Es ist nicht das erste Mal, daß ich davon aus dem Schlaf gerissen werde. Aber noch nie war es so schlimm, so katastrophenartig beängstigend, was sich da ein Stockwerk über mir abspielte, wie vor ein paar Tagen.
Was mich weckte, war ein Knall, ein dumpfes Aufprallgeräusch mit einem harten, häßlichen Kern, als würde etwas Schweres, Massives umgeworfen, ein Tisch etwa, ach was, ein Schrank. Dazu das Geschrei. Ein Gebrüll, überkippende Stimmen, Laß mich in Ruhe, Halt die Klappe, zwei Stimmen, eine männliche, eine weibliche, aber man versteht nur ihn, er ist lauter, er brüllt sie nieder, Brüll mich nicht an, brüllt er, bis sie nur noch schluchzen kann, und beiden Stimmen, seinem Gebrüll, ihrem Geheul, nichts Menschliches mehr innewohnt, und vielleicht ist es das, die Fratze in Menschengestalt, oder das Menschliche in der Fratze, diese Entstellung der Normalität, was so furchtbar, so ohne Maß grauenhaft ist, daß ich am ganzen Körper erstarre und mir der Puls rast. Und während sich die Stimmen, das Gebrüll, jetzt auch harte Polterschritte quer durchs obere Stockwerk in einen abgelegenen Teil der Wohnung entfernen, frage ich mich nicht zum ersten Mal, ob jetzt nicht endlich das Ausmaß erreicht ist, wo man vernünftigerweise die Polizei holen sollte.
Eine Tür fällt ins Schloß. Ein letzter Knall, dann herrscht Stille, und man denkt, jetzt ist es zu Ende, zu Ende, alles.
Und dann geht es weiter, geht es einfach immer weiter, bis zum nächsten Rumms ein paar Wochen später.
Schlagwort: Stimmen
Lange Zeit sind die Wörter nach mir schlafengegangen
Die Stimmen waren also verstummt, oder der Knabe schlief darüber ein, wie sie sich entfernten. Jedenfalls muß er geschlafen haben, denn irgendwann war wieder Morgen und das Haus hell. Der Wind kam vom Meer und brauste in den Föhrenwipfeln. In den Wald konnte man weit hineinlaufen und noch weiter hineinsehen. Nadeln brachen unter den Schritten. Moos leuchtete an Schattenrändern, und süße Heidelbeeren. Es gab Pfade und Wildnisse. Von überall war das Haus sichtbar, oder die See, oder der Himmel. Der Wald hatte Sandkrusten, Grenzen, Ränder. Die Stimmen waren verstummt. Der Wind, der in den Wipfeln brauste, er wußte nichts von ihnen. Zur Nacht hatte er gefehlt.
Im Knaben klangen sie noch nach, aber nur mehr als ein Echo. Das ließ sich nicht nachsingen. Das kam falsch heraus, wenn mans versuchte. Das war wie mit „Ein Männlein steht im Walde“, das seine Schnüß nicht so richtig konnte. Und weil das so traurig war und alles, was sich nachmachen und nachholen ließ, auch gar nichts mehr zu tun haben wollte mit jenen anderen Stimmen, ihren Zauber nicht wiederbringen sondern nur weiter entrücken konnte, daß der Verlust noch schmerzhafter fühlbar wurde, versuchte es der Knabe nicht mehr, hoffte nur, die Eltern, die doch alles wußten, hätten es auch gehört, seien ihrerseits am Fenster gestanden und könnten es ihm jetzt erklären, es ihm nachsingen mit ihrer Schnüß, ihn dort hinführen, wo das hergekommen war, es ihm wiederbringen und in seine Hände geben, in seinen Besitz. Doch die Eltern konnten zwar singen wußten aber von nichts. Und der Knabe verstand da zum erstenmal das Versprechen und den Trug, die Machtlosigkeit und die Macht der Sprache; wie schlau sie war, und wie sie den Dingen der Welt nicht entsprechen wollte. Daß es etwas anderes auf sich hatte mit ihr; daß sie nur sich selbst entsprach und aus sich heraus Welten machen konnte, soviele sich nur denken ließen, Welten, in denen Frauen in strahlenden Gewändern und einem Licht in den Händen nachts singend durch einen Wald tanzten, während ein Knabe sich die Nase am Fensterglas nach ihnen plattdrückte: Das sollte er erst viel später lernen, als die Erinnerung an jene Nacht längst selbst nur mehr aus den Worten zu leben begonnen hatte, die er dafür finden würde.
