Es ist Sonntag, es ist Trödel, und es ist zu heiß. Der Stadtpark riecht nach Hundekot, die Zeppelinstraße nach Würstchen und gebrannten Mandeln. In der drückenden Hitze flaniert alles schweigend und in äußerster Konzentration an den Ständen hinauf und hinunter, nur keine Bewegung zuviel. Während in den Seitenstraßen Sonntag herrscht und die Sonne schweigende Schatten wirft, schiebt man sich diesseits der Woche im Gedränge vorwärts. Neben tatsächlichen Flohmarktgütern, alten Kinderbüchern, ausrangierten Schuhen, mehr oder weniger gepflegt, Spielzeug, Porzellan, Plunder aller Art, gibt es auch professionelle Anbieter, die billige und billigste Mode, hundert Arten Batterien, Wecker, Wischblätter feilhalten. In einem Karton stapeln sich Videokassetten, in einem anderen Was-ist-Was-Bände mit Titeln in drolligen Typen. Abenteuerbücher vergessener Autoren, verblassende Umschlagbilder, ein Kaleidoskop des Vergessenen und Vergeblichen, das Stand um Stand die ausrangierten Telephone, Flachbildschirme und Laptops fortsetzen, zu alt um noch einen Zweck zu haben, zu jung, zu häßlich, zu lieblos gefertigt, um das Kostbare des Vergangenen zu besitzen, man möchte es so schnell wie möglich vergessen wie eigene Jugendsünden. Zeitlos, weil ausgereift seit Jahrzehnten: Wasserhähne, Schraubgewinde, Werkzeuge. Eine alte Waage mit Gewichten, alt genug, um schön zu sein; beliebige Vasen, Tassen, Modellbauteile, die vielleicht noch einen Sammler interessieren, und kurz bevor ich sie erblicke, die ich dann doch nicht kaufe, eine alte Olympia-Reiseschreibmaschine, wahrscheinlich das einzige Stück, das den Besuch gelohnt hätte, spüre ich etwas Feuchtkühles an der Hand. Ich drehe mich um und sehe geradewegs in das Flehende eines hechelnden Hundegesichts, kurz bevor die Leine das Tier wegreißt.
Rauchschwaden vom türkischen Grill, Lammfleisch und Knoblauch, auf der anderen Seite selbstgebackener Kuchen. Die Gerüche lassen sich ertragen, es könnte schlimmer sein. Schlimm ist nicht, wie es riecht, schlimm ist, wie es klingt: Links ein echter Indianer mit falschem Federschmuck, aus einer Lautsprecherbox quillt süßlicher Panflötendunst; rings um eine Art von Bühne eine Art von Galerie mit so etwas wie Bildern, Paradiesvögel, Heilige, Gebirgslandschaften in Bonbonfarben, ein Condor, natürlich, selbst dem Indianer ist es unter dem Federschmuck zu heiß in der Zeppelinstraße, er setzt sich, Erschöpfung in den Zügen, später wird er wahrscheinlich singen müssen oder wenigstens Panflöten pfeifen.
Zuerst singt aber jemand anders. Eine Bühne, Lifemusik, die Sängerin hat den Kniff mit dem knarrenden Stimmeinsatz schon ganz gut raus, ein Liebeslied, das vom Glück irgendwo, irgendwie, irgendwann handelt, tröstlich in der Unbestimmtheit, mach dir nichts draus, kommt alles noch, auch du, auch wir werden es schaffen. Dreiklänge rauf und runter, ein trauriges Dur, klebrig, gelb, süß, ekelhaft. Ich wehre mich gegen dieses Gefühl in Flaschen, gegen den rauhen Stimmeinsatz, gegen das Akkordgewaber, gegen die Herzenszumutung. Ich verziehe das Gesicht gegen diesen aspartamsauren, geschmacksverstärkten Seim, gehe schneller und wische mir den Schauer von den Armen. Ich will das nicht, dieses Gefühlsimitat, es ist aufdringlich und anbiedernd, irgendwo, irgendwann, irgendwie falsch, nein, nicht falsch, nicht einmal das.
