Untergänge (1)

Am östlichen Horizont eine straff gespannte Fläche gleich einer zum Platzen gefüllten Blase, in der Mitte feuchtmetallisch glänzend, am oberen und unteren Rand eingetrübt, von scharf abgezeichneten dunklen Bändern wie von eruptiven Rissen durchzogen, die ein körniges Triefen von Rot unter sich lassen, den Grund der Berge verschattend, bis hoch zum Mittag aufragend, als wälze sich von dort der Himmel einer tödlichen, fremden Welt über den grauschwarz verfärbten, narbigen Grund der bekannten und begrabe und zermalme dabei alles unter sich. Über dieser Walze ein einzelner blasser Stern am noch ungetrübten Himmel, wie etwas, das sich nicht rechtzeitig in Sicherheit gebracht hat.

Später, auf dem Anstieg vom Brenig zum Römerhof hat sich die Walze in ein orangegelbes Brennen hinein aufgelöst, das den ganzen westlichen Himmel erfüllt. Die Farbe ist von einer Kraft beseelt, die auf Zerstörung aus ist, besitzt die Zeichen einer fernen Katastrophe, deren Lautlosigkeit im Ablauf die Vollständigkeit der Zerstörung umso deutlicher verkündet. Alle Vögel haben den Himmel längst verlassen. Sie werden trotzdem nicht entkommen. Wie die Schockwellen von Detonationen hängen Streifenwolken vor dem von Minute zu Minute fahler werdenden Brand, ihr Stillstand täuscht aufgrund der Entfernung über die rasante Geschwindigkeit hinweg, mit der sich die Vernichtung ausbreiten muß.

Inzwischen ist der Himmel unter einen schwefelgelben Schleier getaucht. Langsam wandelt sich das Licht zum Grünlichen. Weiterhin Stille. Die Wiesen glühen, Schatten schlagen sich wie Nägel in den Grund, Glut legt sich um die Stämme der Birken, jeden Moment können Flammen aus dem erstorbenen Holz herausschlagen, die Blätter scheinen sich um rote Stifte zu krümmen, bevor sie verbrennen. Auf der Weide steht ein Unterstand oder Geräteschuppen, klein, von Feuer angehaucht, geduckt, er sieht aus wie jene schwarzen Kakteen im Vordergrund der Bilder von der Trinity Test Site. Lebendig im Tode. Ein hölzernes Gatter glänzt wie Metall, die Beschläge glühen. Stößt man es auf, wartet dahinter der Tod. Ein paar hundert Meter entfernt die weißen Silhouetten zweier Pferde, Momente, bevor ihr Skelett unter der Haut und dem verdampfenden Fleisch für kurze Zeit sichtbar wird, ehe auch dieser Schatten verbrennt.

Mit erhobenem Haupt untergehen? Nein. Sich niederhocken, sich klein machen, so klein, wie man wirklich ist, ein Stück letzte Erde vor Augen, ein letztes Gewimmel von Ameisen oder Käfern, ahnungslos in ihrem letzten Fleiß, und ehe die Glut über den Nacken schießt, über den Scheitel rast und alles schon ausgelöscht hat, bevor es zu Ende ist: einen Grashalm betrachten, einen Unkrautschößling, die unscheinbarste Blüte der ganzen Wiese für ein letztes, ein allerletztes Bild.

(2)

Mitnotiert

Sechs Uhr früh, noch dunkel jetzt. Nach Westen die Bäume, still unter den Laternen, darüber der Vorgebirgshang, der schieferblaue Himmel. Alles ist Schiefer zu dieser Stunde. Der Tau auf den Mülltonnen, die dunklen Fensterscheiben, der Straßenasphalt, selbst der Gingko hat Blätter aus Schiefer.