Anschreiben gegen das Gewicht des Morgens. Gegen das Gewicht der Träume. Der geträumten. Und der nichtgeträumten. Gegen das Licht schreiben, gegen die Flut, gegen das Diktat der Zukunft. Ungleichzeitiges gleichzeitig machen.
Mittagslos, der Tag kein Tag. Etwas erfinden, das eine Morgendämmerung zu dieser Morgendämmerung werden ließe, das Beliebige einfriert, zu einer Stunde, in der man sich selbst enhalten wiederfindet.
Egal, daß der Tag sich selbst halluziniert. Wirklich sind doch nur die Gestimmtheit und die Stimmen.
Saeby
Da waren also diese Leute draußen im Wald und sangen dieses etwas alberne und doch irgendwie traurige Lied, Alouette, gentille alouette, aber für mich damals war es, konnte es gar nicht albern sein, man hat als Fünfjähriger kein Gefühl dafür, was albern oder ernst, süß oder verkitscht, aufrichtig oder hohl ist. Und im Grunde ist es ja nur ein ganz einfaches Liedchen, das sich in seiner Schlichtheit nicht verstecken muß. Schon gar nicht nachts um spät, der Fünfjährige ist erwacht, und aus seiner Sicht ist es mitten in der Nacht, sei es elf oder zwölf oder halb vier. Es war Sommer, Hochsommer, und im Norden heißt das Tageslicht bis um zehn, elf Uhr. Es war aber zu jener Stunde schon dunkel, stockfinster, bis auf, ja, vielleicht bis auf ein Licht, das, nicht nah, nicht weit, aber ungeheuer draußen, zwischen den Föhrenstämmen aufblitzte, erlosch, wieder aufblitzte, der Nacht, den Baumriesen, dem Waldraum angehörend, einem Raum, der verzaubert war, und wo in diesem Augenblick etwas Wunderbares geschah, und dieses Wunderbare war: Musik.
Es sangen da Stimmen, zwei oder drei oder vier, sangen, und vielleicht unterbrachen sie sich manchmal, um laut herauszulachen; Strophe, Gegenstrophe, Lachen, es war etwas unendlich Gelöstes, Frohes und Lustiges an diesen Stimmen, überirdisch und entrückt und doch ganz hier; und zugleich haftete ihnen ein unergründlicher Zauber an, ein heiterer Ernst, wenn es so etwas gibt: Es war etwas, die Melodie, das Heitere, das Nur-sich-selbst-Genügende, das zum Atemanhalten schön war (wahrscheinlich drückte ich mir die Nase an der Fensterschiebe platt), das nicht mir galt, das einfach passiert war, da draußen zwischen den Bäumen, und das sich, während ich lauschte und rätselte, schon wieder langsam entfernte, leiser und leiser wurde.
Es werden junge Leute gewesen sein, die angetrunken, ausgelassen und veralbert von einer Feier nach Hause gingen, und die in ihrer Ausgelassenheit beschlossen hatten, gemeinsam dieses Liedchen mit seinen anwachsenden Repetitionen (Et la tête! – Et la tête!) durch den Wald zu schmettern.
Ich weiß nicht wie lange es dauerte. Ich weiß aber, wie es mich, während ich am Fenster stand und lauschte und lauschte, in eine qualvolle Unruhe versetzte, weil ich es nicht verstand. Ich fühlte damals, daß es mir auf immer entglitte, daß ich es verlieren würde, wenn ich nicht begriff, was das war. Ich hatte die Sehnsucht, es für immer zu besitzen; ich glaubte, daß ich nur verstehen müsse, was es war, um in diesen ersehnten Besitz zu gelangen, für immer teilhaftig des wundersüßen Geheimnisses.
Was ich noch nicht wissen konnte, war natürlich, daß solche Augenblicke unwiederholbar sind, und daß man nichts daran besitzen kann, daß man schon dabei ist, sie zu verlieren, noch während sie dauern. Selbst, wenn man irgendwann weiß, wie das Lied heißt. Die Stimmen werden sich entfernen, die Laterne wird noch einmal aufblitzen, dann wird die Melodie, Et la tête! – Et la tête! Alouette! – Alouette!, in der Tiefe zwischen des Stämmen verklingen, Silbe für Silbe, vielleicht hört man noch ein Lachen, und dann auch das nicht mehr, nur noch den Wind, wie er in den Föhrenwipfeln rauscht.