Später der Marktplatz. Rathaus links, Einkaufszentrum rechts, die meterhohe Löwenstatue auf ihrem rechteckigen Sockel, ein gigantischer Petzispender mittig auf dem Platz, ringsum ziemlich viel Raum für sengende Sonne auf Pflastersteinen, menschenleer, alle Schaufenster dunkel, nicht einmal Tauben trauen sich, die Schaufensterpuppen starren hinter Sonnenbrillen über die blankgewischte Fläche, einzig echt ist das Gold auf der Rathauskuppel; es sieht aus, als sei es bei der letzten Plünderung übersehen worden.
Der süße Seim, das billige Gefühl, man entkommt ihm nicht. Hier ist es eine Saxophonmelodie, die aus der einzigen geöffneten Kneipe über den Platz schallt. Zwei Tische im Schatten der Arkade, halbvolle Weizenbiergläser und davor, halb in der Sonne, halb unter einer Markise, ein Paar, das sich umschlungen hält und tanzt, nach Art älterer Menschen, die das Tanzen seit vielen Jahren verlernt haben, ein Sich-Wiegen und Schunkeln, unbeholfen, Hüfte an Hüfte, je ein rechter und linker Arm mehr in der Absicht als in der Verwirklichung eines Tanzes verschränkt und ausgestreckt, sie schwanken, als hielten sie sich gegenseitig fest und hinderten so einander am Umfallen. Das Saxophon hallt von den erhitzten Fassaden wieder, die Schlagermelodie wabert in mehrfachen Schichten über den Platz und dringt bis in die Gänge des verödeten Einkaufszentrums vor, runtergelassene Läden, erloschene Beleuchtung, man glaubt, das Schlüsselklappern eines Wachmanns zu hören, die Tür vielleicht nur aus Versehen nicht abgeschlossen. Aus Versehen, wie das alles hier nur ein Versehen ist, das Saxophon, das tanzende Paar, die Tränen, halt mich fest, wer, du, ich bin auch nur hier, weil es kein anderswo gibt. Kein irgendwann, irgendwie, irgendwo.
Laß uns gehen. Bitte. Wohin? Irgendwohin. Die Cafés haben geschlossen, kein Eis, keine Erfrischung, kein Platz zum Sitzen. Wir gehen und schauen, aber zu sehen gibt es nichts. Doch noch zurück und die Schreibmaschine kaufen? Es kommt mir sinnlos vor, ein elendes Aufbegehren gegen die Zeit, morgen wird alles anders. Größer, schöner, jedenfalls besser. Die Fußgängerzone von Sonne und Sonntag verwüstet, an einer Leuchtreklame fehlt ein Buchstabe, Alles für einen Euro, das läßt sich nur noch mit Geschäftsaufgabe unterbieten, und daran, an mit Pappkarton zugeklebten Fassaden, an ausgebleichten Zu-Vermieten-Schildern, herrscht kein Mangel. Drüben, in weiter Ferne über der Stadt, schwebt unerreichbar ein Waldsaum, es wäre schön, wenn die Wolken darüber ein Gewitter bedeuteten. Wir gehen, das Pflaster brennt, die Füße schmerzen. Der Brunnen plätschert im Todeskampf.
Ein älterer Mann mit grauem Schnauzer und schlohweißem Haar, am Stock, sehr gepflegt angezogen, Lederschuhe, dunkle Hose, hellblaues Hemd, kommt uns die Fußgängerzone herauf entgegen, schwankend, aber so gut zu Fuß wie alte Männer manchmal gut zu Fuß sind, beharrlich, ausdauernd, nicht aus der Ruhe und dem Tritt zu bringen. Auf unserer Höhe zwinkert er, bleibt stehen, stützt sich auf seinen Stock, wendet sich halb nach uns um. Er öffnet den Mund, vielleicht nur, um Atem zu schöpfen, ich weiß nicht, ob er uns ansprechen wollte, ob wir zu unaufmerksam waren oder zu hastig für seine Ruhe. Vielleicht hat er uns nach dem Weg fragen wollen und es sich im letzten Moment noch anders überlegt, als er unsere Gesichter sah. Vielleicht haben wir ihn erschreckt, womöglich sehen wir bereits genauso hoffnungslos aus wie die ganze Stadt um uns herum, nicht irgendwann, sondern jetzt.