Im Osten über der Bahnlinie ein rostiger Balken Helligkeit, der sich später, beim Ersteigen des Hangs, zu einem rosaroten Wulst ausweitet, der bläulichen Dunst darunter von bläulichem Dunst darüber abtrennt. Der Sommer tauscht Amseln gegen Fledermäuse. Wie alte Damen im Theater haben sich die Bäume am Wegesrand niedergelassen. Fächer schwingen, Seide raschelt, Blüten erlöschen wie Lampen. Man läuft wie eine Sinnestäuschung an den Zäunen entlang. Die Sonne wird noch eine Stunde brauchen.

Ich denke über Sinn und Sinnlosigkeit nach, besonders über letztere. Warum quäle ich mich hier den Berg hoch, was fange ich mit meiner Fitneß, die ohnehin höchst relativ ist, an, dient sie mir zu etwas, wenn ja, zu was, zu Stolz? Zum Wohlfühlen in diesem Körper? Es ist sowieso alles nur Aufschub, der Stolz wird sich bald nur noch auf die Vergangenheit richten, und das Wohlfühlen wird seine Grenze in der Grenze nachlassender Leistungsfähigkeit noch kennenlernen. Es fühlt sich nicht falsch an, was ich hier tue, noch nicht, aber sinnlos. Es zielt nirgendwo hin, es hat nur präventiven Charakter. Aber was will ich verhüten? Das Alter? Kann man nicht. Muß ich mir Ziele suchen, um die Illusion aufrechtzuerhalten, es gehe vorwärts? Den 50-km-Lauf etwa? Oder den Two-Oceans-Run, oder ein Jahr lang jeden Sonntag Marathon? Tatsache ist, daß weder die Prävention mir zu Sinn und Motivation taugt, noch der überschießende Ehrgeiz der Mittlebenskrise für mich als Rollenmodell taugt. Dieses letzte Aufgebot, daß so viele Männer meines Alters praktizieren, habe ich schon immer lächerlich gefunden. Zwar verstehe ich jetzt, wie man darauf verfallen kann, aber es wird in meinen Augen dadurch nicht weniger lächerlich. Es ist so albern, daß ich mich fast schäme, wenn ich die Laufschuhe anziehe. Man könnte das mißverstehen, wie man mir schon vor Jahren mitteilte. Es gebe viele Männer, gerade meines Alters, die plötzlich anfingen, das Extreme zu suchen. Verdammt, ich selbst könnte das mißverstehen, wenn ich meine Laufschuhe schnüre. In solchen Momenten ekelt mich beinahe vor mir selbst.

Warum empfindet ein junger Mensch diese Sinnlosigkeit nicht? Auch er wird alt und klapprig werden, auch seine 100-Meter-in-9-Sekunden werden absolut nichts mehr wert sein, wenn es in die Grube geht. Und in die geht es mit ihm wie mit mir. Warum kommen ihm seine Strampeleien dann nicht auch schon sinnlos vor? Was sind ein paar Jahrzehnte mehr, bitteschön? Ist es die vermeintliche Offenheit seiner Zukunft? Während die meine sich zu schließen beginnt: aber das ist eine Illusion. Geschlossen ist die Zukunft für jeden Menschen, vom Moment seiner Zeugung an. Allein das Wort Lebenserwartung legt das nahe. Trotzdem leben wir fröhlich drauflos, mit unserer Erwartung, wenn wir sechzehn oder zwanzig sind, als wären 85 Jahre die Unendlichkeit.

Ich muß an Oscar Wildes Bonmot denken, daß es höchst ungerecht von der Natur sei, daß sie die Jugend an Kinder verschwende. Recht so! Wieviel mehr als die Jugendlichen von heute wüßte ich mit der Jugend anzufangen! Anders als Oscar Wilde meine ich das völlig ernst. Die Jugend sollte man sich erst mal verdienen müssen. Dieses Leben ist ungerecht, von Anfang bis Ende. Besonders am Ende.

Später die Sonne, scharf abgezeichnet, ein Auge ohne innere Struktur, böses Leuchten, unentrinnbarer Blick, wie die Ankündigung einer nahenden Katastrophe schwebt sie über der ahnungslos-geschäftigen Ebene.

