Vom richtigen Strafmaß (Sallust, Catilina 51, 1-8)

Allen Menschen, ihr Herren Senatoren, die über verworrene Dinge beratschlagen, ziemt es, frei von Haß, Liebe, Zorn und Mitleid zu sein. Nicht leicht sieht der Geist die Wahrheit, wenn solche Gefühle ihn behindern, und es hat noch keiner gleichzeitig seinen Leidenschaften und dem gemeinsamen Anliegen gedient. Sobald man den Geist anspannt, ist er stark; wenn ihn die Leidenschaft besitzt, vermag er nichts. Ich könnte jetzt eine Menge Fälle erwähnen, ihr Herren Senatoren, wo Könige und Völker sich von Zorn oder Mitleid haben schlecht beraten lassen. Aber ich will lieber davon sprechen, wie unsere Vorfahren gegen ihre Herzensgefühle richtig und in der Ordnung gehandelt haben. Im Makedonischen Krieg, den wir mit dem König Perses geführt haben, war das große und prächtige Rhodos, eine Stadt, die durch die Unterstützung des Römischen Volkes aufgeblüht war, uns gegenüber treulos und feindlich gesinnt. Als aber nach Beendigung des Krieges über die Rhodier beratschlagt wurde, entließen unsere Vorfahren sie unbestraft, damit man hinterher nicht würde sagen können, der Krieg sei mehr wegen Reichtümern als wegen Rechtsverletzungen angefangen worden. Genauso war es in allen Punischen Kriegen: Während die Karthager im Frieden und zu Zeiten von Waffenruhe viele Greueltaten verübt hatten, taten die Römer selbst niemals etwas ähnliches: Sie fragten mehr nach dem, was ihrer würdig sei, als danach, was den Karthagern von Rechts wegen hätte widerfahren dürfen. So müßt auch ihr Sorge dafür tragen, ihr Herren Senatoren, daß die Verbrechen des Publius Lentulus und der anderen bei euch nicht mehr Gewicht haben als eure Würde, und daß ihr nicht euern Zorn mehr pflegt als euern Ruf. Wenn sich nämlich eine angemessene Strafe für die Verbrechen dieser Leute finden läßt, dann befürworte ich einen neuen Beschluß; wenn aber die Schwere des Verbrechens den Einfallsreichtum aller übersteigt, muß man meiner Ansicht nach gebrauchen, was die Gesetze hergeben.

(Die Caesarrede aus Sallusts Catilina wird gern in der Schule gelesen, daher hier eine Warnung an Schüler: Die vorliegende Übersetzung ist sehr frei und als Lösung für Hausaufgaben nicht geeignet!)

Omnis homines, patres conscripti, qui de rebus dubiis consultant, ab odio, amicitia, ira atque misericordia vacuos esse decet. 2 Haud facile animus verum providet, ubi illa officiunt, neque quisquam omnium lubidini simul et usui paruit. 3 Ubi intenderis ingenium, valet; si lubido possidet, ea dominatur, animus nihil valet. 4 Magna mihi copia est memorandi, patres conscripti, quae reges atque populi ira aut misericordia inpulsi male consuluerint. Sed ea malo dicere, quae maiores nostri contra lubidinem animi sui recte atque ordine fecere. 5 Bello Macedonico, quod cum rege Perse gessimus, Rhodiorum civitas magna atque magnifica, quae populi Romani opibus creverat, infida et advorsa nobis fuit. Sed postquam bello confecto de Rhodiis consultum est, maiores nostri, ne quis divitiarum magis quam iniuriae causa bellum inceptum diceret, inpunitos eos dimisere. 6 Item bellis Punicis omnibus, cum saepe Carthaginienses et in pace et per indutias multa nefaria facinora fecissent, numquam ipsi per occasionem talia fecere: magis, quid se dignum foret, quam quid in illos iure fieri posset, quaerebant. 7 Hoc item vobis providendum est, patres conscripti, ne plus apud vos valeat P. Lentuli et ceterorum scelus quam vostra dignitas neu magis irae vostrae quam famae consulatis. 8 Nam si digna poena pro factis eorum reperitur, novum consilium adprobo; sin magnitudo sceleris omnium ingenia exsuperat, his utendum censeo, quae legibus conparata sunt.

