Dieses Gefühl, daß mich jemand durchschaut, oder wenigstens zu durchschauen glaubt. Da werde ich sofort fuchsig. Mich kennen? Du ahnst nicht, was du alles nicht einmal ahnen kannst! Und dennoch, was man mir da beim Abendessen auf den Kopf zusagt, daß ich ein ängstlicher Mensch sei, das stimmt. Grund zu der Vermutung habe ich indes niemals gegeben, und so tröste ich mich damit, daß dieser Schluß von falschen Beobachtungen auf etwas zufällig Richtiges geht. Vielleicht mußte man auch einfach ein bißchen Vergeltung dafür üben, daß ich die Frage nach meinem Roman abgeblockt habe, und zwar mit klaren Worten. Doch noch ein bißchen was rausgekriegt haben über mich.
Es ist ein Muster, das sich oft wiederholt, und für einen ganz bestimmten Menschentypus charakteristisch ist. Wenn ich mich mal ausnahmsweise des gleichen Musters bediene, würde ich sagen, diesem Nachbohren liegt eine tiefe Unsicherheit zugrunde: Woran bin ich mit dem? Warum sagt der nix? Gehe ich ihm auf die Nerven? Der verbirgt mir doch was! – Und dann wird halt gestochert. Und im Nebensatz behauptet: Es ist ja nicht schlimm, wenn du Angst hast. – Wer hat hier Angst? Das sind dieselben Menschen, für die alles immer natürlich und locker sein muß. Mach dich doch mal locker! Und dabei sind sie selbst die verkrampftesten in ihrer Unfähigkeit, den andern so schweigsam, verkrampft und eingeigelt zu lassen, wie er halt ist: Da muß man doch was machen! Sei doch mal locker. Du kriegst es noch an der Nackenmuskulatur.
Nachbohren und Zuschreibungen: Klar hast du Schuldgefühle. Wir Frauen haben alle Schuldgefühle. – Das macht mich selbst stellvertretend wütend, vielleicht auch, weil die, um die es ging, es nicht wurde. Eine boshafte Vermutung wäre: Diese Menschen sind selbst so ängstlich und unlocker und voller Schuldgefühle und zugleich voller Neid auf die, die nicht ängstlich sind und keine Schuldgefühle haben, daß sie einen solchen Makel überall vermuten müssen. (Denn ein Makel ist es, sonst müßten sie nicht so sehr betonen, auch dies eine gängige Phrase aus dem Mund solcher Menschen, daß das doch nicht schlimm sei.) Und natürlich haben sie immer recht mit ihrer Vermutung! Denn wer hat nicht schon einmal Angst oder ein schlechtes Gewissen gehabt? Man muß nur laut und bestimmt genug drauflos vermuten, um Verunsicherung zu erzeugen. Und vielleicht geht es genau darum.
Dazu gehört auch, ins Licht zu zerren, was ich lieber auf dem Wege des Ausweichens oder der Diplomatie lösen würde. – Ich weiß ja, du läßt dich nicht gerne umarmen. (Gefolgt von einer dicken Umarmung.) Manche Leute sind ebenso taktlos wie dreist. Sie scheinen es darauf anzulegen, daß ich den Mund aufmache. Und loben mich dann noch dafür, daß ich unhöflich bin. – Endlich sprichst du mal Klartext! (Ich will aber keinen Klartext sprechen. Klartext ist unter Menschen, die sich nicht gut kennen, unangenehm, für beide Seiten.) Mir wäre es lieber, wir würden ganz im Stillen verstehen und unsere Schlüsse daraus ziehen. Das nennt man Rücksicht. Insbesondere, wenn es um Dinge geht, die mir peinlich sind. Nicht: die peinlich sind, sondern mir peinlich sind. Das Besprechen von Peinlichem ist etwas für engste Freunde. Aber vielleicht ist genau das das Problem: Solchen Menschen ist eben nichts peinlich, und darum akzeptieren sie nicht, daß mir etwas peinlich ist. Das muß dir doch nicht peinlich sein! Aus der Sicht solcher Leute ist das dann nur eine Frage der Lockerung, und also ein Fehler meinerseits, wenn ich eben nicht locker bin. Mir ist ja schon peinlich, daß mir überhaupt etwas peinlich ist. Und noch peinlicher, wenn das jemand merkt.
Selbst keine Geheimnisse haben, und dann dem andern die seinen nicht lassen, auch das gehört in das Muster. Alles von sich preisgeben, auch das, was ich gar nicht hören will. Neulich sagt mir jemand, Sie mögen nicht gern photographiert werden, stimmt’s? Ins Schwarze getroffen, und schon wieder werde ich ungehalten. Ich lasse mich nicht gerne beobachten, nein. Und daß jemand genau diese Scheu vor Beobachtung beobachtet hat, macht mich erst recht wütend. Wie aber verbarrikadiert man sich, ohne daß man die Barrikaden merkt?
Solche Menschen, die einem das eigene Innenleben aufzwingen und dann fast beleidigt sind, wenn man selbst von sich schweigt (Und du so? Erzähl doch mal was von dir!), haben, vermute ich, den Wunsch nach klarer Sortierung. Du bist so, ich bin so, ein Dritter ist so. Und fertig. Diese Menschen sind immer schon fertig mit ihrem Gegenüber. Dabei fängt man ja dort erst an, wo man eine Vermutung über einen fremden Menschen hat. Man wird ja mit sich selbst schon nicht fertig, wieviel weniger dann mit einem anderen.
Und dann heißt es: Du bist so distanziert!, als wär’s ein Verbrechen; dabei gibt es bloß unterschiedliche Wohlfühlabstände.
Distanziertheit wird mir nie vorgeworfen, merkwürdigerweise.
Ich bin so froh über diesen Text, der mir hilft, besser zu verstehen. (Und ja, ein bisschen fühle ich mich ertappt, ich gestehe es. Aber es macht mich nicht wütend, eher klärt es meine Gedanken.)
Ich habe mir bisher wenig Gedanken über die Motivation von Leuten gemacht, die ich als so penetrant wie oben geschildert empfinde. Tatsächlich war ich nämlich viel zu sehr mit Flucht und Tarnung beschäftigt. (Außerdem bin ich ja schon froh, dass ich mit “introvertiert” endlich ein Wort für mich habe).
@Sofasophia, ich nehme nicht an, dass Sie es böse meinen, deshalb würde ich es Ihnen verzeihen.
Bei mir ist es andersrum: Menschen wie oben beschrieben treffe ich nie. Ich habe es eher mit solchen zu tun, die gar nicht merken würden, wenn ich nicht sprechen könnte. Oder taub wäre. Sie tragen trotzdem detailliert Erlebnisse vor aus ihrer Welt.
Ich darf auf keinen Fall einen Roman schreiben, sonst wirds ja noch schlimmer. Dann kann ich nicht mehr so leicht weglaufen. 😉