Traum, Choral, Buchfink
Vor einigen Tagen wieder ein klingender Traum. Es spielte in einem Kammermusikensemble, das man von der Straße her durch ein offenes Fenster erspähte, eine Fagottistin ein langsames Solo. Die Melodie ist einfach, in Dur, schmucklos, beginnt mit einer lang ausgehaltenen Note, welche die Solistin aus dem Mezzopiano wie aus einem gedämpften Hintergrund langsam crescendierend in den Vordergrund des musikalischen Geschehens einschwingen läßt. Ihr Ton ist sehr weich und näselnd, das allmählich vortretende Vibrato unaufdringlich und schmeichelnd. Die Melodie ist eine fallende Figur, gleitet aus dem ersten Ton hinab, fängt sich, schwebt wieder empor und erreicht eine vorläufige Kadenz; dann beginnt es noch einmal von vorn. Bei der Wiederholung bin ich schon ein paar Schritte weitergegangen, die Weise erklingt noch einmal neben oder hinter mir, indes ich das Fagott vor mir sehe, ein frühes Instrument aus merkwürdig hellem Holz.
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Später im Radio den Bachchoral „Jesus bleibet meine Freude“ in einer Klavierbearbeitung von Busoni.
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Indessen, draußen, vor dem Fenster ein Buchfink, weder nah noch fern, und ebenso an den Dingen beteiligt wie unbeteiligt, ahnungslos, freundlich, ein vergnügter Teil der Welt, der bei allem, was diesen Augenblick ausmacht, unersetzlich ist.
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Der Traum, der Choral, der Buchfink: Die Augen geschlossen, den Kopf zurückgelehnt und etwas zu Seite geneigt, nur noch im Ohr beheimatet sein. Gestern und morgen, das Jahr und der Tag, Nächte und Morgen, Stimmen und Blicke, das Nahe wie das Ferne kommen in einem einzigen einfachen Ort zusammen, in dem alles, was man nur denken kann, die Bedeutung reiner Freude hat und sich ganz leicht auflöst in den Kullertränen eines unaussprechlichen Glücks.
Turdus merula
Und wie die jubelnde Erlösung, die endlich blitzartig die Spannung einer monatelang aufgefluteten, unerträglich gewordenen Stille und Starre löst und in Klang verwandelt, der, in der Dämmerstunde süß aus der Dunkelheit hervorquellend, den letzten, mürbe gewordenen Schlaf durchströmt, die Fensterferne heranholt, nah und näher, innig, ein Fordern, farbig und schalmeienklar, und wie aus dem feuchten Inneren einer hartschaligen Frucht ins Erwachen hinein: die erste Amsel.
Kein Abend mehr
Die Stimmen damals waren wie von der Nacht eingefärbt. Dunkel. Weich von Samt oder von Wein. Gurgelnd von Geschichten, bei denen man die Stimme senken muß.
Ich erinnere mich an die Stimmen auf dem Balkon oder vor dem Wohnwagen. An Gespräche, die man nur mit diesen Stimmen führen konnte. An die selbstauferlegte Zurückhaltung. An die Töne, die sich wie feiner Rauch aus den Nüstern und Mündern der Sprechenden lösten.
Ich erinnere mich an die Sommernächte. Auf dem Balkon sitzen, ein Abendessen in der Dämmerung, noch ein Glas Limonade, bevor man ins Bett geschickt wurde, und die Stimmen, die kleiner wurden, kleiner und schmeichelnder im Maße die Nacht zunahm. Die Stille sog an diesen Stimmen, schliff und polierte sie, bis sie eine murmelnde Weichheit bekamen. Kerzenlaternen flackerten, Falter verbrannten knisternd, die Straßen waren groß und leer, leer und von Nacht angefüllt, und niemandem wäre es eingefallen, dagegen mit Lärm und Stimmgeschärf vorzugehen. Wenn meinen Bruder und mich die Lust ankam, die Nacht auf die Probe zu stellen mit Lautstärke und Tagesstimme, wurden wir unverzüglich zurechtgewiesen, psssssssst. Schschsche, machten die Eltern und fuhren fort, ihre nächtlich belegten Kehlkopfe rollen zu lassen. Kam man nochmal raus aus dem Bett, weil etwas drückte oder man Bauchschmerzen hatte oder Durst, so flackerten die Stimmen, wenn man das Wohnzimmer betrat, von draußen herein wie der Kerzenschimmer, ließen sich von diesem Schimmer tragen und von den Vorhängen verwehen, waren fast ein Flüstern, so leise, daß die Angst plötzlich kam: Sind die Eltern überhaupt noch da? Oder reden Geisterchen? Im Urlaub, wenn man beisammensaß, Eltern und Kinder, in früh hereingebrochener Südnacht, und alles so leise sprach, daß die Stimmen nie den Lichtrand der Lampe berührten, nie hinausdrangen in Wald und Schatten.