Philemon & Baucis (Ovid, Met. VII 707-724)

„Priester zu sein, das ist unser Wunsch, euern Tempel zu hüten;
und, nachdem wir vereint des Lebens Spanne durchmessen,
daß uns vereint auch das Stündlein schlage, und ich nicht der Gattin
Grabmal erblicken muß, noch daß mich begraben muß jene.“
Wirklichkeit folgte dem Wunsch: So hüteten beide den Tempel,
Zeit ihres dauernden Lebens; bis daß sie, gebeugt schon vom Alter,
zufällig einmal standen am Fuße der heiligen Stufen,
eingedenk seiner Geschichte, und Baucis Philemon Blätter
knospen, und Philemon sah, wie Baucis mit Laub sich bedeckte.
Während die Zwillingsgesichter schon schwanden in wachsenden Kronen,
gaben sie Worte einander, solang sie noch konnten, „Ach, Lieber!“
sprachen zugleich sie „Leb wohl!“, und zugleich bedeckt die verhüllten
Lippen der Stamm: Bis heute zeigt dort der Bewohner Bithyniens
jene aus zwiefachem Leib gesproßten benachbarten Bäume.

„esse sacerdotes delubraque vestra tueri
poscimus, et quoniam concordes egimus annos,
auferat hora duos eadem, nec coniugis umquam
busta meae videam, neu sim tumulandus ab illa.“
vota fides sequitur: templi tutela fuere,
donec vita data est; annis aevoque soluti
ante gradus sacros cum starent forte locique
narrarent casus, frondere Philemona Baucis,
Baucida conspexit senior frondere Philemon.
iamque super geminos crescente cacumine vultus
mutua, dum licuit, reddebant dicta „vale“ que
„o coniunx“ dixere simul, simul abdita texit
ora frutex: ostendit adhuc Thyneius illic
incola de gemino vicinos corpore truncos.

Parsen Sie bitte diesen Satz

Ego enim adsentior eorum quae posuisti alterum alteri consequens esse, ut, quem ad modum, si, quod honestum sit, id solum sit bonum, sequatur vitam beatam virtute confici, sic, si vita beata in virtute sit, nihil esse nisi virtutem bonum.

Knifflig, was? Dies ist einer von diesen Sätzen aus der Feder des Meisters Cicero, bei dem man bei der Lektüre der Periode das dumme Gefühl hat, nach Ab- und Auftauchen aus der Verschachtelung nicht wieder in den Hauptsatz aufgestiegen zu sein, sich mithin irgendwo auf halbem Wege verheddert zu haben. Vielleicht hilft da eine Klammerung (zur besseren Übersicht sind die Klammern numeriert):

Ego enim adsentior eorum quae posuisti alterum alteri consequens esse, [1ut, [2quem ad modum, [3si, [4quod honestum sit4], id solum sit bonum3], sequatur2] [3vitam beatam virtute confici3], sic (sequatur)1], [3si vita beata in virtute sit3], [2nihil esse nisi virtutem bonum.2]

Im sogenannten Einrückverfahren:

ut
    quemadmodum
         si
             quod honestum sit
         id solum sit bonum
    sequatur
         vitam beatam virtute confici
sic (sequatur)
         si vita beata in virtute sit
    nihil esse nisi virtutem bonum

Eine besondere Schwierigkeit, die Kenner allerdings für eine besondere Raffinesse und stilistische Geschmeidigkeit des berühmten Redners zu halten geneigt sind, besteht darin, daß im letzten si-Satz die Reihenfolge der Einbettung umgekehrt wird, so daß, ehe der sic (sequatur)-Satz zu Ende geführt, ein weiterer Nebensatz eingeschoben wird. (Sie sehen, man fängt unwillkürlich an, diesen Stil zu kopieren.) Eine weitere Schwierigkeit liegt in der Auslassung ausgerechnet des Verbs im obersten Gliedsatz, also im ut-Satz, das aus dem Vergleichssatz (quemadmodum … ) in der Parallele ergänzt werden muß.

Versuchen wir eine erste – zwar extrem wörtliche – Übersetzung, die aber die Verschachtelung eins zu eins nachzeichnet:

Ich stimme nämlich dem zu, was du behauptet hast, daß nämlich das eine aus dem anderen folge, so daß so, wie, wenn, was anständig sei, allein gut sei, folge, daß das glückliche Leben durch die Tugend erreicht wird, so auch, wenn das glückliche Leben in der Tugend liege, daß nichts gut sei außer der Tugend.

Mh. so daß so, wie, wenn, was – das ist noch kein Deutsch. Die etwas schwerfällige (tut mir leid, Cicero) id … quod-Konstruktion kann man auf Deutsch prima durch eine Nominalisierung ersetzen (das, was anständig ist = das Anständige. Durch Ergänzung des zu Ergänzenden, sowie ein paar Verdeutlichungen der Vergleichskonstruktion wird es noch durchsichtiger:

[…] so daß in der gleichen Weise, wie daraus, daß das Anständige allein gut sei, folgt, daß das glückliche Leben durch die Tugend erreicht wird, daraus auch folgt, daß, wenn das glückliche Leben in der Tugend liegt, nichts gut ist außer der Tugend.

