Geographie

Ein Eichhörnchen im Kirschbaum; die kaum knöcheltiefe, kieselklare Oure; die Ebene mit Blumenwiesen nach der einen, Gerstenfeldern nach der anderen Seite; die Hügel in der Ferne, deren Füße in der Tiefe verborgen im Fluß stehen; eine Ortschaft an den Hang geklebt, die wir kennen müssen und nach Auskunft der Karte tatsächlich kennen. Nasse Hunde interessieren sich für die Brötchentüte und stolpern über den Rucksack, Grabmale stehen in Grüppchen beieinander, beschattet von voluminösen Eichen. Symboliken des Untergangs, kirchenartige Oberflächen im Bogengang, Inschriften, die von einem Grauen berichten, das an diesem wunderschönen Ort ungreifbar und fern ist. Eine Art Dankbarkeit stellt sich ein, darüber, daß dieser Ort, indem er an das Böse erinnert, es für uns weit wegführt, an einen anderen, verschlossenen Ort voller Dunkelheit. Hier aber käme man gern öfter her, Friede strömt von den Eichen, dem Gras, dem Mäuerchen, das Licht steht ringsum in den Feldern, am Fluß ziehen die Weiden stromauf und stromab wie sanfte Herden.

Alte Wege, vertraute Orte flüchtig aufgesucht, wir haben es eilig, nach Hause und ins Bett zu kommen. Ich sage, hier haben wir uns über Iain M. Banks unterhalten, meine inneren Landkarten sind voll von solchen Orten, die mir, egal wo, Wehmut nach etwas Verlorenem einflößen. Je älter ich werde, desto mehr bevölkert sich die Geographie meiner Erinnerungen mit unerreichbaren Orten der Zeit und der Sehnsucht.

Hürxberg am Ellerntubel

Und der Weg hinunter, der halbwilde Weg den Bach entlang hinunter zum Wasserbehälter (wo man die Ebene sieht, die ganze Heimat auf einmal im Blick), da ist das Licht viel später, als es die Uhr sagt, und ich gehe ihn in der Dämmerung, dabei ist es erst vier Uhr, die Septembersonne noch warm und hoch am Himmel, ich gehe ihn in einer dämmrigen Abendstunde, allein deshalb, weil ich hier nach Hause gehe, wie ich nirgends auf der Welt jemals nach Hause gehen werde.

Und das ist alles so fraglos wirklich: die unverputzte Scheunenwand mit den Fenstereinlassungen ohne Scheiben, die roten Ziegelsteine zwischen den grauen, wie ein Strickmuster, die helle Mauer, die von einer Sonne, die man nicht direkt sehen kann, angestrahlten Dächer, und dahinter die grauen Regenwolken, vor denen das Mauerwerk noch heller strahlt, wie ein frisch restauriertes Fresko, das wir, nachdem wir es nur in Braun- und Grautönen kannten, nun zum ersten Mal in seiner echten Farbenpracht betrachten.

Die echte Farbenpracht. Was aber ist echt? Warum ist es echt? Und was verbindet mich mit diesem Anblick, daß ich die Sehnsucht verspüre, hier Abend für Abend zu sitzen und nichts weiter zu sehen als die Scheunenwand, eine Fläche, auf der meine Gedanken kommen und gehen? Mauern, Ziegel, Firste, alles so fest wie auf einem Bild, auf etwas Gemaltem. Wirklicher als echt. Manchmal ziehen eine Handvoll Sperlinge, ein Schwarm Stare vorüber, als hätten meine Gedanken, mir in ihnen abhanden gekommen, Freiheit erlangt.

Frederik

Der Herbst naht mit frischeren Nächten, und mit ihm wächst die Nervosität. Nach allem, was man so hört, steht uns ein kalter und teurer Winter bevor. Menschengemacht, wie so vieles. Irgendein Businesskasper kriegt an der Börse einen Schluckauf, und schon fliegen uns die Heizölpreise um die Ohren. Und als wäre das alles naturgestzlich und unvermeidlich, werden schon erste Stimmen laut, die sich in solcher Lage um die Aufrechterhaltung des Kulturbetriebs Sorgen machen.

