Kälter jetzt und noch dunkler, die Dämmerung strenger, der Tagesanbruch wie eben frisch aus dem Kühlschrank geholt, naßfremd und versiegelt. Ich verzichte auf die Lampe, ich will schauen, wie weit ich ohne Licht ins Jahr komme. Wenn ich den Weg nicht mehr sehen kann, ist es soweit. Vorher nicht. Es ist viel zu warm für künstliches Licht.
So wie die Einbildung aus der Sicht der Realität völlig unglaubhaft scheint, scheint ebenso unglaubhaft die Realität aus der Sicht der Einbildung. Wach liegen und sich ein Geräusch einbilden, nein, ein Geräusch hören: Jemand schleicht ums Haus, jemand atmet laut vor der Tür, jemand hockt unterm Fenster und knistert mit einer Plastiktüte. Überzeugt sein, gegen alle Vernunft, daß es so sein müsse, daß es gar nicht anders sein kann. Oder noch schlimmer: Die Silhouette eines Kopfes im Fenster. Alles ist wahrscheinlicher als die Deutung, daß es wirklich ein Kopf ist, aber keine andere Deutung fällt einem ein. Und am schlimmsten: sich plötzlich krank zu fühlen, Übelkeit, Halskratzen, Schmerz, so echt und furchterregend, daß es absolut unglaubhaft, daß es entgegen der tatsächlichen Verhältnisse als ferne Einbildung scheint, vielleicht doch gesund zu sein.
Wenn man im Dunkeln losläuft, scheint der Tag mit Sonnenschein und Mittagswärme eine ferne Einbildung; so wie die kühlen Wege in der Dämmerung, die verhangenen Felder und tintigen Wiesenstreifen zwei Stunden später schon, beim Warten an der Straßenbahnhaltestelle, eine traumartige Beschaffenheit angenommen haben; eins wie das andere erscheint bis zur Unzugänglichkeit entfernt. Die Laufschuhe stehen im Flur, schon abgekühlt und trocken, wie etwas, das man vom Grund eines Sees herausgeholt hat; etwas Reales von einem im Grunde irrealen Ort.
Nachts an einem irrealen Ort voller Schmerzen gefangen sein, dabei wach sein, schlimmer als Träume, aus denen man immerhin aufwachen könnte. Ich muß warten, bis die Nacht erwacht und zum Tag wird, mich wie den bösen Traum, der ich mir selbst bin, vergißt und mich mitnimmt dorthin, wo Rettung ist. Aber der Morgen ist vielleicht, wie bei Prousts einsamem kranken Hotelgast, der, aus kurzem Schlummer erwachend, die Abend- für die Morgendämmerung hält und glaubt, bald Hilfe bekommen zu können, dann aber erkennt, daß die Dunkelheit erst begonnen hat, und „er die lange Nacht wird durchleiden müssen“ –: dieser Morgen ist vielleicht noch fern.
Und auch dann gibt es vielleicht keine Rettung.
Endlich ist es hell, schütteln sich die Wege frei. Ein paar glattgestrichene Wolken stehen starr am Himmel, als hätte die Nacht sie dort zum Trocknen aufgehängt und vergessen. Am Horizont Pferde vor Waldsäumen, weiß, unbeweglich, Pinselstriche auf dunkler Leinwand. Plötzlich das Schwirren einer gefährlich nahen Raubvogelschwinge direkt an meinem Ohr, fast meine ich, den Luftzug auf der Wange zu spüren, in Kopfhöhe teilt der unglaubhaft schwere Körper die Luft wie ein Schiffsbug, hebt sich davon, empor zu einem Waldrand, wo ich ihn aus den Augen verliere. Es ist derselbe Vogel, denke ich mir, der hier schon zweimal vor mir geflohen ist, beide Male aus dem Unbemerktsein herausgeflogen wie ein Steinschlag aus Luft. Morgen, nehme ich mir vor, wird er mich abermals entlassen aus der Nacht in den wartenden Tag.
(Wie betäubt im Immernochtraum nach der durchwachten Nacht zur Haltestelle gestolpert. Die Gesichter der anderen Wartenden so klar, die Blicke so scharf, als wären sie schon immer wach gewesen in ihrem eigenen Traum.)
Vielleicht sind wir ja nur die Träume anderer? (Nur so ein Gedankenblitz)
Was sind dann unsere Träume?
Das Leben der anderen?
Parallelleben?