Man ist im Deutschen außerdem gewohnt, die so … wie-Konstruktion umgekehrt aufzuziehen als es im Lateinischen üblich ist. Also:

[…] so daß daraus, daß das Anständige allein gut ist, ebenso folgt, daß das glückliche Leben durch die Tugend erreicht wird, wie auch, daß, wenn das glückliche Leben in der Tugend liegt, nichts gut ist außer der Tugend.

Nominalisierungen haben den Vorteil, daß sie ganze Nebensatzkonzepte in einem einzigen Wort bündeln, sich besser in einem komplexen Gedanken unterbringen lassen und also beim Lesen auch leichter interpretiert werden können. Das Verfahren hat aber seine Grenzen:

[…] so daß aus dem Alleinanspruch des Anständigen auf das Gute ebenso folgt, daß das glückliche Leben durch die Tugend erreicht wird, wie auch, daß die Tugendbasiertheit des glücklichen Lebens den Alleinanspruch der Tugend auf das Gute begründet.

(Die Stelle ist in Tusc. 5.21 zu finden. Es geht um die Frage, ob die Tugend allein zum glücklichen Leben ausreicht.)

Foedus antiquum (Livius, Ab Urbe Condita I, 24)

Zufällig gab es in den zwei Heeren Drillingsbrüder, im gleichen Alter und ungefähr gleich an Kraft. Daß es Horatier und Curatier waren, steht fest, und es gibt wohl keine Geschichte aus alter Zeit, die berühmter wäre. Dennoch bleibt selbst bei dieser so bekannten Überlieferung unsicher, zu welchem Volk die Horatier, zu welchem die Curatier gehörten. Die Autoren schwanken zwischen beiden; die die Horatier für römisch halten, sind aber zahlreicher, und ich bin geneigt, ihnen darin zu folgen. Die Könige verhandeln mit den Drillingen, daß sie jeweils um ihr Vaterland mit dem Schwert kämpfen; welcher Seite der Sieg zufalle, dort solle die Herrschaft liegen. Man hat keine Einwände; Zeit und Ort werden vereinbart. Vor dem Kampfe wird ein Vertrag zwischen Römern und Albanern geschlossen, daß der, dessen Bürger in dem Kampf siegreich seien, über das andere Volk ungehindert herrschen solle. Es wurden noch verschiedene andere Verträge geschlossen, aber alle auf die gleiche Weise. Folgender Vorgang ist uns überliefert, und es ist dies das früheste Zeugnis für die Schließung eines völkerrechtlichen Vertrags, das wir haben. Der Fetialis fragte Tullus mit diesen Worten: Heißest du mich, König, mit dem Pater Patratus des albanischen Volks einen Vertrag zu schließen? Und als der König es befahl: Ich fordere Gras von dir, König! Der König erwiderte: Hole reines Gras. Der Fetialis brachte frisches Gras von der Burg. Dann fragte er den König mit folgenden Worten: Mein König, machst du mich zum königlichen Boten des römischen Volks der Quiriten, zusammen mit meinen Werkzeugen und meinen Gehilfen? Der König antwortete: Wenn es ohne Schaden für mich und das römische Volk der Quiriten ist, tue ich es. Der Fetialis war M. Valerius; dieser ernannte Sp. Fusius zum Pater Patratus, indem er dessen Kopf und Haupthaar mit einem Olivenzweig berührte. Der Pater Patratus hat die Aufgabe, einen Eid zu leisten (patrare), das heißt, einen Vertrag zu weihen; dies vollbrachte er mit vielen Worten, deren langer, umständlicher Wortlaut die Mühe der Wiedergabe nicht lohnt. Nachdem die Vertragsbedingungen verlesen worden waren, sagte er: Höre, Iuppiter, höre, Pater Patratus des Volks der Albaner, höre, albanisches Volk! Von den Bedingungen dieses Vertrags, wie sie öffentlich zuerst und zuletzt von Holz oder Wachs abgelesen ohne Arglist, und wie sie hier und heute richtig verstanden worden, will das römische Volk nicht abweichen. Wenn das römische Volk zuerst nach öffentlichem Beschluß mit Arglist abweichen sollte, dann soll Jupiter das römische Volk so treffen, wie ich hier und heute dieses Schwein treffen werde; und dein Schlag soll umso schrecklicher sein, wie du schrecklicher schlagen kannst und mächtiger bist. Sowie er das gesagt hatte, schlug er ein Schwein mit einem Kieselstein nieder. Die Albaner schworen ihrerseits mit ihren eigenen Formeln, durch ihren eigenen Herrscher und ihre Priester den Eid.

