Straße, nachts

Die Nacht ist alterslos und hell ohne hell zu sein. eine Stille herrscht, die das Drinnen mit dem Draußen verbindet, als gäbe es keine Mauer, kein Fenster, als wäre das Zimmer eingebildet. Ein Traum, eingeschachtelt in einen weiteren Traum, eingeschachtelt in Nacht, zurückgeschachtelt in den imaginären Raum des Zimmers. Alles ist ausgekleidet mit klebriger Wärme, Laken, Matraze, die Luft über der Haut, die Innenwände des Atmens.
Ich komme von der Toilette zurück, da höre ich einen Knall, kurz und trocken wie ein Pistolenschuß, und mir scheint, es hat auf der Straße etwas geblitzt. Nur diesen einen Knall, dann herrscht wieder Stille, eine Stille, die sofort in das präzise Loch zurückströmt, das der Schall gerissen hat. Ich lausche. Der Knall setzt sich ins Ohr hinein fort, als energetisches Negativ wird die Stille punktförmig tiefer als sie selbst. Es ist kein Traum, aber es hat alle Qualitäten eines Traums: Jemand ist da draußen. Jemand schleicht da herum, hat vielleicht das Ohr an die Außenwand gelegt. Jemand, der Knallgeräusche macht, und der jetzt mucksmäuschenstill ist, als lauere er darauf, daß jemand reagiert. Ich trete ans Fenster, aber da ist nichts, nicht einmal ein Mond, nicht einmal Himmel. Die Straße ist wie ein weiteres Innen, aus dem kein Entkommen ist, sie wartet auf Schritte, darauf, daß jemand schreit, vielleicht.

Stillen (2)

Einmal habe ich eine vollkommene Stille gehört.
Nicht die beängstigende, hohle Stille in einer nächtlichen Straße, nicht das klaustrophobische Gefühl im Innern eines Tonstudios, auch nicht das von ständigem leisen Summen, Wispern, Brummen und Rauschen fernumrandete Schweigen einer Großstadt um drei Uhr morgens. Sondern eine Stille, die alle Geräusche ein für allemal gelassen aufgegeben hatte. Ich war aufgwacht, auf Toilette gegangen, und bevor ich mich wieder hinlegte, gab ich einem Sog nach, der mich ans Fenster führte, wo ich fröstelnd blieb, voller Entzücken lauschend. Noch nie hatte ich so etwas vernommen. So wenig, so intensiv: nichts. Das Schweigen nahm jedes Lauschen entgegen, und anstatt es wieder zum Lauschenden zurückzustoßen und jene wattierte Beklemmung des Abgeschottetseins auszulösen, die von schalldichten Räumen, aber auch von Ohrenstöpseln hervorgerufen wird, führte jenes nächtliche, in einem Eifeldorf am Waldrand eingezogene und nun, man kann es nicht anders sagen, waltende Schweigen die Wahrnehmung hinaus und spazieren, indem es den Raum und seine Weite über den Hügeln hörbar machte, ließ dem Ohr Raum und Freiheit und schenkte das müdgewordene Hören in Myriaden Verästelungen sich selbst und ihm die Freiheit zurück.
Steinerberg 11 001
So wie es war, schien dieses Schweigen unverletzlich, jedes etwaige Geräusch der Nacht – eine raschelnde Maus, ein fallendes Blatt, ein knackender Zweig – hätte es nur in seiner Vollkommenheit, in seiner Tiefe gestärkt, indem es darin aufgegangen und verschwunden wäre wie ein Tropfen in einem See. Aber es gab kein Geräusch. Es gab nur das Schweigen, dicht und elastisch wie Wassertiefe.
Nur im Nahen und Allernächsten nisteten winzige Geräusche. Ein Lufthauch zog den Gardinensaum übers Fensterbrett. Ein Strömchen verwirbelte am gekippten Fenster. Meine bloßen Füße rieben über die Teppichfasern. Und die Laken raschelten, als ich fröstelnd und beglückt wieder in Bett schlüpfte. Über diesem kleinen Kreis freundlicher Geräusche, die ich selbst hervorbrachte, über diesem behaglichen Innenraum, wachte draußen die große Stille, indem sie den Körper, meine Atemzüge, die flüsternden Gedanken und endlich den Schlaf umschloß wie ein mir eben zuteil gewordener Segen.