Mitnotiert: Dämmerung

Schon ist es jetzt um sechs noch dunkel, bald wird man wieder die Lampe brauchen. Die Luft hat eine glatte Konsistenz, kalt auf den bloßen Armen und Beinen, kalt und fest wie Wasser, eine Kälte, die angenehm ist, sachlich, höflich, und mir meine Körperwärme läßt. Der Sonnenaufgang ist noch mindestens eine Stunde entfernt, die Börde ist mit Lichtern gefüllt, um die Berge jenseits der Sieg liegt ein dämmriger Kranz fahlroten Lichts. Schieferblaue Schleierwolken hängen am Horizont. Der Morgen ist still wie am Tag der Abreise. Die Koffer stehen gepackt im Hausflur, die Zimmer sind leer, die Türen abgeschlossen, dahinter tritt der Staub sein Amt an. Man schweigt, weil es nichts mehr zu sagen gibt, jedes weitere Wort gehört schon der kommenden Welt an. Es kann losgehen. Nur das Taxi ist noch nicht da.

Es wird alles immer absurder, und dieses Gefühl wird umso deutlicher und klarer, je weiter ich mich von der Börde entferne, von diesem mit Lichtern und Signalen angefüllten, brausenden, heulenden Kessel, den Straßen, Schienen und Stromleitungen zerschneiden, von dieser vermeintlich ordentlichen Welt. Vorhin war vom Verladehof des Paketzustelldienstes so ein glucksendes Piepen zu hören gewesen – das Signal eines Laserscanners, der das Erlebnis einer Apperzeption gehabt hat – und sofort gehen bei mir wieder die Alarmgeräte los, stellt sich das System auf Abwehr ein. Es ist zuviel Typisches an diesen Dingen, immer mehr solcher Wahrnehmungen geraten mir zum Symbol für etwas, das ich nur als zunehmende Verdrängung des Menschlichen durch das Maschinelle wahrnehmen kann. Für Kafka war es vielleicht das Klappern einer Schreibmaschine in einer Amtsstube. Für mich ist es das Kollern eines lautgebenden Laserscanners. Das Geräusch einer wachsenden, ausufernden Unmenschlichkeit, das durch keine Behauptung des Menschlichen – der Blumenstrauß im Büro, der Kaffee in der Kantine, eine Kinderzeichnung auf dem Schreibtisch, oder einfach nur der Geruch warmgelaufener Socken oder eines alten T-Shirts – gemildert wird. Wir sind Überbleibsel, und über unsere Gerüche und Gelüste, kann man sich schon mal ausmalen, werden demnächst – bald – Sensoren wachen und sie in etwas zutiefst Unmenschliches verwandeln.

Kritik am sogenannten Fortschritt, wo sie selbst sich nicht noch fortschrittlicher gibt, hat immer etwas Wohlfeiles an sich. Es ist leicht, etwas zu kritisieren, von dem man noch nicht wissen kann, wie es sich auswirkt; und es ist leicht, auf die positiven Aspekte des Bestehenden zu verweisen, weil sie bekannt und sichtbar sind. Das Bekannte ist leicht gegen das Unbekannte auszuspielen. Nur allzu oft in der Geschichte hat Kritik am Fortschritt, von Platon bis Spengler, dann aber im Rückblick etwas Weltfremdes und Verschrobenes bekommen. Dann heißt es leicht, hätte man damals auf den maschinellen Webrahmen verzichtet, würden wir heute noch, etc. Das Neue zu verteufeln fällt zwar leicht, solange das Alte noch normal ist. Aber das bedeutet nicht, daß Plato oder Spengler oder die Kritiker des maschinellen Webens nicht recht gehabt hätten, es bedeutet nicht, daß ihre Kritik nicht wohlbegründet gewesen wäre. Am maschinellen Webrahmen sind schließlich Menschen regelrecht verhungert. Die Kritik ist nur, da niemand sich darum geschert hat, irgendwann irrelevant geworden. Insofern ist die Kritik an der Fortschrittskritik selbst wohlfeil. Aber man wird über uns lachen, das steht fest. Man wird uns ewiggestrig nennen oder schlimmeres. Aber wenn ich ehrlich bin, ist mir das Gestern lieb, und vor dem Morgen, so wie es sich derzeit abzeichnet, graut es mir, zum ersten Mal in meinem Leben.