Forte in duobus tum exercitibus erant trigemini fratres, nec aetate nec viribus dispares. Horatios Curiatiosque fuisse satis constat, nec ferme res antiqua alia est nobilior; tamen in re tam clara nominum error manet, utrius populi Horatii, utrius Curiatii fuerint. Auctores utroque trahunt; plures tamen invenio qui Romanos Horatios vocent; hos ut sequar inclinat animus. Cum trigeminis agunt reges ut pro sua quisque patria dimicent ferro; ibi imperium fore unde victoria fuerit. Nihil recusatur; tempus et locus convenit. Priusquam dimicarent foedus ictum inter Romanos et Albanos est his legibus ut cuiusque populi cives eo certamine vicissent, is alteri populo cum bona pace imperitaret. Foedera alia aliis legibus, ceterum eodem modo omnia fiunt. Tum ita factum accepimus, nec ullius vetustior foederis memoria est. Fetialis regem Tullum ita rogavit: „Iubesne me, rex, cum patre patrato populi Albani foedus ferire?“ Iubente rege, „Sagmina“ inquit „te, rex, posco.“ Rex ait: „Pura tollito.“ Fetialis ex arce graminis herbam puram attulit. Postea regem ita rogavit: „Rex, facisne me tu regium nuntium populi Romani Quiritium, vasa comitesque meos?“ Rex respondit: „Quod sine fraude mea populique Romani Quiritium fiat, facio.“ Fetialis erat M. Valerius; is patrem patratum Sp. Fusium fecit, verbena caput capillosque tangens. Pater patratus ad ius iurandum patrandum, id est, sanciendum fit foedus; multisque id verbis, quae longo effata carmine non operae est referre, peragit. Legibus deinde, recitatis, „Audi“ inquit, „Iuppiter; audi, pater patrate populi Albani; audi tu, populus Albanus. Ut illa palam prima postrema ex illis tabulis cerave recitata sunt sine dolo malo, utique ea hic hodie rectissime intellecta sunt, illis legibus populus Romanus prior non deficiet. Si prior defexit publico consilio dolo malo, tum ille Diespiter populum Romanum sic ferito ut ego hunc porcum hic hodie feriam; tantoque magis ferito quanto magis potes pollesque.“ Id ubi dixit porcum saxo silice percussit. Sua item carmina Albani suumque ius iurandum per suum dictatorem suosque sacerdotes peregerunt.

Hildegard von Bingen, Liber Scivias, Visio Prima

Vidi quasi montem magnum ferreum colorem habentem, et super ipsum quendam tantae claritatis sedentem, ut claritas ipsius visum meum reverberaret, de quo ab utraque parte sui lenis umbra velut ala mirae latitudinis et longitudinis extendebatur. Et ante ipsum ad radicem eiusdem montis quaedam imago undique plena oculis stabat, cuius nullam humanam formam prae ipsis oculis discernere valebam, et ante istam imago alia puerilis aetatis, pallida tunica sed albis calceamentis induta, super cuius caput tanta claritas de eodem super montem ipsum sedente descendit ut faciem eius intueri non possem. Sed ab eodem qui super montem illum sedebat multae viventes scintillae exierunt, quae easdem imagines magna suavitate circumvolabant. In ipso autem monte quasi plurimae fenestellae videbantur, in quibus velut capita hominum quaedam pallida et quaedam alba apparuerunt.

Ich sah gleichsam einen großen Berg in der Farbe von Eisen, und darüber schwebend, so hell, daß ihr Licht meine Augen blendete, eine Erscheinung, zu deren Seiten sich ein leichter Schatten wie Flügel von wundersamer Länge und Breite erstreckte. Und davor, am Fuß des Berges, stand eine Gestalt, die über und über von soviel Augen bedeckt war, daß ich keine menschliche Form darin ausmachen konnte; und vor dieser Gestalt eine weitere, knabenhaften Alters, angetan mit einem bleichen Mantel, doch hellweißen Schuhen, über deren Kopf eine solche Helligkeit von jener anderen Erscheinung über dem Berg herabfiel, daß ich ihr Gesicht nicht anschauen konnte. Aber von der Erscheinung über dem Berg gingen viele lebhafte Funken aus, die aufs angenehmste um diese Gestalten herumflogen. Im Berg selbst aber waren zahlreiche Öffnungen wie Fensterchen sichtbar, in denen, die einen bleich, die anderen weiß, gleichsam die Häupter von Menschen auftauchten.

