Eine Stunde gewonnen, wieder in die Dunkelheit des Jahresanfangs zurückgelangt, mit Käuzchenrufen und den Schatten von Rehen, die ihre Augen übers Feld tragen wie Schulkinder die Katzenaugen am Schulranzen. Wieder scheint mir am Übungsgelände der Polizei ein Scheinwerfer entgegen, wieder brauche ich eine Schrecksekunde um zu begreifen, daß es meine Lampe ist, die sich in einer Glasfront spiegelt. Die Nacht verzweigt sich, Gänge gehen ab ins Unterholz, wo mich das Dunkel so früh noch nicht erwartet hat, immerhin eine ganze Stunde früher als im März.

Aber man gewöhnt sich. Schon nach ein paar Tagen ist fünf Uhr wieder fünf Uhr, auch wenn es eigentlich vier Uhr ist. Wie seltsam muß das den Tieren vorkommen, wenn der ganze Werktagszirkus plötzlich eine Stunde früher losgeht.

Zirkus: Kaum sind die Feiertage vorbei, setzte umgehend eine Geschäftigkeit ein, in der Geste des Nach- und Aufholens, als hätte man irgendwas versäumt, während nicht gearbeitet wurde, tausend Laptops, Kameras, Smartphones, Sommerschuhe, Handtaschen, Autos zu wenig ausgeliefert. Das muß umgehend aufgeholt werden, vorwärtsch Marsch! – Das höre ich dann morgens um kurz nach fünf oder vier, wenn die Reifen über die benachbarte Ortsdurchfahrt brausen.

Noch hat mich das alles nicht am Wickel, aber wer weiß, wie lange das noch geht? Am Feldrand stehen und den Rehen nachsehen, bis sich ihre Schatten in Schatten aufgelöst haben und nur noch die Vorstellung ihres wachsamen Blicks mich trifft. Zeit haben, den Tag zu empfangen wie ein persönliches Geschenk, und ist das nicht so, ist nicht jeder Tag mein eigener Tag, gehört er nicht mir und niemandem sonst? Wäre es nicht so, würde jemand anders ihn leben. Aber ich lebe ihn, also ist es meiner. Wie gut es die Rehe haben, daß ihnen das niemand streitig macht. Sie gehören niemandem. Selbst wenn man sie schießt und ißt, gehören sie niemandem. Sie sind so frei wie es Menschen nie sein werden, und je mehr Zirkus sie um ihre Freiheit machen, desto weniger sind sie’s.

Lampe aus, der Weg ist wach. Aus dem Wald schlüpfen und sich an der Grabenbruchkante entlanghangeln. Unten die Ebene, in der noch die Lichter brennen, funkelnd und wachsam, als gälte es, auch noch den Schlaf zu durchleuchten. Die einzige Freiheit des Menschen ist der Schlaf. Aber auch dem rückt man von allen Seiten zu Leibe. Eine aufrührerische Frechheit ist es zumal, daß man sollte träumen können, was immer man wollte.

Und ein Schleifen dröhnt heraus, ein Schleifen und Schleifen, als wäre eine gewaltige Maschine angesprungen, um das Rad der Zukunft immer weiter zu beschleunigen.

Frühprotokoll: Freiheit und Sehnsucht

Noch einmal laufen und immer wieder laufen, ich denke nicht darüber nach, wo andere erst lange von Motivation reden, reibe ich mir die Augen, stöhne leise und schlage dann die Bettdecke weg. Kaffee kochen, Mails lesen, Zähneputzen. Und los. Ich diskutiere nicht mit mir. Wenn es regnet, fluche ich, aber ich bleibe nicht zu Hause. Es ist wie Zähneputzen oder Duschen. Man tut es halt, mal lieber, mal weniger gern, auch gegen den Widerwillen. Weil man das halt so macht. Wer spricht von wollen? Tun ist alles. Ich aber genieße es, mein Tun in niemandes Dienst zu stellen. Was ich tue, hat mit Sehnsucht zu tun, nicht mit Nützlichkeit. Auch für die Sehnsucht ist Disziplin vonnöten.

