Quis ille?

Einmal saß ich im Zug von Andernach, wohin ich mit Lektüre bewaffnet gefahren war, einfach nur, um unterwegs zu sein und woanders als sonst, es war eine Zeit, da ich mich von der Verstrickung in eine Unmöglichkeit endlich selbst freigekämpft hatte, ich saß im Zug, befreit von einer monateschweren Last, es war wie fliegen. Später unter Platanen am Rheinufer, Schwärme von schwarzen Möwen, die einander Frechheiten zuschrien, am Ende der Promenade eine Mauer, ein Turm, dann der Rhein, eine stete Bewegung, dahinter zogen stromauf die Berge, stadtwärts schwebte der Hebekran, ein Leichtgewicht im Abenddunst. Für Laternen war es zu sehr Sommer, nicht aber für die Schatten, die im Ufersaum samtdunkel gluckerten. Ich saß, schloß die Augen, der Raum füllte sich mit Geräusch, ich ließ mir die Luft wie Schokolade am Gaumen zergehen. Auf der Rückfahrt war der Zug fast leer, sehr ruhig, eine festliche Leere, wie die Sitzreihen ineinandergeschachtelt dalagen, sich selbst genug. Der Rhein trug eine ausgebreitete Schwinge, die reichte er ins Fenster hinein, ich ließ den Blick zu den nächsten Bergen wandern, eine Geschichte lockte zu schreiben, eine andere war in dem Buch auf meinen Knien, bereit, entziffert zu werden. Drüben standen die Häuser voll mit Fenstern. Wege brachen auf in die Weinberge und weiter, drängten durch die Talhänge, als verlangte es sie nach den Wolken darüber. Sie sahen aus, als könnten sie den Horizont in ein zwei Kehren erreichen, mühelos. Die Silhouette eines Schlosses kauerte in einer Fältelung des Grunds wie ein versteinerter Drache.

Überall waren Geschichten.

Und all dies war in mir. Ohne mich wäre nichts. Es gäbe ohne mich keinerlei Geschichten, weder im Buch noch sonstwo, insofern man überhaupt sagen kann, daß Geschichten irgendwo sind. Es gäbe auch den Rhein nicht, nicht dieses im Kurvenschlag schräg aufwärts spiegelnde Wasser mit der Welle der Weinberge am Scheitel, wenn ich es nicht betrachtete und den Finger auf die Scheiben legte, die voll waren von zerkratzter Sonne und doppelverglastem Gewölk. Die Vögel wären nicht, Andernach nicht, das Rheinufer, an dem ich gesessen hatte noch weniger, ich wußte genau, es existierte das alles nur, weil ich da war, und weil es nur kraft der Geschichten, in denen ich stand, existierte. Ich saß ja da schon nicht mehr, nur noch die Verpackung des Schokoriegels, den ich dort gegessen hatte, entfaltete sich knisternd im Mülleimer. Daß ich aber doch da war, verdankte sich der Geschichte, in der ich dorthin gefahren, gesessen, gegessen, den Hebekran beobachtet hatte, ebenso, wie ich später, in einer anderen Geschichte, davon schreiben würde. Und was immer mir zustieße, es wäre Teil der überkreuzten, ineinandergewucherten, blasenhaft anwachsenden Geschichten, in deren Schaum ich war, wieviele das auch sein mochten; und was auch geschah, würde sich immer mit Worten fassen und bannen lassen oder sogar verwandeln, es wäre, dämmerte mir damals, den Worten nur nachgeordnet. Die Welt ist trivial. Was zählt, ist nur ihr Abbild und daß sie erzählbar ist. Das ist ihr Gewicht, das ist ihre Wucht, das ist ihre Schönheit, von der man singen muß.

0 Gedanken zu „Quis ille?

  1. Ja, manchmal ist es gut, woanders zu sein, wenn man sich aus einer Verstrickung in eine Unmöglichkeit freigekämpft hat. Dann sieht man die Welt neu, das Potenzial möglicher Geschichten und man staunt wieder.

  2. Lieber Herr Solminore, so sehr ich Ihren Text mag, in einem muß ich Ihnen widersprechen: die Welt ist wunderbar, und daß sie erzählbar ist, macht sie nur noch wunderbarer. Ohne Erzählen wäre die Welt nur halb, unverdaut und unbesungen, aber alles Erzählen kommt aus dem Erleben.
    (Nichts für ungut!)

    1. Das glaube ich gerade nicht, daß die Welt erzählbar ist. Erzählbar sind nur Geschichten. Auch das Erleben ist im Grunde nicht erzählbar. Das macht es so beschränkt, so flüchtig, so unbetrachtbar. Im Unterschied zu Geschichten, zu Liedern. Die bleiben.

        1. Da möchte ich Ihnen widersprechen. Oder besser: Ich habe dazu eine andere Haltung. Mich macht Vergänglichkeit und Vergehen traurig. Und das Nichtbegreifen auch. Nur Worte finde ich begreifbar. Die Welt entzieht sich mir, Worte nicht. Worte bleiben, sind geduldig, lassen sich wieder und wieder betrachten. Die Welt ist launisch, Worte sind treu. (Ich weiß, Sie werden mir auch in diesem Punkt widersprechen.)

          Also halte ich mich an die Worte.

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