Stillen (1)

Wie ein Gestrüpp fühlt sich an, was sich in all den Jahren, seit mir das Schreiben zur Gewohnheit geworden, an Worten angesammelt hat. Nichts davon verschwindet ja wieder, jedes einzelne Wort, jedes Syntagma, jede Kongruenz, jede flektivische Konstruktion bleibt bewahrt. Und nicht nur bleibt sie bewahrt, bleibt sie als Gedächtnis auf Festplatten, CDs, Flashspeichern oder Servern, auf Briefpapier, in Kladden und unzähligen Notizzetteln: Ich kann den Rechner ausschalten, die Kladden schließen, die Zettel wegsperren, jedes Stück Papier in Schubladen verschwinden lassen: Die Worte bleiben da. Sie bleiben in mir. Schlimmer noch: Sie enthalten immer schon weitere Wörter als projizierte Möglichkeiten, junge Triebe am äußersten Rand des Wurzelfilzes. Warum überhaupt schreiben? Sollte ich nicht lieber etwas anderes tun? Ich habe das Gefühl, zu ersticken an all den Wörtern. Und mit jedem Wort, das ich schreibe, wird alles noch schlimmer. Ich fühle mich überwuchert, umwachsen von Gestrüpp, das mich lähmt, und mit jedem Wort verheddere ich mich noch heilloser. Ich gehe spazieren und formuliere. Ich sitze auf der Kloschüssel und wende Worte. Noch beim Einschlafen kann ich es nicht lassen, gibt es keine Stille, keine Freiheit von Wörtern. Keine Freiheit von Zeichen.
Es wird immer so weitergehen. Noch mehr und noch mehr Wörter. Manchmal verspüre ich den Impuls, das Gestrüpp mit Stumpf und Stiel auszurotten.
Ich sehne mich nach einem weißen Blatt.
Nach einem weichen, schwarzen Bleistift.
Ich sehne mich danach, Blatt und Bleistift zu betrachten: Wie der Schatten der Maisonne vom Stift schräg einen Schatten aufs Papier zieht; wie das Papier im flachen Licht rauh erscheint, wie mit feinem Salz besprenkelt; wie der Schatten um den Stift herumgleitet, während die geschärfte Graphitspitze aufschimmert, wieder erlischt. Die winzigen Holzsplitter. Der leuchtende Lack. Die scharfen Ränder des Papierbogens.
Im Nacken ein Buchfink, der nicht weiß, was er tut, wenn er singt, so daß ich es hören kann.
Ich sehne mich danach, zu schauen und zu hören und keinerlei Worte zu haben für diesen Augenblick.

30.5.2013

Ein plötzliches Aufschießen von Meisenstimmen verklingt ebenso schnell wieder, wie es aus dem Schweigen hervorgeplatzt ist, als wäre die Stille dieses Feiertagmorgens zu viel, zu mächtig, böte in der Dichtigkeit ihres Gewebes zu großen Widerstand, um sie länger als ein paar Takte Gezwitscher aufzuhalten. Die Stimmen erlahmen, die Geräusche verzagen. Selbst die Kirchenglocken probieren nur ein paar schwache Schläge, schweigen gleich wieder. Kein Fahrzeug, keine Motoren, keine Türen; jedes leise Geräusch klingt eingeschüchtert, hört sich selbst zu, findet sich zu laut, verstummt. Selbst der Wind geht auf Zehenspitzen. Versuche eines Morgens, wach zu werden. Selbst die Farben liegen verschämt umher, als hätten sie’s allzu bunt getrieben in der Nacht, als sie doch alle grau waren. Vielleicht haben sie zu vorwitzig geträumt. Zu guter letzt faßt sich der Buchfink ein Vogelherz und singt dem Morgen Mut zu.

Kein Abend mehr

Die Stimmen damals waren wie von der Nacht eingefärbt. Dunkel. Weich von Samt oder von Wein. Gurgelnd von Geschichten, bei denen man die Stimme senken muß.
Ich erinnere mich an die Stimmen auf dem Balkon oder vor dem Wohnwagen. An Gespräche, die man nur mit diesen Stimmen führen konnte. An die selbstauferlegte Zurückhaltung. An die Töne, die sich wie feiner Rauch aus den Nüstern und Mündern der Sprechenden lösten.
Ich erinnere mich an die Sommernächte. Auf dem Balkon sitzen, ein Abendessen in der Dämmerung, noch ein Glas Limonade, bevor man ins Bett geschickt wurde, und die Stimmen, die kleiner wurden, kleiner und schmeichelnder im Maße die Nacht zunahm. Die Stille sog an diesen Stimmen, schliff und polierte sie, bis sie eine murmelnde Weichheit bekamen. Kerzenlaternen flackerten, Falter verbrannten knisternd, die Straßen waren groß und leer, leer und von Nacht angefüllt, und niemandem wäre es eingefallen, dagegen mit Lärm und Stimmgeschärf vorzugehen. Wenn meinen Bruder und mich die Lust ankam, die Nacht auf die Probe zu stellen mit Lautstärke und Tagesstimme, wurden wir unverzüglich zurechtgewiesen, psssssssst. Schschsche, machten die Eltern und fuhren fort, ihre nächtlich belegten Kehlkopfe rollen zu lassen. Kam man nochmal raus aus dem Bett, weil etwas drückte oder man Bauchschmerzen hatte oder Durst, so flackerten die Stimmen, wenn man das Wohnzimmer betrat, von draußen herein wie der Kerzenschimmer, ließen sich von diesem Schimmer tragen und von den Vorhängen verwehen, waren fast ein Flüstern, so leise, daß die Angst plötzlich kam: Sind die Eltern überhaupt noch da? Oder reden Geisterchen? Im Urlaub, wenn man beisammensaß, Eltern und Kinder, in früh hereingebrochener Südnacht, und alles so leise sprach, daß die Stimmen nie den Lichtrand der Lampe berührten, nie hinausdrangen in Wald und Schatten.