Privatsphäre (Sen. Ep. III, 25)

„Handle stets so, sagt [Epikur], als ob Epikur dir dabei zusähe.“ Ohne Zweifel ist es nützlich, sich selbst einen Aufpasser zur Seite zu stellen und jemandem zu haben, mit dem man rechnen muß, den man sich als Mitberater bei den eigenen Entschlüssen vorstellen kann. Am besten wäre es freilich, so zu leben wie unter den wachsamen Augen eines stets anwesenden vortrefflichen Menschen; doch bin ich schon damit zufrieden, wenn du in allem so handelst, als sähe jemand Beliebiges zu. Alles Schlechte empfiehlt uns das Alleinsein. Wenn du schon so große Fortschritte gemacht hast, daß du dir eine gewisse Ehrerbietung zollen magst, kannst du den Lehrmeister wegschicken: Bis es so weit ist, begib dich in die Obhut von Leuten, deren Vortrefflichkeit unbestritten ist – Catos oder Scipios oder Laelius’ oder irgendeines anderen, durch dessen Einschreiten selbst verwahrloste Menschen ihre Fehler unterdrücken würden. Das tu, bis du selbst einer geworden bist, in dessen Gegenwart du keinen Fehler zu machen wagst. Wenn du das geschafft hast und bei dir eine ehrfurchtsvolle Haltung dir selbst gegenüber eingetreten ist, will ich dir zugestehen, was auch Epikur nahelegt: „Besonders dann ziehe dich in dich selbst zurück, wenn du gezwungen bist, dich in einer Menge aufzuhalten.“ Du mußt dich von den Vielen unterscheiden, solange es noch nicht gut für dich ist, dich zu dir selbst zurückzuziehen. Schau dir die Leute an: Es gibt keinen, für den es nicht vorteilhafter wäre, bei irgendeinem beliebigen anderen zu sein, als bei sich selbst. „Besonders dann ziehe dich in dich selbst zurück, wenn du gezwungen bist, dich in einer Menge aufzuhalten.“ – ja, wenn du ein guter Mensch bist, wenn du ruhig bist und besonnen! Andernfalls solltest du dich vor dir selbst in die Menge zurückziehen: Denn bei dir selbst bist du dann einem schlechten Menschen allzu nahe. Lebe wohl.

„Sic fac“ inquit „omnia tamquam spectet Epicurus.“ Prodest sine dubio custodem sibi imposuisse et habere quem respicias, quem interesse cogitationibus tuis iudices. Hoc quidem longe magnificentius est, sic vivere tamquam sub alicuius boni viri ac semper praesentis oculis, sed ego etiam hoc contentus sum, ut sic facias quaecumque facies tamquam spectet aliquis: omnia nobis mala solitudo persuadet. [6] Cum iam profeceris tantum ut sit tibi etiam tui reverentia, licebit dimittas paedagogum: interim aliquorum te auctoritate custodi – aut Cato ille sit aut Scipio aut Laelius aut alius cuius interventu perditi quoque homines vitia supprimerent, dum te efficis eum cum quo peccare non audeas. Cum hoc effeceris et aliqua coeperit apud te tui esse dignatio, incipiam tibi permittere quod idem suadet Epicurus: „tunc praecipue in te ipse secede cum esse cogeris in turba“. [7] Dissimilem te fieri multis oportet, dum tibi tutum [non] sit ad te recedere. Circumspice singulos: nemo est cui non satius sit cum quolibet esse quam secum. „Tunc praecipue in te ipse secede cum esse cogeris in turba“ – si bonus vir , si quietus, si temperans. Alioquin in turbam tibi a te recedendum est: istic malo viro propius es. Vale.

„Wenn es etwas gibt, von dem Sie nicht wollen, daß es irgend jemand erfährt, sollten Sie es vielleicht ohnehin nicht tun.“ (Eric Emerson Schmidt, Vorsitzender von Google Inc.)

Zur Nacht


Est prope Cimmerios longo spelunca recessu,
mons cavus, ignavi domus et penetralia Somni,
quo numquam radiis oriens mediusve cadensve
Phoebus adire potest: nebulae caligine mixtae
exhalantur humo dubiaeque crepuscula lucis.
non vigil ales ibi cristati cantibus oris
evocat Auroram, nec voce silentia rumpunt
sollicitive canes canibusve sagacior anser;
non fera, non pecudes, non moti flamine rami
humanaeve sonum reddunt convicia linguae.
muta quies habitat; saxo tamen exit ab imo
rivus aquae Lethes, per quem cum murmure labens
invitat somnos crepitantibus unda lapillis.
ante fores antri fecunda papavera florent
innumeraeque herbae, quarum de lacte soporem
Nox legit et spargit per opacas umida terras.
ianua, ne verso stridores cardine reddat,
nulla domo tota est, custos in limine nullus;
at medio torus est ebeno sublimis in antro,
plumeus, atricolor, pullo velamine tectus,
quo cubat ipse deus membris languore solutis.
hunc circa passim varias imitantia formas
Somnia vana iacent totidem, quot messis aristas,
silva gerit frondes, eiectas litus harenas.