All das ist jetzt da unten, bleibt hinter mir zurück, während ich den Weg am Schützenhaus vorbei einschlage. Winters hört man hier immer ein Käuzchen. Oben die Pferde, zuckende Schweife im grasigen Frühlicht. Dahinter der Waldsaum mit den betenden Föhren. Sehnsuchtswelten, deren Sog für mich darin besteht, daß sie nicht gemacht, sondern geworden sind, daß sie nicht nur älter sind als Laserscanner, sondern älter noch als der Mensch selbst. Ich gehöre beiden Welten nicht an, weder der Welt der Laserscanner, noch der alten Welt des Gewordenen. Die einzige Welt, der ich angehöre, ist ein Ort aus Wörtern und Bedeutungen. So ein Lauf durch den Wald beschert die Illusion einer Daseinsalternative. Tatsächlich laufe ich durch diesen Wald wie ein Neanderthaler durch eine Automobilausstellung laufen würde. Ich verstehe nichts von den Dingen, die hier vor sich gehen, noch viel weniger – in High-Tech-Textilien gehüllt und mit GPS-Stopuhr am Handgelenk – kann ich mich als Teil dieser Vorgänge begreifen. Tatsache ist, daß ich mich überhaupt nicht begreife, nirgends, auf keine Weise, außer als ein Wesen, das Worte macht und Bedeutungen verknüpft. Aber ohne Welt, auf die ein Ausdruck verweisen kann, gibt es auch keine Zeichen, keine Bedeutungen. Es gibt keinen Ausweg aus der Welt, auch nicht im Wort.

Mitnotiert: Hunderunde

Noch einmal hat der Sommer zugenommen, wie ein Feiernder, der ein letztes Mal die Flasche ansetzt, obwohl der Morgen schon graut, das Hemd nicht mehr sitzt und die Wege nach Hause weit sind. Einer hat schon den Kopf auf des andern Schulter gebettet, ein dritter seine Schuhe ausgezogen und die Füße auf den Sitz gegenüber abgelegt. Ein Weg verschwindet im Unterholz, wie um in Abgeschiedenheit die Notdurft zu verrichten, der Himmel schaut weg, hebt sich kaum über den Horizont. Das Grün, dieses müde, aufgedunsene Grün, etwas zu farbig, wie hängende Tränensäcke, hat die Abteiltür geschlossen, die Vorhänge zugezogen, das Licht ausgemacht. Auf Zehenspitzen gehen die Pilze. Die Vögel sind still oder schon am Abend nach Hause gegangen.

Obwohl es inzwischen um sechs noch dämmrig ist, gibt es immer noch Frühaufsteher, die Hunderundenrundgänger, auf dem Feldweg bei Heimerzheim schlendern gleich drei von ihnen, einer in der typischen Kopfhaltung, früher hätte man sich gefragt, was macht der da, Nägel lackieren? Vokabeln lernen? Horoskope lesen? Kompaß gucken? Zu keiner dieser Vermutungen hätte die Geste richtig gepaßt. Heute weiß man sofort, der starrt auf sein Schächtelchen. Es gibt Körperhaltungen, die so eng mit einer bestimmten Kultur verbunden sind, daß sie in einer anderen, könnte man vermuten, seltsam wirken müßten, verschroben, ja, verstörend. Man denke etwa an die typische Haltung, zu der man sich zwingen muß, wenn man ein Telephon unters Kinn klemmt und gleichzeitig eine Computertastatur bedient. Man hat es so oft gesehen, es stellt sich sofort ein Bild dazu ein. Noch vor ein paar Jahrzehnten hätte es die ganze Situation, zu der Bilder sich hätten einstellen können, gar nicht gegeben. Oder man denke an den Griff zur Maus, an das angestrengte Vorbeugen am Bildschirm, an die zusammengekniffenen Augen. Man denke an den raschen Griff über die Schulter, das anschließende langsamere schräg über die Brust laufende Sinken der Hand, wenn man im Auto den Sicherheitsgurt anlegt. Da ich nicht zu dieser Kultur gehöre, befremdet mich die Haltung der Schächtelchengucker weiterhin, auch wenn ich inzwischen gelernt habe, sie zu deuten.