Heute gibt es keinen Abend mehr, keine Mittagsruhe, keine Nachtsamtigkeit, überhaupt Tageszeiten nicht. Die Stimmen sind überall und allzeit, abneds, nachts, egal, es wird geschrien als füchte man, daß einem die Stimme bald ausgeht. Als hätte man zuviel zu sagen für die eigene Lebenszeit, als müsse das alles noch, Nacht oder Tag, hinaus. Irgendwo übriggeblieben und wie Geister nirgends zu Hause, kennen diese Stimmen nur noch sich selbst und hören sich immer so an, als müßten sie sich selbst beweisen, daß sie noch da sind. In diese Stimmen prägt sich nichts ein, sie lassen sich nicht inspirieren, nicht dämpfen, nicht leiser drehen, da kann die Nacht noch so mild und schön sein, es kommt ihnen gar nicht der Gedanke, daß da noch etwas anderes ist, so etwas wie Welt, wie Schönheit, wie Uraltes, wie Ewiges. Eingesponnen in ihre eigene plärrende Banalität verstärken sie sich nur selbst, genügen sich selbst und klingen auch noch um Mitternacht so wie das Geschrei auf dem Viehmarkt, anmaßend, laut, selbstverliebt, ignorant.
Amseln
Sie sind früher als alles, was ist.
Sie waren schon immer vorher, ganz gleich, was als erstes kam. Sie waren.
Leuchtspuren in einem Sinnenraum, der weder dem Auge noch dem Ohr, noch irgendeinem Organ, das aus der schlafenden Mitte ins Dunkel hinauswächst, gehören. Sie waren vor allen Organen, vor jedem Blut. Tönernes Leuchten. Leuchtende Töne. Ertastbare Stimmen. Klang wie eine Zeichnung in Sand, Gesänge in Braille-Schrift.
Sie gehören zu einer anderen Zeit, die jedem Beginn vorausläuft. Langsam dem Anfang überlagert, werden sie irgendwann eins mit dem Hier, dem Jetzt, jedem denkbaren Später, wenn es erst denkbar ist. Unterm Fokus werden zwei Wege einer, ein Traum fällt in sich zusammen, ein Tuch zerreißt im Spiegel, und indem sich die Zeit entscheidet und in Vorher und Nachher zerfällt, erinnerst du dich, und die Stimmen nehmen sich selbst einen Namen.
Sie sind vor jedem Denken. Sie sind Erinnerung, die im Früheren von Späterem handelt, ihre eigene Zukunft. Wenn du sie hörst, zum erstenmal hörst, hast du sie schön gehört. Du hast sie gehört, bevor du sie hörtest. Wie lange? Seit du denken kannst.
Ein Klangbaum. Wie eine Eigenschaft des Dunkels selbst, Faltungen im Raum, ein knisternder Schleier, den eine Brise zu immer neuen, doch einander ähnlichen Klangkaskaden verreibt, bis jäher Augenaufschlag das Dunkel dem Dunkel zuschlägt und den Klang dem Klang, und die Stimmen sich aus der Weite der Straße heranschwingen müssen, nun fern und an ihrem Platz, wie alles.
Liegenbleiben, denkst du, liegenbleiben, bis der Eifer des Tages sie an sich nimmt und sie in den Bäumen verstummen.