Manchmal sehnt man sich nach einer einfallsreicheren Rhetorik, nach einem neuen Kniff. Einerseits, weil man die ewige Leier (G. Thunberg: “Blablabla”) leid ist; andererseits, weil man allmählich zu der Überzeugung kommen muß, für dumm gehalten zu werden.

Jedenfalls ist es schon nachgerade beleidigend, wie hier wieder einmal soziale Güter gegeneinenader ausgespielt werden. Wie überall: die Kita gegen das neue Seminargebäude, das Schwimmbad gegen Wohnungsbau, der Spielplatz gegen das Sommerkino. Als wären für beides die Mittel zu knapp. Wie groß aber müßte die Not sein, wenn wir wirklich vor solchen Entscheidungen stünden? Sicherlich wären dann keine 100 Milliarden für Kriegsspielzeug möglich gewesen. Sehen Sie?

Hundert Milliarden, meine Damen und Herren. Das sind hundert mal tausend Millionen. Zum Vergleich: Der Haushalt einer mir befreundeten Familie kommt mit 2400 Euro an Heizkosten einigermaßen über den nächsten Winter (das ist bereits fast doppelt so viel wie vergangenes Jahr, und das war auch schon ein teures). Von diesen für Blech und Sprengstoff verpulverten hundert Milliarden ließen sich also über 40 Millionen vergleichbarer Haushalte über den Winter bringen. 80 Millionen bei einer Heizzulage von nur 1200 Euro pro Haushalt. Pro Winter, nicht pro Monat, versteht sich.

Aber davon will ich gar nicht sprechen.

Wovon ich sprechen will? Von einem Irrtum.

Es ist eine erst in jüngster Zeit aufgekommene, gleichwohl weitverbreitete Fehleinschätzung: zu meinen, in Zeiten der Not sei Kultur entbehrlich, ein hungriger Bauch habe andere Sorgen als den Theaterbesuch. Völlig falsch, je schlechter die Lage, desto wichtiger ist die Kultur. Je kälter die Füße, desto größer die Sehnsucht nach Tanz und Theater. Je stiller und eisiger der Winterabend, desto befreiender eine Stunde Beethoven oder ein Abend mit Rossini. Davon wird man zwar nicht satt, aber wenn die Pizza nicht zu haben ist, hilft einem die Kultur, den Hunger besser zu ertragen. Kultur ist Ablenkung, Ermutigung, Ausflug und Aufatmen. Ist Alternative, ist Ausblick auf Besseres. Denn der Magen wird ja davon nicht voller, wenn die Vorstellung ausfällt und der Saal dunkel bleibt. Wenn wir das Museum aus Gründen der Ersparnis schließen, wärmt solcherart Erspartes keinesfalls die eigenen vier Wände. Doch zwei Stunden Sommernachtstraum im (beheizten) Theater lassen die Lage schon nicht mehr ganz so auswegslos und den nächsten Frühling viel näher erscheinen. (Wer sich schon einmal darüber gewundert oder sogar geärgert hat, daß obdachlose Bettler nicht selten ein Smartphone besitzen, dem sei gesagt: Schlimmer manchmal als Hunger ist die Langeweile).

Also, laßt uns, wenn ihr uns schon nicht das Heizöl bezahlen könnt (oder wollt), öffentliche Räume der Wärme, des Lichts, der Inspiration und der guten Laune! Laßt uns unsere beheizten Museen, unsere warmen Theatersäle, unsere beleuchteten Bibliotheken. Laßt uns Lesungen, Konzerte, Aufführungen, laßt uns auch Kirchen, Moscheen und Bethäuser, laßt uns, wenn wir schon zu Hause darben sollen, einen Ort, an dem wir das Darben vergessen und einen anderen Blick einnehmen können auf Welt und Krise, laßt uns unseren Helikon, wie flüchtig die Tänze der Musen dort auch sein mögen. Eine halbe Stunde dort macht viele Wochen Dunkelheit wett.

Es ist der allerletzte Ort, der verschwinden darf, wenn’s eng wird.