Das Phänomen der Mode, schon sonst rätselhaft genug, macht eine Beobachtung an diesen ersten warmen Tagen des Jahres noch rätselhafter.
Haben die sich heimlich abgesprochen?
Oder wie ist es sonst zu erklären, daß am allerallerersten Tag, an dem die Wetterlage eine solche Bekleidung (wohl besser: Entkleidung) überhaupt zuläßt, der überwiegende Teil der weiblichen Bevölkerung zwischen 14 und 34 einvernehmlich mit diesen kaum Schlüpferlänge messenden Shorts herumläuft? Die naive Vorstellung von Mode, die das Wie der Ausbreitung und Durchsetzung eines Merkmals erklären kann, aber nicht das Warum gerade dieses Merkmals, sieht so aus: Irgend jemand, der den Mut hat, etwas völlig Beklopptes anzuziehen, geht damit auf die Straße; ist es jemand mit Charisma und vielen Freunden, findet das bekloppte Kleidungsstück Nachahmer; ist es ein Niemand, ein Narr, wird es verlacht und landet auf dem Müll.
Im Falle der Schlüpfershorts versagt dieses Modell, weil für diese Jeanshöschen gar keine Zeit war, nachgeahmt und verbreitet zu werden; die Erscheinung trat mit den warmen Außentemperaturen und dem Maisonnenschein quasi über Nacht fix und fertig voll ausgeprägt in Erscheinung, als sei das Ganze von langer Hand geplant und vorbereitet gewesen. Als hätten die Höschen seit Monaten im Kleiderschrank ausgeharrt, um endlich, beim ersten Sonnenschein, hervorgeholt und der staunenden Welt gezeigt zu werden.
Und wahrscheinlich ist es genau so auch wirklich gewesen. Wahrscheinlich hat man sich schon letzten Herbst, als die Modehersteller die Tollheiten für den Frühling und Sommer 2016 planten, gesagt, Schluß mit den Dreiviertelshosen, nächstes Jahr wird alles radikal kurz. Wir wollen Spitze rausschauen sehen! Dann wurden fleißig Kataloge gedruckt, und da Winter war, gab es keine anderen Sommerklamotten zu sehen, als eben die ultrakurzen Shorts; und als dann die Frühjahrssachen in die Kaufhäuser kamen, oh Wunder! gab es nichts anderes zu kaufen. Wozu auch? Inzwischen mußte sich das Bild von den Höschen so sehr eingebrannt haben, daß jedes längere Hosenmaß als Abweichung, ja als lächerlicher Irrtum erschienen wäre. Und so kam es, daß am gleichen Stichtag landauf landab die gleichen Beinkleider aus den Schubladen gezogen wurden. Denn wer will schon in einem Irrtum herumlaufen?
Falls das die Erklärung ist, bleiben jedoch wichtige Fragen offen. Wer bestimmt, was Irrtum, was Wahrheit ist, wer sind die Menschen, die Individuen dahinter? Wie kommt es, daß es keine konkurrierenden Strömungen in derselben Saison gibt, so daß also etwa die ultrakurzen Brevianer einen Feldzug gegen die über ihre Aufschläge stolpernden Longianer anträten? Wie können sich Modekonzerne, die doch gegeneinander konkurrieren, derart einig sein, daß es nur noch eine einzige Wahrheit zu kaufen gibt? Unterliegen die Modemacher da selber nur höhergeordneten Gesetzen? Welche wären die? Oder lachen die sich hinter den Kulissen schlapp über den Irrsinn, den der Bevölkerung aufzuschwatzen ihnen wieder einmal gelungen ist? Vielleicht wetten sie ja auch miteinander, wie weit sie gehen können, ehe die Konsumenten eine Mode ablehnen – man denke hier an den immer tiefer sinkenden Schritt der Baggy Pants.
In diesem Falle wäre ich allerdings sehr gespannt darauf, wie kurz die Höschen nächstes Jahr ausfallen werden.