(In der Straßenbahn setzt sich ein Schwesternpaar in die Sitzreihe vor mir. Eine jünger, die andere etwas älter, höchstens zwei Jahre auseinander, die Ältere wird Anfang zwanzig sein, allerhöchstens. Beide haben das gleiche wellige blonde Jahr, von jener Farbe, die sogar frisch gewaschen immer ein wenig fettig aussieht, beide tragen das Haar in einer Spange zum Pferdeschwanz gebunden. Unauffällige Kleidung, herbstliche Jacken. Ich höre sie miteinander reden, die ältere zur Jüngeren geneigt, die jüngere geradeaus blickend, und irgendetwas ist merkwürdig, die Art, wie sie reden, nicht, was sie sagen, aber in welcher Stimmlage sie es tun. Es klingt wie ein Spiel, als hätten sie sich die Stimmen zweier Protagonistinnen einer nachzustellenden Geschichte geliehen, wie es Kinder tun, wenn sie im Spiel ihre Stimmen modifizieren, um jemand anderer zu sein, die Stimme als äußeres Zeichen der Verwandlung in eine Figur. Die Stimmen der jungen Frauen sind piepsig, zu hoch für das Alter, wie von Schlümpfen, etwas Atem- und Kraftloses haftet ihnen an, zugleich reden sie schnell, was ein bißchen wie Geplapper klingt, als wollten sie möglichst alles in einen einzigen Satz packen. An ihrem Äußeren ist nichts auffällig, außer vielleicht, daß die eine ein bißchen verpickelt ist. Ihre Bewegungen, ihr Habitus sind ganz gewöhnlich. Warum also dieses kindische Geplapper? Was sie sagen, kann ich nicht verstehen, da die Hintergrundgeräusche zu laut, das Geplapper zu hoch und leise, die beiden zu weit weg sind. Mir kommt ein Gedanke: Kann es sein, daß ich für merkwürdige Sprechweise halte, was in Wahrheit lediglich eine andere Sprache ist? Sprachen unterscheiden sich durchaus auch im Timbre, werden lauter oder leiser, hauchender, näselnder, in höherer oder tieferer Stimmlage gesprochen. Sprechen die Schwestern vielleicht Französisch? Ich lausche angestrengt, kann ein paar Satzfetzen auffangen, nein, was die beiden da näseln, quaken, fisteln, ist Deutsch.
Noch seltsamer wird es, als die Ältere einem Jutebeutel zwei Bücher entnimmt. Während sie eines ihrer Schwester gibt, so wie man auf einem Ausflug Butterbrote verteilt, blitzt kurz für mich sichtbar ein vorderer Umschlag auf. Zwar kann ich nichts genaues erkennen, aber die bunte, runde Schrift, der stabile Einband, der Schatten einer Abbildung läßt an ein Kinderbuch vom Typ Pferdeabenteuer erinnern. Das können die beiden nicht ernst meinen. Und auch die Lektüre gleicht einem Spiel, so wie wenn Kinder, des Lesens unkundig, die Erwachsenen bei der Zeitungslektüre nachstellen. Aber ihre Gebärden, ihre Blicke, die Haltung, die sie zueinander einnehmen, sind die von Erwachsenen. Kaum zehn Sekunden verwenden sie still auf das, was zumindest dem Anschein nach Lesen ist, dann unterbricht wieder die eine die andere, und es folgt ein kurzes Geplapper. So geht das zwanzig Minuten lang, bis am Hauptbahnhof, Endhaltestelle, die Ältere die Bücher wieder einsammelt und in der Jutetasche verstaut.
Ich frage mich, wie dieses Spiel weitergeht. Werden die beiden zum Schein eine Reise machen? Werden sie so tun, als kauften sie sich eine Fahrkarte? Werden sie vorm Fahrkartenautomaten stehen und plappernd über das Fahrtziel diskutieren? Und wer werden sie sein, wenn sie aus ihrem Spiel heraustreten und wieder die werden, die sie wirklich sind? Oder habe ich einen Moment der Wirklichkeit gesehen, den sie sonst durch ihr Spiel zu verheimlichen gewohnt sind? Oder bin ich vielleicht selbst in einem Spiel, ohne es zu bemerken?