Die Sehnsucht nach einem Ort und einem Weg ist stets größer als das Gefühl, angekommen zu sein, der erwartete Friede größer als der gefundene. Weniger eine Enttäuschung als eine Unruhe, die mich noch weitertreibt, der nächsten Sehnsucht nach. Du fändest Ruhe dort heißt es im Gedicht vom Lindenbaum, das mich, wann immer es mir in den Sinn kommt, zuverlässig zu Tränen rührt, aber ich weiß: Solch einen Ort unter der Linde oder wo auch immer gibt es nur im eigenen Innern, gibt es nicht in der äußeren Welt, gibt es nur als Sehnsucht. Man fände keine Ruhe dort, wo immer dort ist. Man fände dort gar nichts. Der innere Sehnsuchtsort dient höchstens der Ordnung und Orientierung, er sortiert die Erscheinungen des eigenen Lebens, richtet sie aus, schenkt ihnen Bedeutung, indem er sie auf sich als auf ein Zentrum hin bezieht. Schon allein das kann hilfreich sein, aber man sollte nicht mehr erwarten.

Räume, die uns Frieden schenken, sind keine Sehnsuchts-, sondern Gewohnheitsräume. Selten achte ich einmal auf die Kirchenglocken in meinem Ort; klängen sie aber eines Tages anders, würde ich das sofort bemerken.

Die Luft ist noch kühl, das Licht wie frisch abgebraust, die Bäume wie gebürstet. Die Segler schlafen noch, irgendwo hoch oben, außer Sicht- und Hörweite. Daß sie da sind, ist nur eine Vorstellung, aber es beruhigt und macht froh. Sechs Uhr, die Sonne schon weit überm Horizont. Warum entscheide ich mich für diesen und nicht für den anderen Weg? Ich kann es nicht sagen. Entspricht etwas in mir einem bestimmten Ort, so daß mir die Vorstellung davon eher entgegen kommt? Woher stammen unsere Wünsche, diejenigen, die wir uns so schnell erfüllen können, daß wir sie gar nicht als Wünsche wahrnehmen? Letzten Endes ist es egal, welche Strecke ich laufe. Trotzdem weiß ich, daß ich heute diese und keine andere laufen will. Was aber heißt das, ich will?

Keine Autos heute, das ist ungewöhnlich, diese Gegend schmaler Feldwege ist sonst der beste Beweis für die Behauptung: Wo man fahren darf, wird auch gefahren. Gerne nimmt man hier eine Abkürzung, damit man unten in den Dörfern nicht an den dämlichen Ampeln warten muß. Heute aber gibt es nur Rinder. Eines fällt auf, es trägt armlange, gabelförmiger Hörner, ausladend und rätselhaft, wie eine Sendeanlage, viel zu groß für das schmächtige Tier.

Flach streichendes Licht, Zäune mit der Hand an der Stirn, blinzelnde Wegweiser. Hier bin ich zu Hause, was immer das heißt. Irgendwo zu Hause zu sein, ist für mich ein unproblematisches Gefühl, wie das Verliebtsein. Es ist nicht bezweifelbar und einfach gegeben. Es muß nicht ausgelegt oder bewertet werden. Ich muß nicht ja sagen zu meiner Heimat, die Heimat sagt ja zu mir. Problematisch sind allenfalls die Konsequenzen dieses Gefühls. Wer sich an etwas bindet, wird verletzbar.

Vorurlaubszeit. Das meiste des Sommers hat bereits geblüht, das Unterholz ist geschwollen von Grün, die Kiefern duften. Hunderte Meter entfernt dröhnt die Straße. Laß sie doch alle dröhnen! Ich nehme mir die Freiheit, jede Form von Fleiß abzulehnen. Ein alter Mann mit Fahrrad steht an einem Gatter und ruft etwas, drei Pferde trotten über die Weide auf ihn zu. Es gibt Momente, da wünsche ich mir, daß mein Leben nicht mehr umfaßt hätte als solche Dinge. Pferde, Rinder, Weiden, Zäune. Blicke, die sich nicht nach Straßenecken messen, sondern nach Quadratmeilen.