Jenseits der Hunderunde: kein Mensch mehr. Der Wald gehört mir allein, und niemand weiß, wo ich bin. Etwas Träges haftet den Dingen an, eine zähe Schlammigkeit, die Luft ist kühl, aber nicht wirklich frisch, das Licht gefiltert wie unter der Entengrütze eines schalen Tümpels. Auch das Gelb der zahlreichen Greiskrautarten ist brüchig, blättert ab, hinterläßt Flecken von farblosem Welksein. Noch zwei Wochen, vielleicht drei, wird das Grün zunehmen, noch mehr anschwellen und dabei noch müder werden. Die Flure lauschen. In der Nähe fließt Wasser, irgendwo tropft ein Hahn. Wege wie ausgeleerte Taschen, der letzte Kreuzer ausgegeben oder verloren, was willst du hier, geh nach Hause.

Und irgendwo hinter den Sträuchern warten sie bereits, die Hand am Abzug, das Visier heruntergeklappt – die Warnwestenmänner mit ihren Motorsägen.

Mitnotiert: Spätsommer

Pilze, Pilze, wie Pockenpusteln der Erde, grün, grau, blutunterlaufen, geschwollen, verschlagen, wie mit unausprechlichem Effluvium gefüllt. Ein Gang durch den Wald, den Bach am Handgelenk schlackernd, Kopf im Fell, Augen verlieren sich im Unterholz, ein Mund voll bitteren Laubs und die Ferne zwischen zwei Fichten gezwängt und gemartert. Man kann hier nicht bleiben.

Bäume blicken sich beschämt auf die Füße. Hallen von Grün, wie leblose Blasebälge, stumme, eingerostete Windwerke des Sommers. Eine Tür geht auf, und man steht in einem Saal, in dem der Herbst geprobt wird. Generalprobe, die Premiere ist morgen oder übermorgen, bald jedenfalls. Frechheit, Frechheit, rufen die Vogel im Davonzucken.

Nur ein Pflaumensteinspucken entfernt ist das verlorene, vergessene, liegengebliebene Leben. Wenn die Sonne durch den Nebel fegt, klebt der späte Sommer unterm Gaumen, süß, gelb und ein bißchen müde, wie nicht mehr ganz ernst gemeinte Küsse. Ich vermisse die Nähe von allem, zu allem. Ich nehme deine Hand, aber wie sehr ich mich auch konzentriere, Hand, Hand, Hand, es gelingt mir nicht, nahe zu sein, irgendwem, irgendetwas. Ich bin entfernt und schaue aus dieser Ferne zu, lese uns wie in einem Buch. Die Sehnsucht ist so, als wollte ich mit deinen Lungen atmen, mich selbst küssen mit deinen Lippen. Die Sehnsucht nach einer Jahreszeit, die nie kommen wird, und an ihre Stelle tritt doch wieder nur das alte Jahr.