Grübelnd sehe ich ihnen nach, während sie, die eine leicht aus der Hüfte hinkend, die andere mit dem Stoffbeutel über der Schulter, Seite an Seite im Gewühl verschwinden, und werde dabei den Eindruck nicht los, eine Figur in meinem eigenen Leben zu sein.)

(In der Straßenbahn setzt sich ein Schwesternpaar in die Sitzreihe vor mir. Eine jünger, die andere etwas älter, höchstens zwei Jahre auseinander, die Ältere wird Anfang zwanzig sein, allerhöchstens. Beide haben das gleiche wellige blonde Jahr, von jener Farbe, die sogar frisch gewaschen immer ein wenig fettig aussieht, beide tragen das Haar in einer Spange zum Pferdeschwanz gebunden. Unauffällige Kleidung, herbstliche Jacken. Ich höre sie miteinander reden, die ältere zur Jüngeren geneigt, die jüngere geradeaus blickend, und irgendetwas ist merkwürdig, die Art, wie sie reden, nicht, was sie sagen, aber in welcher Stimmlage sie es tun. Es klingt wie ein Spiel, als hätten sie sich die Stimmen zweier Protagonistinnen einer nachzustellenden Geschichte geliehen, wie es Kinder tun, wenn sie im Spiel ihre Stimmen modifizieren, um jemand anderer zu sein, die Stimme als äußeres Zeichen der Verwandlung in eine Figur. Die Stimmen der jungen Frauen sind piepsig, zu hoch für das Alter, etwas Atem- und Kraftloses haftet ihnen an, zugleich reden sie schnell, was ein bißchen wie Geplapper klingt, als wollten sie möglichst alles in einen einzigen Satz packen. An ihrem Äußeren ist nichts auffällig, außer vielleicht, daß die eine ein bißchen verpickelt ist. Ihre Bewegungen, ihr Habitus sind ganz gewöhnlich. Warum also dieses kindische Geplapper? Was sie sagen, kann ich nicht verstehen, da die Hintergrundgeräusche zu laut, das Geplapper zu hoch und leise, die beiden zu weit weg sind. Mir kommt ein Gedanke: Kann es sein, daß ich für merkwürdige Sprechweise halte, was in Wahrheit lediglich eine andere Sprache ist? Sprachen unterscheiden sich durchaus auch im Timbre, werden lauter oder leiser, hauchender, näselnder, in höherer oder tieferer Stimmlage gesprochen. Sprechen die Schwestern vielleicht Französisch? Ich lausche angestrengt, kann ein paar Satzfetzen auffangen, nein, was die beiden da näseln, quaken, fisteln, ist Deutsch.
Noch seltsamer wird es, als die Ältere einem Jutebeutel zwei Bücher entnimmt. Während sie eines ihrer Schwester gibt, blitzt kurz für mich sichtbar ein vorderer Umschlag auf. zwar kann ich nichts genaues erkennen, aber die bunte, runde Schrift, der stabile Einband, der Schatten einer Abbildung läßt an ein Kinderbuch vom Typ Pferdeabenteuer erinnern. Das können die beiden nicht ernst meinen. Und auch die Lektüre gleicht einem Spiel, so wie wenn Kinder, des Lesens unkundig, die Erwachsenen bei der Zeitungslektüre nachstellen. Aber ihre Gebärden, ihre Blicke, die Haltung, die sie zueinander einnehmen, sind die von Erwachsenen. Kaum zehn Sekunden verwenden sie still auf das, was zumindest dem Anschein nach Lesen ist, dann unterbricht wieder die eine die andere, und es folgt ein kurzes Geplapper. So geht das zwanzig Minuten lang, bis am Hauptbahnhof, Endhaltestelle, die Ältere die Bücher wieder einsammelt und in der Jutetasche verstaut.)