Jetzt sind die Mauersegler wach. Die Kirchturmuhr schlägt sieben. In den Straßen hat die Mobilmachung für wieder einen Arbeitstag begonnen. Ich zucke mit den Schultern. Ein halber Vers fällt mir ein, als ich die Haustür aufschließe, den kritzel ich schnell hin, bevor ich duschen gehe.

Kurz

Das Phänomen der Mode, schon sonst rätselhaft genug, macht eine Beobachtung an diesen ersten warmen Tagen des Jahres noch rätselhafter.
Haben die sich heimlich abgesprochen?
Oder wie ist es sonst zu erklären, daß am allerallerersten Tag, an dem die Wetterlage eine solche Bekleidung (wohl besser: Entkleidung) überhaupt zuläßt, der überwiegende Teil der weiblichen Bevölkerung zwischen 14 und 34 einvernehmlich mit diesen kaum Schlüpferlänge messenden Shorts herumläuft? Die naive Vorstellung von Mode, die das Wie der Ausbreitung und Durchsetzung eines Merkmals erklären kann, aber nicht das Warum gerade dieses Merkmals, sieht so aus: Irgend jemand, der den Mut hat, etwas völlig Beklopptes anzuziehen, geht damit auf die Straße; ist es jemand mit Charisma und vielen Freunden, findet das bekloppte Kleidungsstück Nachahmer; ist es ein Niemand, ein Narr, wird es verlacht und landet auf dem Müll.
Im Falle der Schlüpfershorts versagt dieses Modell, weil für diese Jeanshöschen gar keine Zeit war, nachgeahmt und verbreitet zu werden; die Erscheinung trat mit den warmen Außentemperaturen und dem Maisonnenschein quasi über Nacht fix und fertig voll ausgeprägt in Erscheinung, als sei das Ganze von langer Hand geplant und vorbereitet gewesen. Als hätten die Höschen seit Monaten im Kleiderschrank ausgeharrt, um endlich, beim ersten Sonnenschein, hervorgeholt und der staunenden Welt gezeigt zu werden.
Und wahrscheinlich ist es genau so auch wirklich gewesen. Wahrscheinlich hat man sich schon letzten Herbst, als die Modehersteller die Tollheiten für den Frühling und Sommer 2016 planten, gesagt, Schluß mit den Dreiviertelshosen, nächstes Jahr wird alles radikal kurz. Wir wollen Spitze rausschauen sehen! Dann wurden fleißig Kataloge gedruckt, und da Winter war, gab es keine anderen Sommerklamotten zu sehen, als eben die ultrakurzen Shorts; und als dann die Frühjahrssachen in die Kaufhäuser kamen, oh Wunder! gab es nichts anderes zu kaufen. Wozu auch? Inzwischen mußte sich das Bild von den Höschen so sehr eingebrannt haben, daß jedes längere Hosenmaß als Abweichung, ja als lächerlicher Irrtum erschienen wäre. Und so kam es, daß am gleichen Stichtag landauf landab die gleichen Beinkleider aus den Schubladen gezogen wurden. Denn wer will schon in einem Irrtum herumlaufen?
Falls das die Erklärung ist, bleiben jedoch wichtige Fragen offen. Wer bestimmt, was Irrtum, was Wahrheit ist, wer sind die Menschen, die Individuen dahinter? Wie kommt es, daß es keine konkurrierenden Strömungen in derselben Saison gibt, so daß also etwa die ultrakurzen Brevianer einen Feldzug gegen die über ihre Aufschläge stolpernden Longianer anträten? Wie können sich Modekonzerne, die doch gegeneinander konkurrieren, derart einig sein, daß es nur noch eine einzige Wahrheit zu kaufen gibt? Unterliegen die Modemacher da selber nur höhergeordneten Gesetzen? Welche wären die? Oder lachen die sich hinter den Kulissen schlapp über den Irrsinn, den der Bevölkerung aufzuschwatzen ihnen wieder einmal gelungen ist? Vielleicht wetten sie ja auch miteinander, wie weit sie gehen können, ehe die Konsumenten eine Mode ablehnen – man denke hier an den immer tiefer sinkenden Schritt der Baggy Pants.
In diesem Falle wäre ich allerdings sehr gespannt darauf, wie kurz die Höschen nächstes Jahr ausfallen werden.