Sæby (4)
Daß man allein sein konnte: Es war die Entdeckung der Stimmen. Sie sagten es ihm nicht. Aber er wußte es durch ihren singenden Mund. Das Licht dort draußen, wie es sich von Stamm zu dunklem Stamm fortpflanzte, es zog eine Grenze, kühler und härter als die Scheibe aus Glas, an der er seine Nase plattdrückte. Die Welt fiel in Dort und in Hier auseinander, der Raum wurde Zwilling, wurde Flügel, ein Doppeltgleiches, das etwas (ein Schreiten; Stimmen; Lichter, die sich von Baum zu Baum fortpflanzten) enthalten und zugleich aussperren konnte.
Sæby (3)
Weil die Stimmen niemandem gehören, konnten sie sich entfernen, ohne Angst zu bekommen.
Daher bedurften sie nicht des verzauberten Kindes.
Doch das Kind bedurfte ihrer.
Sæby (2)
Nie ist das Drinnen so sehr drinnen wie zu jener Stunde, nie das Draußen so sehr draußen. Das Fenster ist eine Grenze; nacht aber ist es auf beiden Seiten. Nacht ist es in aller Welt. Die Welt selbst ist Nacht.
Ob die Stimmen schon immer da waren? Haben sie ihn geweckt, ihn heraufgelockt aus bewußtlosem Schlaf?
Ja, sie zogen ihn herauf und ans Fenster und waren: draußen und fern. Von jenseits des Schlafes herangeweht. Nicht zu ihm gekommen. Nicht zu ihm. Aus unerkannten Fernen, nach verborgenen Plänen handelnd, waren sie dorthin gekommen, wo auch er sich zufällig aufhielt. Und er war in den Begrenzungen von Zimmer, Haus und Mauer gefangen, auch ins Eigene gesperrt. Sie wußten nichts von ihm. Sie werden auch nie etwas von ihm wissen, oder von irgendeinem andern, der am Fenster steht. Sie brauchen nichts. Sie gehören auch nicht zur Nacht, sie gehören nur: sich selbst. Und sie singen. Sie singen sich selbst zur Freude.
Sie füllen den Wald mit Klang und Wundern, entfernen sich, verlieren sich, verstummen und lösen sich auf in der Stofflichkeit der Nacht, noch einmal klingt es auf unterm den Mondfäden, in der Tiefe der Bäume, dann fallen sie zurück ins Dunkel, aus dem sie getreten waren, und das sie nun wieder hält und birgt. Und das Kind, die Nase am Fenster plattgedrückt, zum ersten Mal ist es allein.
Sæby (1)
(Alouette, gentille Alouette …)
erinnere dich an jene stunde.
erinnere dich an hütte, fenster, wald. an die dunkelheit, die gegen das fensterglas anstieg, an die dunkelheit, die kühl und ein wenig fremd unter deinen fingerspitzen kribbelte. an die andersseitige dunkelheit, den weiten raum, die verhüllten kiefern. an die dunkelheit, die den gesang barg, freigab und dann wieder in sich zurücknahm.
erinnere dich. du warst das. du standest am fenster, du preßtest die nase an die scheiben, du hörtest die stimmen, wie sie jenseits sangen und verklangen, die leuchtenden stimmen.
(Alouette, gentille Alouette …)
da beugtest du dich vor, atmetest einen nebel aus, stießest mit der nase gegen die nacht draußen und wußtest nicht ein noch aus vor schönheit. du hattest noch keine worte, alles stellte sich unmittelbar vor dir auf, wuchs dir
(Alouette, je te plumerai …),
direkt ans herz, und doch … und doch … (je te plumerai la tete …) fühltest du damals schon, daß du nicht ganz warst. daß die schönheit von dir getrennt, dir entfremdet war. wem hättest du es sagen können? im nebenraum, meilen entfernt, schliefen die eltern, denen du es am morgen erzähltest. aber hatten sie denn verstanden? hätten sie es dir deuten, hätten sie es dir auflösenkönnen? du fragtest sie nach dem lied, summtest es ihnen vor, glaubtest, es damit erworben und beherrscht zu haben, wenn du nur einen namenhättest. als könntest du dem schönen näherkommen, indem jemand das lied für dich sänge, wieder und wieder! als könntest du das schöne begreifen, wenn es wiederholbar geworden wäre … doch in demselben augenblick, da du
(Alouette? – Alouette!, Ooooh …),
da du begriffst, daß es schönheit gab, spürtest du schon ihre unerreichbarkeit und den schmerz, und auch, daß du allein sein würdest im angesicht des schönen. und später:
da erfandest du worte: behelf, meßgerät und prothese. aber näher würdest du ihm niemals kommen.