Ein Aufschub, Reste. Vom Jahr, vom Leben, von der Zeit selbst. Zeitweise die Einbildung, daß alles noch weiter geht, und daß morgen mehr oder weniger so sein wird wie heute, nächstes Jahr so ähnlich wie dieses. Ein Irrtum. Unterm nikotinbraunen Laub der Kastanien, das sich krümmt, als wäre der Baum in etwas Ekelhaftes getreten, ein Busunterstand, verstaubt, versponnen wie eine Larve, aus der nichts wurde, die Vergeblichkeit längst abgelaufener Fahrpläne, endgültig wie Losnieten. Man duckt sich, man rüttelt am Gehäuse, man kaut bedächtig eine grüne Pflaume, es hilft alles nichts. Zuletzt stapfen wir über ein Feld, endlose Böschungen, endloser Matsch, streberhafter Mais rechts, links die Pläne des frühen Abends, und die Luft ist eine Jacke, die nicht warm hält. Eine Absperrung, gegenüber ein Hang, ein brütender Hochsitz, ein Rabe im Wipfel eines Ahorns. Da eilt das Jahr, als gäbe es am Ende ein Zuhause für die Tage, ein Ausruhen fürs Wetter, ein Zurückzählen des Kalenders auf eine schweigende, ruhende Null, ein Münden in Frieden, aber so wird es ja nicht sein. Dort, wo wir ankommen sollten, sind wir schon entlassen (wo wir glaubten, erst begrüßt zu sein), wir sind mit der Sehnsucht allein und mit der Liebe, und immer, immer stehen wir am Anfang der Zeit. Wir sehen uns um. Die Füße sind naß, die Hosensäume verschlammt, die Ellenbogen kalt, im Tal schlagen Glocken, der Rabe schwankt und ruft, und da ist es, als dürften wir hier eigentlich längst nicht mehr sein, als hätten wir hier niemals hingehört.

Kein Entkommen

Und wieder die Traurigkeit, ich finde sie in der Heimatlosigkeit von Heimen, in der Uferlosigkeit von Ufern, in der Pflichtgemäßheit des Sommergrüns, im feuchten Gewicht der Erde, in der Zutraulichkeit von Hunden, in der Dienstfertigkeit bedruckten Papiers. Ich wache auf mit der Traurigkeit von Fliegen, die über die Fensterscheiben krabbeln, und ich bin traurig, wenn abends eine Motte gegen die Straßenlaterne stäubt. Es ist, als strengte sich die belebte wie die unbelebte Natur zu sehr an. Ich habe Mitleid mit ihr, mit dem Licht vorm Gewitter, dem springenden Springkraut, dem Schlamm unterm Schlamm, den einsamen Spinnen unter der Zimmerdecke. Ich habe Mitleid mit dem Schrank, der so viel Dunkelheit und Staub enthält und immer nur zuhören muß, wenn Leute im Zimmer reden. Die Türen scheinen aufzuatmen, wenn endlich alle gegangen sind. Ich möchte den Dingen zurufen, laßt gut sein. Aber die Dinge machen einfach immer weiter. Sie schuften an ihrer Existenz und erschöpfen sich.

Mitleid mit Menschen, die sich selbst nicht kennen, die stumm leiden wie Tiere, die nicht wissen, warum sie leiden. Mitleid mit der naiven Freude dieses Menschen, ihrem kindlichen Entzücken über eine Kleinigkeit. Es sind die Kleinigkeiten, die so leicht zu zerstören, zu zertrampeln sind, die so leicht vergessen werden, liegenbleiben. Und man täuscht sich so leicht in ihnen. Vor Jahren einmal erlebt, wie eine, die ich gut kannte, ganz närrisch war über ein froschgrünes, pummeliges Telephon, das sie sich gekauft hatte. Ich sah sie strahlen und dachte, es ist doch nur ein Telephon, und dieser Gedanke war wie flüchtiges Pech in der Brust, eine verstörende Traurigkeit, wie wenn ein Kind sich in das häßlichste Stofftier der Sammlung verliebt. Aber vielleicht wäre ich noch trauriger, verliebte es sich in das schönste: Es gibt vor der Traurigkeit kein Entkommen.