Nah dem Kimmerischen Lande da teufen geräumige Grotten;
Hohl ist der Berg: darinnen die Heimstatt des unregen Schlafes.
Nie darf dort mit dem Licht – nicht morgens, nicht mittags, nicht abends –
Phoebus zur Tür herein. Vermischt mit Dampfschwaden steigen
Nebel vom Boden auf, und es herrscht ein unklares Zwielicht.
Niemals begrüßt dort mit schmuckem Schnabel den Anbruch des Tages
stimmgewaltig ein Hahn, nicht brechen mit Bellen und Kläffen
reizbare Hunde das Schweigen, noch, schärfer als Hunde, der Ganter.
Wild nicht und Vieh nicht und auch nicht der Wind in den Zweigen der Bäume
gibt einen Laut von sich, und erst recht nicht das Zanken von Menschen.
Lautlose Ruhe herrscht; nur im hintersten Innern des Felsens
quillt mit Gemurmel hervor Vergessen bringendes Wasser,
plätschert die Welle den Schlummer herbei mit dem Rieseln von Kieseln.
Fruchtbar blüht der Mohn vor den Toren der Höhle, und zahllos
wachsen da Arten von Kräutern, aus deren Milchsaft den Schlummer
ausliest die taufeuchte Nacht und ihn streut übers Dunkel der Länder.
Daß nicht die Tür in den drehenden Angeln qietsche beim Öffnen,
fehlt sie gleich ganz dem Haus, auch steht auf der Schwelle kein Wächter.
Doch in der schwarzdunklen Mitte, da streckt sich erhaben ein Lager,
federflaumig und schwarz, bedeckt mit den Daunen von Küken.
Dort ruht der Schlaf in Person, dort reckt er träge die Glieder.
Um ihn liegen verstreut die Bilder eitler Gesichte,
so viele Träume versammelt wie Ähren zur Ernte die Felder
tragen, wie Wälder an Laub, wie der Strand hat an Körnern des Sandes.

Ovid, Met. XI 592–615

Gruß

Haec tibi cum subeant, absim licet, omnibus annis
     ante tuos oculos, ut modo uisus, ero.
Ipse quidem certe cum sim sub cardine mundi
     qui semper liquidis altior extat aquis,
te tamen intueor, quo solo pectore possum,
     et tecum gelido saepe sub axe loquor.
Hic es et ignoras et ades celeberrimus absens
     inque Getas media iussus ab Vrbe uenis.
Redde uicem et, quoniam regio felicior ista est,
     istic me memori pectore semper habe.

Mag ich auch Jahr um Jahr fehlen – indem dir das alles zu Sinn kommt,
     werd ich vor deinem Blick stehn wie noch eben geschaut.
Sicher werd ich auch selbst, von unter der Angel des Globus,
     die übers klare Meer höher stets aufragt empor,
immer dich so anschaun wie ich’s kann: mit dem Herzen; und mit dir
     redend verbunden sein, unter der Achse, im Eis.
Ahnungslos bist du hier, bist abwesend häufiger Gast mir,
     eilst auf meinen Ruf gleich zu den Geten aus Rom.
Tu mir ein Gleiches, du, und da du im froheren Land bist,
     halte mich dort immer fest in deiner liebenden Brust.

(Ex Ponto II,10,43-52

Diaulus

Chirurgus fuerat, nunc est uispillo Diaulus:
     coepit quo poterat clinicus esse modo.

Ehemals Feldscher, verdingt sich Diaulus fortan als Bestatter.
     Beugt er sich jetzt übers Bett, pflegt er sein wahres Talent.

(Mart. 1,30)

Nuper erat medicus, nunc est uispillo Diaulus:
     quod uispillo facit, fecerat et medicus.

Neulich war er noch Arzt, neuerdings ist Diaulus Bestatter.
     Was als Bestatter gelingt, glückte ihm auch schon als Arzt.

(Mart. 1,47)

Hausaufgaben

Amüsant: An den Suchbegriffen, mit denen meine Seite gefunden wird, läßt sich manchmal ablesen, welcher lateinische Text gerade besonders oft als Hausaufgabe gegeben wird: Letzte Woche war es Seneca über die Zeit (ita fac, mi Lucili, Sie kennen das sicher noch) und eine Passage aus der Ars von Ovid. Heute dagegen scheinen sich mehrere Schüler an Martial 5,58 abzumühen.

Da kann man nur viel Erfolg wünschen.

