Frühprotokoll: Freiheit und Sehnsucht

Noch einmal laufen und immer wieder laufen, ich denke nicht darüber nach, wo andere erst lange von Motivation reden, reibe ich mir die Augen, stöhne leise und schlage dann die Bettdecke weg. Kaffee kochen, Mails lesen, Zähneputzen. Und los. Ich diskutiere nicht mit mir. Wenn es regnet, fluche ich, aber ich bleibe nicht zu Hause. Es ist wie Zähneputzen oder Duschen. Man tut es halt, mal lieber, mal weniger gern, auch gegen den Widerwillen. Weil man das halt so macht. Wer spricht von wollen? Tun ist alles. Ich aber genieße es, mein Tun in niemandes Dienst zu stellen. Was ich tue, hat mit Sehnsucht zu tun, nicht mit Nützlichkeit. Auch für die Sehnsucht ist Disziplin vonnöten.

Die Sehnsucht nach einem Ort und einem Weg ist stets größer als das Gefühl, angekommen zu sein, der erwartete Friede größer als der gefundene. Weniger eine Enttäuschung als eine Unruhe, die mich noch weitertreibt, der nächsten Sehnsucht nach. Du fändest Ruhe dort heißt es im Gedicht vom Lindenbaum, das mich, wann immer es mir in den Sinn kommt, zuverlässig zu Tränen rührt, aber ich weiß: Solch einen Ort unter der Linde oder wo auch immer gibt es nur im eigenen Innern, gibt es nicht in der äußeren Welt, gibt es nur als Sehnsucht. Man fände keine Ruhe dort, wo immer dort ist. Man fände dort gar nichts. Der innere Sehnsuchtsort dient höchstens der Ordnung und Orientierung, er sortiert die Erscheinungen des eigenen Lebens, richtet sie aus, schenkt ihnen Bedeutung, indem er sie auf sich als auf ein Zentrum hin bezieht. Schon allein das kann hilfreich sein, aber man sollte nicht mehr erwarten.

Räume, die uns Frieden schenken, sind keine Sehnsuchts-, sondern Gewohnheitsräume. Selten achte ich einmal auf die Kirchenglocken in meinem Ort; klängen sie aber eines Tages anders, würde ich das sofort bemerken.

Die Luft ist noch kühl, das Licht wie frisch abgebraust, die Bäume wie gebürstet. Die Segler schlafen noch, irgendwo hoch oben, außer Sicht- und Hörweite. Daß sie da sind, ist nur eine Vorstellung, aber es beruhigt und macht froh. Sechs Uhr, die Sonne schon weit überm Horizont. Warum entscheide ich mich für diesen und nicht für den anderen Weg? Ich kann es nicht sagen. Entspricht etwas in mir einem bestimmten Ort, so daß mir die Vorstellung davon eher entgegen kommt? Woher stammen unsere Wünsche, diejenigen, die wir uns so schnell erfüllen können, daß wir sie gar nicht als Wünsche wahrnehmen? Letzten Endes ist es egal, welche Strecke ich laufe. Trotzdem weiß ich, daß ich heute diese und keine andere laufen will. Was aber heißt das, ich will?

Keine Autos heute, das ist ungewöhnlich, diese Gegend schmaler Feldwege ist sonst der beste Beweis für die Behauptung: Wo man fahren darf, wird auch gefahren. Gerne nimmt man hier eine Abkürzung, damit man unten in den Dörfern nicht an den dämlichen Ampeln warten muß. Heute aber gibt es nur Rinder. Eines fällt auf, es trägt armlange, gabelförmiger Hörner, ausladend und rätselhaft, wie eine Sendeanlage, viel zu groß für das schmächtige Tier.

Flach streichendes Licht, Zäune mit der Hand an der Stirn, blinzelnde Wegweiser. Hier bin ich zu Hause, was immer das heißt. Irgendwo zu Hause zu sein, ist für mich ein unproblematisches Gefühl, wie das Verliebtsein. Es ist nicht bezweifelbar und einfach gegeben. Es muß nicht ausgelegt oder bewertet werden. Ich muß nicht ja sagen zu meiner Heimat, die Heimat sagt ja zu mir. Problematisch sind allenfalls die Konsequenzen dieses Gefühls. Wer sich an etwas bindet, wird verletzbar.

Vorurlaubszeit. Das meiste des Sommers hat bereits geblüht, das Unterholz ist geschwollen von Grün, die Kiefern duften. Hunderte Meter entfernt dröhnt die Straße. Laß sie doch alle dröhnen! Ich nehme mir die Freiheit, jede Form von Fleiß abzulehnen. Ein alter Mann mit Fahrrad steht an einem Gatter und ruft etwas, drei Pferde trotten über die Weide auf ihn zu. Es gibt Momente, da wünsche ich mir, daß mein Leben nicht mehr umfaßt hätte als solche Dinge. Pferde, Rinder, Weiden, Zäune. Blicke, die sich nicht nach Straßenecken messen, sondern nach Quadratmeilen.

Jetzt sind die Mauersegler wach. Die Kirchturmuhr schlägt sieben. In den Straßen hat die Mobilmachung für wieder einen Arbeitstag begonnen. Ich zucke mit den Schultern. Ein halber Vers fällt mir ein, als ich die Haustür aufschließe, den kritzel ich schnell hin, bevor ich duschen gehe.

III

sieh, was da ist. nimm einen kiesel aus dem bach, steck ihn in die tasche, trag ihn herum, bis er sich in die furchen deiner haut eingepaßt hat, bis er dein ist. nimm das licht aus dem gatter der zweige, häng es dir über die schultern, trage es. streiche die SCHWACHEN STUNDEN glatt. falte daraus ein knisterndes origami. und so tu es mit allem.
verwandle es.
vertraue dich dem gedanken an: du hast kein heim. daran erstarke.

die nächte tragen mal um mal masken vorm antlitz. wenn du nicht darunter blicken kannst, gib ihnen namen. (Träumerin, Muse, Göttin, Frevlerin, Täuscherin, Trost, Zorn, Keusche, ‘Eωσφόρa …)

nimm den duft der blumen, berühr ihn mit der zungenspitze. fahre dem schatten einer rose nach mit dem großen zeh. (lerne, selbst einen schatten zu werfen? ja.) schnuppere an den wasserlichtern auf dem tisch. laß dich in einem tautropfen zerkrümmen. konvex und konkav, überlege, was was war. hole atem, als trügest du einen lateinischen vers vor: mit staunen.
so viel leichtsinn braucht es mindestens. wenn du müde bist, so fordere den schlaf.