Ich muß mir Widerstände suchen, um die Traurigkeit eine Weile in Schach zu halten. Der Aufbruch ist schwer, manchmal glaube ich, er gelingt nur kraft der Routine. Ich gehe laufen, weil man das halt so macht, weil ich das seit Jahrzehnten so mache, weil ich nicht mehr weiß, wie Nichtlaufen geht. Und weil ich vor dem weißen Papier fliehe, natürlich, vor dem Beweis meiner Mittelmäßigkeit. Manchmal wünsche ich mir den Abend herbei, noch bevor ich aufgestanden bin, sehne mich nach diesem wunderbaren Gefühl, morgen sehen wir weiter, morgen wird alles gut. Aber immer ist es schon morgen, und alles ist so wie sonst und nicht gut.

Ich liege in einem fremden Haus, mit dem Kopf auf Höhe des Regens, der auf die Dachpappe rauscht, der Fensterrahmen ist seltsam, als zweifle er über sich selbst, der Mond, wenn er schiene, wäre fremd, der Winkel falsch, wie in einem Fiebertraum, ich höre die, für die ich Mitleid habe, ohne daß sie oder ich wüßten, warum, atmen. Ihre schlafenden, ruhigen Atemzüge, es ist das einzige, was hier nicht fremd ist, es ist mir so vertraut wie die Traurigkeit, es ist selber traurig. Es regnet und regnet, und ich bin so lange schlaflos, bis mich der eigene Herzschlag wundert und endlich auch die eigenen Atemzüge mir fremd werden, wie etwas, das eigentlich ganz anders sein sollte als es ist.

Frühprotokoll: Wider das Interessieren

Es ist dunkel jetzt um fünf, stockfinster, still, die Räume nachdenklich ins Weite gespannt, eine Weite, aus der vereinzelt Regentropfen fallen. Der Nachrichtensprecher verkündet Tode, Schwert und Verderben, ich lasse ihn reden. Es ist immer das gleiche. Es ödet mich an, es ist mir gleichgültig. Als hätte ich die Pflicht zur Entrüstung! Die Pflicht, depressiv zu werden.

Ich bemitleide alle Menschen, die sich von Berufs wegen für etwas interessieren müssen. Immobilienpreise, Software-Updates, Blasenkatheter, DIN-Normen, Sicherheitslücken, Darmzotten, kubisch-zentrierte Kristallgitter, kraftschlüssige Verbindungen, Fußballergebnisse, Brandschutzverordnungen, relationale Datenbanken, laktosefreie Ernährung, Fix-A-Glut Schnellbindezement mit extrasanft modulierter Siccationsphase, doppelte Buchführung, vierlagiges Toilettenpapier mit Minzgeschmack, einzeln aufgehängte und kreuzweise verspannte Federmuffen. Was für eine Freiheit liegt darin, sagen zu können, das interessiert mich nicht. Was für eine Erlösung, sich nicht zu interessieren. Vor Jahren einmal Marcel Reich-Ranicki in einem Interview: „Die angloamerrrikanische Literraturr interrethiert mich nicht.“ Herrlich. Ich glaube, das war letzten Endes das, was jedem meiner Berufswünsche zugrunde lag: die Freiheit, einmal das tun zu können, was mich interessiert, den Rest mit einem „Interessiert mich nicht“ ungestraft von der Tischplatte fegen zu dürfen. „Die Brandschutthverordnung interrethiert mich nicht“ – Wunderbar.