Martial, 5,58

Morgen, sagst du, Postumus, immer, werdest du leben:
sage mir, Postumus, wann ist dieses Morgen denn da?
Ach, wie fern ist dies Morgen! Wo ist es? Wo soll man es suchen?
Ob bei den Parthern es sich oder Armeniern versteckt?
Dieses Morgen hat schon das Alter von Priam’ und Nestor.
Sag’ mir, für welchen Betrag steht dieses Morgen zum Kauf?
Morgen erst? Schon ist’s zu spät, mein Postumus, heute zu leben:
Weise, Postumus ist, welcher schon gestern gelebt.

Martial, 5,58

Cras te victurum, cras dicis, Postume, semper:
dic mihi, cras istud, Postume, quando venit?
Quam longe cras istud! ubi est? aut unde petendum?
Numquid apud Parthos Armeniosque latet?
Iam cras istud habet Priami vel Nestoris annos.
Cras istud quanti, dic mihi, possit emi?
Cras vives? Hodie iam vivere, Postume, serum est:
ille sapit quisquis, Postume, vixit heri.

Martial III, 87

Narrat te rumor, Chione, numquam esse fututam
    atque nihil cunno purius esse tuo.
Tecta tamen non hac, qua debes, parte lauaris:
    si pudor est, transfer subligar in faciem.

Chione, man sagt, es habe gefickt dich noch keiner,
    und nichts Reineres gäb’s, als deine Möse, weithin.
Trotzdem wäschst du dich nicht an der Stelle, wo du es müßtest:
    Wenn du Schamgefühl hast, häng dir den Rock
vor’s Gesicht.

Seneca Ep. II, 1, 3–5

Nimm trotzdem, wenn du magst, eine Hilfe an, mit der du dich wappnen kannst. Die Dinge, mein Lucilius, die uns Angst einjagen, sind zahlreicher als die, welche uns wirklich zusetzen, und oft quälen wir uns nicht der Tatsachen wegen, sondern aus bloßem Glauben. Ich spreche jetzt nicht zu dir mit der Stimme des Stoikers, sondern einer milderen; wir sagen ja, daß alles, was uns Stöhnen und Seufzen hervorruft, in Wahrheit leicht sei und verachtenswert. Lassen wir diese großen aber, ihr guten Götter!, wahren Worte einmal beiseite: Ich lege Dir nahe, dich nicht vor der Zeit zu grämen, da doch das, was du als bevorstehend fürchtest, vielleicht niemals eintreten wird, ganz sicher aber noch nicht eingetreten ist. Manches quält uns also mehr als nötig, manches quält uns früher als nötig, und manches quält uns ganz unnötigerweise; wir vergrößern den Schmerz oder nehmen ihn vorweg oder bilden ihn uns ein.

Tamen, si tibi videtur, accipe a me auxilia quibus munire te possis. [4] Plura sunt, Lucili, quae nos terrent quam quae premunt, et saepius opinione quam re laboramus. Non loquor tecum Stoica lingua, sed hac summissiore; nos enim dicimus omnia ista quae gemitus mugitusque exprimunt levia esse et contemnenda. Omittamus haec magna verba, sed, di boni, vera: illud tibi praecipio, ne sis miser ante tempus, cum illa quae velut imminentia expavisti fortasse numquam ventura sint, certe non venerint. [5] Quaedam ergo nos magis torquent quam debent, quaedam ante torquent quam debent, quaedam torquent cum omnino non debeant; aut augemus dolorem aut praecipimus aut fingimus.

Latrina latina

Gestern fragte mich mein Nachhilfeschüler nach dem lateinischen Ausdruck für „kacken“. Seien wir nachsichtig, er ist 13, und man darf noch froh sein, daß er nicht nach solchen Vokabeln fragt, wie sie allenfalls in manchen Catullgedichten vorkommen. Nun ja. Ein bißchen in Verlegenheit, weil einem solche Ausdrücke nicht sofort auf der Zunge liegen, zumindest nicht auf Latein, erinnerte ich mich dann aber an einen gewissen Graffito aus Pompeji, in welchem davor gewarnt wird, an nämlicher Stelle zu urinieren oder, na ja, zu kacken eben. Nachdenklich macht dabei der in der Warnung zur Sprache kommende Ort des improvisierten Klos. Offenbar war der Hinweis nötig, daß es unfein ist, sich über Gräbern zu entleeren.
Man beachte, daß diese Lateinische Version eines Textes der heutigen Sorte „Hunde an der Leine führen“ oder „Rasen betreten verboten“ in Versen formuliert ist und aus zwei elegischen Distichen besteht. Damit orientiert sich der Text an der Form des Epigramms, das ursprünglich in Weih- und Grabinschriften verwendet, später aber auch mit dichterischer Intention für allerlei kritische, witzige und pointenreiche Gedichte in Gebrauch genommen wurde. Beispielsweise dieses kleine Epigramm vom wohl berühmtesten aller Epigrammatiker, Martial:

Esse nihil dicis quidquid petis, inprobe Cinna:

si nil, Cinna, petis, nil tibi, Cinna, nego.

