Nachts taste ich nach der Brille, krabbele aus dem Bett, stolpere an den Resten von Gerümpel vorbei, die Tür geht von alleine auf, denn der Rahmen ist schief, ich schließe sie, damit der Lichtschein von der Kellertreppe nicht ins Zimmer fällt, dann Licht an, mit dem rechten Fuß auf die erste Stufe, Tritt, Tritt, Tritt, links oben am Türrahmen festhalten, mit rechts um den unteren Pfosten, Drehung im Gegenuhrzeigersinn und die letzten drei Stufen rückwärts, damit ich mir nicht den Schädel anstoße. Dann gebückt durch den Gang, Vorsicht, noch ein niedriger Durchgang, nachts ist der Modergeruch besonders stark, oder meine Nase besonders empfindlich. Noch ist es Sommer, der Keller ist nicht allzu kalt, ich muß nicht frieren, während ich Wasser lasse, aber wie das im Winter wird, will ich mir gar nicht ausmalen. Vielleicht ist dann aber wenigstens der Modergeruch geringer.
Und schon im Bad, blinzelnd an der Strippe ziehend, überkommt mich mit voller Wucht das Heimweh nach der alten Wohnung. Nach ihrer Sauberkeit, der Helligkeit, der Großzügigkeit der Räume, nach dem Ausblick vom Balkon übers Tal, nach dem Tisch in der Küche, nach einem Bad, das man blind im Dunkeln fand. Ich denke mir das Geräusch, das die Wohnzimmertür machte, an das wohlige Brummen der Therme, und daß die Türen der Küchenschränke nicht immer von alleine zuklappten. Am ersten Abend des Wochenendes auf das Schlüsselklappern warten, auf dem Bett liegen, Blick auf den Südhang des Tals, im Kopfhörer einen schönen Beethoven; oder Schreiben am Küchentisch, während die Gefährtin noch schlief, Heimkommen nach dem Lauf, die vertrauten Plätze für Mütze, Schuhe, Jacke, Rituale, die für ihre Zelebrierung diese Räume brauchten, wie antike Opfer einen bestimmten Tempel in einer bestimmten Stadt. Texte auch, die, auch wenn sie nicht diese Räume besprachen, doch von ihnen inspiriert waren und immer auch irgendwie von diesem Schrank, dieser Küchenzeile, diesem Fensterbrett handelten, Dinge und Dimensionen, so vertraut wie die eigenen Gliedmaßen. Jetzt sind diese Räume unausdenkbar leer, leblos, unbesprochen, und selbst das, was ich in ihnen und über sie schrieb und dachte, ist jetzt heimatlos geworden, ohne Anker in der Welt. Neulich nachgesehen: Im Fenster ein Schild, „zu Vermieten“. Es ist, als bandele eine Geliebte vor meinen Augen mit einem anderen an.
Ich war dort auch nur zu Gast, so wie ich in dem windschiefen neuen Haus nur zu Gast bin, aber ich war nicht zu Gast in den Geschichten. Ich war nicht zu Gast in den Verrichtungen, ich war in den Arbeiten zu Hause, in den Feiern und Ritualen, für die diese Räume sich mir geliehen haben, und die ohne diese Räume erst wieder Wurzeln schlagen müssen in einem neuen. Laren und Penaten, mögen sie sich wohlfühlen am neuen Ort. Ich ziehe mühsam hinterher und liege nachts wach vor Heimweh.
Oder vielleicht aus Angst vor Einschnitten, auch oberflächlichen, irrelevanten. Wie oft denkt man schon über die vertraute Umgebung nach? Erst wenn die fehlt, drängt sie sich ins Bewußtsein und schafft Brüche. So ein Umzug ist eine Zäsur, allein deshalb, weil er die eine Gleichförmigkeit des Erlebnishintergrundes beendet, eine neue Gleichförmigkeit aber erst eröffnet, und wer weiß, was jetzt kommt? Eine Veränderung färbt die Zeit ein, zerhackt das Kontinuum, ordnet die Erinnerung in vorher und nachher. Eine Veränderung macht die Zeit fühlbarer, indem sie wie ein Standort auf einer Karte einen unübersehbaren Punkt setzt: Da bist du jetzt. Am Rand der Zukunft. Die längste Zeit unseres gemeinsamen Lebens haben die Gefährtin und ich in den jetzt zurückgelassenen Räumen verlebt. Sieben magische Jahre. So viele müssen wir erst noch wieder schaffen.