Ich stelle fest: Das meiste interessiert mich wirklich nicht. Ich beobachte das im Vergleich mit anderen. Da gibt es einen Freund, der alles ausprobieren muß, einzig um der Erfahrung willen. Neugierig wie eine Elster, findet er fast alles, das er noch nicht kennt, erst einmal spannend. Das ist mir völlig fremd. Ich bin leicht überfordert und ebenso leicht unterfordert. Einige wenige Erfahrungen, Vollzüge, Erlebnisse sind mir so wichtig, daß mir die Zeit für etwas anderes, das ich noch nicht kenne, zu schade ist. Was, wenn es mich enttäuscht? Und wahrscheinlich wird es das. Die meisten Erfahrungen langweilen mich nämlich innerhalb von Minuten. Bei anderen weiß ich zuversichtlich, daß sie mir nicht behagen werden. Ich werde nie freiwillig in den Wagen einer Achterbahn steigen. Oder mit einem Gleitschirm fliegen. Ich muß auch Island nie gesehen haben, oder mit Druckluft tauchen. Schnorcheln reicht völlig. Nach fünf Minuten wird mir ohnehin kalt. Ich dachte auch einmal, man müßte, man mußte doch. Was alle sagten und dachten: Gereist sein, Länder und Menschen kennengelernt haben, man mußte doch Drogen ausprobiert, Nächte durchgetanzt, ein Open-Air-Konzert besucht, Sex am Strand gehabt, in einer Kommune gehaust haben, mit dem Tretboot in Sandalen über den Atlantik gefahren oder auf Rollschuhen den Aletschgletscher hinuntergefahren sein. Man mußte, man mußte! Sonst? Ja, was eigentlich? Hatte man dann etwas verpaßt? Es waren die Jahre, in denen man den Film Dead Poet’s Society gut finden mußte. Ich fand ihn gut. Damals. Heute finde ich ihn verlogen, ideologisch, falsch in seiner unüberlegten Hau-Ruck-Philosophie. Vom Kitsch zu schweigen.

Vielleicht ist aber auch das ein Luxus. Man mußt erst einmal so viel erlebt haben wie ich, um sagen zu können, im Tretboot über den Atlantik interrethiert mich nicht. Ich habe den ganzen Quatsch (mit Ausnahmen) ja mitgemacht, den man angeblich mußte. Trotzdem ärgert mich das Gehabe von damals noch heute. Als wäre das Jungsein eine Verpflichtung gewesen. Mich ärgert, daß ich so beeinflußbar war.

Neuweg, Apfelmaar, die letzten Regentropfen, südwestlich blauer Himmel mit Schäfchenwolken. Wind- und Vogelstille. Wie ein Fingerschnippen des Laubs manchmal ein davonstiebender Flügelschlag. Kurze, scharfe Rufe. Träges Arbeiten eines Bussards, der vor mir flieht, über die Wiese strebt, sich hunderte Meter entfernt niederläßt. Ein Mann kommt zur stillen Andacht an ein Wegekreuz, wir grüßen uns. Der Wald ist still und brütet, das Unterholz leer, die Hallen haben Ferien. Himmel, Tropfen, Pfützen, Schuppen eines Lärchenzapfens, die Hundspetersilie am Wegrand, das grüne Gähnen der Straße, ein Pilz, den ich nicht kenne, das ist Raum und Erfahrung genug für mich. Zuhause das Radio, schweigt mich an, beleidigt, schmollend, und doch im Bewußtsein des längeren Atems der äußeren, größeren Welt.

(Erst bei den Pferdeweiden ist mir der Traum wieder eingefallen. Ein Pferd schubberte zärtlich mit der Schnauze an meinem Knie oder Oberarm entlang, eine Geste so voll von Freundlichkeit und Vertrauen, daß ich die beiden echten Pferde auf der Weide am liebsten umarmt hätte. Ich habe wiederkehrende Tierträume, angenehme wie unangenehme. In den unangenehmen muß ich mich immer größer werdender Spinnen erwehren. In den angenehmen begegnen mir meist Hunde, selten Mäuse, und jetzt ausnahmsweise ein Pferd. Das begleitende, die Stimmung des Traums dominierende Gefühl ist das der Herzenshingabe. Diese Tiere vertrauen mir, nähern sich mir oder sind eng bei mir in freundlichen Absichten. Manchmal berühren sie mich. Manchmal schauen sie mich nur an. Es sind unabhängige, freie Wesen, die mir zugeneigt sind, mich aber nicht brauchen. Trotzdem ist etwas Verletzliches an diesen Tieren, man muß gut zu ihnen sein, sie schützen. Eine Gefahr, vor der sie zu schützen wären, gibt es nicht in diesen Träumen, kein Bedarf, zu handeln. Die Tiere sind da, ruhig, gelassen, meine Nähe suchend. Das ist alles. Und es ist wunderschön.)