Heute gibt es keinen Abend mehr, keine Mittagsruhe, keine Nachtsamtigkeit, überhaupt Tageszeiten nicht. Die Stimmen sind überall und allzeit, abneds, nachts, egal, es wird geschrien als füchte man, daß einem die Stimme bald ausgeht. Als hätte man zuviel zu sagen für die eigene Lebenszeit, als müsse das alles noch, Nacht oder Tag, hinaus. Irgendwo übriggeblieben und wie Geister nirgends zu Hause, kennen diese Stimmen nur noch sich selbst und hören sich immer so an, als müßten sie sich selbst beweisen, daß sie noch da sind. In diese Stimmen prägt sich nichts ein, sie lassen sich nicht inspirieren, nicht dämpfen, nicht leiser drehen, da kann die Nacht noch so mild und schön sein, es kommt ihnen gar nicht der Gedanke, daß da noch etwas anderes ist, so etwas wie Welt, wie Schönheit, wie Uraltes, wie Ewiges. Eingesponnen in ihre eigene plärrende Banalität verstärken sie sich nur selbst, genügen sich selbst und klingen auch noch um Mitternacht so wie das Geschrei auf dem Viehmarkt, anmaßend, laut, selbstverliebt, ignorant.

Bad Suderode

Von einer Reise zu berichten. Wenn ich die Augen schließe, ein Bahnhof. Kopfsteinpflaster im Regen, Backstein, Weidenröschen zwischen aufgeplatzen Steinen. Wasser pladdert aus einem Rohr auf die Straße. Ein Fenster, das jünger ist als alles außenrum, eine weiße Gardine hinter den Scheiben, rein wie eine Kapitulationsflagge. Am Fuß des Gemäuers ein Absatz aus Beton, eine Art flacher Rampe, darin eingelassen zwei Klappen aus Eisen. In der Verlängerung des Gebäudes leere Flächen, leerer Himmel, mehr Weidensröschen, eine Reihe stilettartiger Pappeln. Ich denke mir einen Güterwaggon dazu, auf einem Abstellgleis, einen rostroten Güterwaggon mit schweren ölschwarzen Puffern. Einen Kohleberg dazu. Schuttberge. Züge fahren hier schon lange nicht mehr. Die Schrift über dem Eingang abgeblättert, der Ortsname unleserlich. Aber: ein knallrotes, frisches „DB“. Die Glastür des Eingangs führt in staubige Blindheit, die schrägen Holzgriffe der Schwingtür sind angenehm abgegriffen, warm fast, als hätten sie die Hast so vieler Hände gespeichert. Man möchte hier bleiben, es sich gemütlich machen irgendwo und dem Regen zuhören, wie er von den Stromleitungen tropft, gegen die Scheiben mit der weißen Gardine schlägt, durch die Regenrinne rieselt. In der ferne rauchen die Hügel. Die Gleise schimmern in ihrem Bett aus Porphyr. Die Leitungen schwingen. Man kann von hier nirgendwohin, also bleibt man. Gegenüber im Garten leuchtet buntes Kinderspielzeug.

stille

heute morgen wieder laufen, in einem wunderbar dämmrigen, weißtröpfelnden zauberwald. keine tiere. die vögel wie eingeschüchtert vom schnee, die rehe ins herz der dunkelheit zurückgewandert. ich ließ die stirnlampe aus. so sah man besser den weg. zur zeit liegen überall holzstöße an den wegesrand gebaut, holz, das der letzte sturm geworfen hat. in der feuchtigkeit riecht es wie tabak und mais.
später ist der lärm der straßen wie ein schock. obwohl man es doch kennt, ist man fassungslos. wie ist das nach soviel stille nur möglich? wo kommen die alle her? weiß denn keiner außer mir, wie still es war im wald?
spätesten nach dusche und frühstück, wenn ich wieder auf dem fahhrrad sitze oder mich im menschengeschiebe in den zug drücke, ist es wieder normal.
als sei ich nie im wald gewesen. als gäbe es diesen wald gar nicht, dieses nasse schweigen.