Unsichtbar

Ich sitze auf dem Baumstumpf, wo ich immer sitze, und trinke mein Bier in der rasch anziehenden Abendkälte. Der Wald ist noch winterkahl, hell, die Bäume stehen weit und einzeln. Nur das alte Laub ist lebendig, läßt sich von einem kaum merklichen Windhauch reizen. Es klingt wie der Tritt von Tieren, aber mein Ohr läßt sich längst nicht mehr ins Bockshorn jagen. Ich muß mehrere Äste von dem Plateau entfernen, die der Wind aus den naiven Pfadfinderlagern herausgebrochen und wie Knochen über den Grund verstreut hat. Um den Platz stehen Eichen, die Äste verkrampft zum Himmel gereckt. Im vergangenen Winter ist ein mehrere Meter langer Ast abgebrochen und hängt jetzt in der Gabel eines jüngeren Baums. Jedesmal scheint der Ort, wenn ich ihn nach Wochen oder Monaten wieder aufsuche, verändert, umgebaut, nach neuen Richtungen offen. Aber wie sehr ich mich auch strecke und den Winkel wechsle, den auf der Karte verzeichneten Hochstand habe ich noch nie gesehen, sehe ich auch diesmal nicht. Also bin ich doch wohl auch unsichtbar? Für wen auch immer: Noch sind Stimmen im Wald. Der behelmte Kopf eines Fahrradfahrers erscheint und schwebt an meinem Platz über dem Sichtschutz des Unterholzes vorbei. Erschreckend nahe, aber ich weiß, daß sich vom Weg aus der Blick sofort im Unterholz verliert, daß es unmöglich ist, den Fleck, wo ich gleich das Tarp aufspannen werde, zu identifizieren. Man muß nur in die Hocke gehen, schon ist man nicht mehr Teil der wohnenden Welt. Auf dem Hinweg hat noch eine Spaziergängerin wenige Schritte von dem versteckte Pfad entfernt meinen Weg gekreuzt; ein anderer ist zweihundert Meter voraus gegangen. Keiner hat mich bemerkt, wie ich ins Gebüsch geschlüpft bin. Jetzt schieben sich Stimmen heran, heran und vorbei. Menschen kehren heim, für die der Wald sich in ihrem Rücken voller Fremdheit schließt, wo er mich schützend aufgenommen hat. Dann bin ich allein, der letzte. Bis Mitternacht werde ich schlafen, ehe mich die Kälte weckt, bis ein Uhr weiterdämmern, dann aufgeben und durch die Vollmondnacht nach Hause wandern. Jetzt aber geht erst einmal der Mond auf und malt Fensterquadrate auf den Grund. Die Stimmen sind verhallt. Fern, im Ort, schlägt eine Kirchturmuhr acht. Das Laub krabbelt über den Grund. Ein Käuzchen ruft.

Baumpilz

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