verwenden, ist haarsträubend. Für echtes code switching ist die Aussprache im Englischen, ansonsten für deutsche Lernsprecher ausgezeichnet, dann doch nicht native genug. Das ganze geht auch weit über die übliche Beliebtheit von Anglizismen hinaus. Ein Beispiel (geht um einen Typen): „Ich wäre halt nicht so confused und hurt und mad, wenn er sich wenigstens mal melden würde.“ Das geht so weit klar; aber dann fällt wieder und wieder ein anderes Wort, aus dem ich nicht schlau werde, ich kann es nicht einmal phonetisch auflösen. Es reimt sich auf rigid oder Bridget oder doch eher auf gadget? Und es scheint als Affirmation verwendet zu werden: „Ich wäre halt nicht so hurt, verstehst du?“ — „Rigid!“ „Man kann doch nicht mit dem besten Freund ins Bett!“ — „Gadget!“ Ich rätsele. Widget? Bridge it? Fudge kit? Zum Glück weiß ich, wen ich da fragen muß. Eine meiner Nachhilfeschülerinnen klärt mich auf: nicht Bridget, nicht gadget, legit heißt es, kurz für legitimate, und es bedeutet so viel wie „ganz recht“, „unbedingt“, „das kannst du laut sagen“.

Voll schöön! Voll süß! — Was ich schon länger geahnt habe, bestätigt mir Jutta Allmendinger im Gespräch mit Tilo Jung. Frauen werden oft ihrer Stimme wegen nicht ernst genommen. Zu hoch, zu schrill, zu süß, nicht laut genug: Es lasse sich experimentell nachweisen, so Allmendinger, daß man Menschen mit tiefer, sonorer Stimme eher zuhört und leichter Glauben schenkt, als solchen mit hoher, gar schriller Stimme. Nun mag man das für einen Fluch der Anatomie halten, der halt noch zu den übrigen anatomischen Flüchen hinzutritt, mit denen Frauen ohnehin schon beladen sind und an denen sie nichts ändern können. Aber eine hohe Stimme mag anatomisch bedingt sein, Schicksal ist sie nicht. Ein Bekannter, der von Berufs wegen viel vor Publikum sprechen muß, belegte an der Uni einen Stimmbildungskurs. Beeindruckt von den Fähigkeiten des Dozenten, eines Schauspielers, erzählte er mir von den Problemen, die eine der Teilnehmerinnen mit ihrer Stimme hatte: zu piepsig, zu flach, zu wenig tragfähig, nicht überzeugend. Der Schauspieler, so mein Bekannter, riet ihr, sie solle sich beim Sprechen vorstellen, daß sie gerade total genervt sei und ihren Frust ablasse. Treffer! Mein Bekannter sagte, der Effekt sei fulminant gewesen, die Stimme der Teilnehmerin habe völlig anders geklungen, nicht etwa genervt, sondern volltönend, sonor und voller Autorität. Also, liebe Frauen auf dem Podium, am Rednerpult, beim Vorstellungsgespräch, in der Diskussion mit Freunden: Erwartet nicht, daß man euer Gezwitscher ernst nimmt und laßt das Voll-schön-Gesäusel. Dann hört man euch viel lieber zu. Zumal, was die einen säuseln, als Klischee auf alle anderen abfärbt. Und bevor jetzt wieder eine den Finger hebt und mich des victim blamings bezichtigt: Man kann schmollend erwarten, daß die Welt sich ändere und gefälligst auch die eigene Piepsstimme ernst nehme. Oder man kann trickreich den Effekt einer tieferen Stimme für sich nutzen. Entscheidend ist eben nicht nur, wie wir auftreten, sondern auch, wie wir uns anhören. Gilt für alle, auch für Männer. Nur daß die nicht zum Säuseln neigen. Legit!

Hürxberg

Die Scheunenwand, stumpf von Wolken. Rechts eine Taube auf der Telegraphenleitung. Genau das könnte Frieden sein. Ein Abend, verschlafenes Spatzenrufen, brütende Wärme, die Scheunenwand, die den Sonnenschein von heute abend vergessen hat, Tauben, gespannte Drähte. Alles sehr still, seit langem verstummt, schlummernd. Nichts zu tun, keine Aufgaben, keine Pflichten, keine Sorgen. Dem Tag hat man geweiht, was zu weihen war, nun ruhen die Glieder, und die Augen auf der Scheunenwand. So oft geschautes Gemäuer, man kann sich nicht sattsehen daran. Man findet überall etwas zum Sich-nicht-sattsehen-Können. Überall, allezeit. Man schaut, und es kommen die Vögel. Man schaut, und sie fliegen wieder davon. Man schaut, und der Abend wird. Wird mit Wolken und Himmel, mit Drähten und Tauben und Mauerstein. Wird und ist geworden und geht und war.