(III, 61)

„Es sei doch gar nichts, worum du mich bittest, sagst du, unverschämter Cinna: Na, wenn du mich um nichts bittest, dann schlage ich dir ja auch nichts ab.“

Gleichzeitig ist der Graffito eine Parodie auf den Inhalt des typischen Grabepigramms, indem es einen gängigen Topos aufgreift: die Verfluchung des Grabschänders. Nur daß hier die Nemesis darin besteht, daß den vorwitzige Notdurftverrichter Brennesseln an einer empfindlichen Stelle reizen mögen. Zum Vergleich ein Ausschnitt aus einer Art „echten“ Grabepigramms des Horaz (kein eigentliches Grabepigramm, aber der Fluchtopos ist der gleiche):

At tu, nauta, uagae ne parce malignus harenae

ossibus et capiti inhumato

particulam dare: sic, quodcumque minabitur Eurus

fluctibus Hesperiis, Venusinae

plectantur siluae te sospite multaque merces,

unde potest, tibi defluat aequo

ab Ioue Neptunoque sacri custode Tarenti.

Neglegis inmeritis nocituram

postmodo te natis fraudem committere? Fors et

debita iura uicesque superbae

te maneant ipsum: precibus non linquar inultis

teque piacula nulla resoluent.

(carmina I, 28)

„Aber du, Seemann, zögere nicht boshaft, ein Körnchen des wehenden Sandes zu schenken: So sollst du heil bleiben, während, was auch immer der Eurus mit den Fluten Hesperiens vorhat, nur die Wälder Venusinas trifft, und reiche Ware, woher nur möglich, soll dir vom gerechten Jupiter und vom Wächter des heiligen Tarent, Neptun, zufließen. Willst du aber leichtfertig einen Frevel begehen, der deinen Kindern später schaden wird, die nichts dafür können? Vielleicht auch holt die verdiente Gerechtigkeit und die Rache für deinen Hochmut dich selber ein: Meine Bitten um Vergeltung werden nicht unerhört bleiben, dich aber werden keine Gebete erlösen.“

Hier aber nun sind es Brennesseln. Hohe Form für einen banalen Anlaß. Elegisches Distichon, tja. Unterhalb dessen griff der Lateiner erst gar nicht zur Feder. Man stelle sich vor, wie das wäre, wenn statt eines „Ballspiele untersagt“ ein mahnendes

Kinder, der Rasen ist schön, drum trampelt ihn nicht mit den Füßen

Hier zu kicken den Ball, raten möcht ich euch nicht!

auf der grünen Tafel zu lesen wäre. Das elegische Distichon setzt sich im übrigen aus je einem (katalektischen) daktylischen Hexameter und einem daktylischen Pentameter zusammen. Letzteren kann man sich als aus zwei halben Hexametern bestehend denken, die jeweils an der Penthemimeres (nach fünf Halbfüßen) „abgeschnitten“ sind. Ein berühmtes Beispiel ist die Charakterisierung des elegischen Distichons von Schiller – in Form eines nämlichen Distichons, versteht sich:

Ím Hexámeter steígt des Spríngquells flü´ssige Säúle.

Ím Pentámeter draúf fä´llt sie melódisch zurü´ck.

Was Matthias Claudius zu folgender Parodie inspirierte:

Im Hexameter zieht der ästhetische Dudelsack Wind ein;

Im Pentameter drauf läßt er ihn wieder heraus.

Die Forderung, im zweiten Halbvers des Pentameters keine Spondäen (Folgen von zwei langen Silben) zuzulassen, ist in dem Pißverbotsepigramm auch eingehalten.

Hier aber nun der Text:

Hospes adhuc tumuli ni meias ossa precantur.

Nec, si vis huic gratior esse, caca !

Urticae monumenta vides. Discede, cacator !

Non est hic tutum culum aperire tibi.

Fremder, dich bitten die Knochen, doch nicht an die Gräber zu pinkeln.

Noch, willst freundlich du sein, mach hier dein großes Geschäft!

Vor einem Denkmal voll Brennesseln stehst du, verschwinde, du Kacker!

Nicht ist es sicher für dich, hier zu enblößen den Arsch.

Fortsetzung

Schon fiel Asche auf die Schiffe nieder, desto heißer und dichter, je näher sie kamen; dann sogar Lavabrocken und schwarze, verbrannte, im Feuer geborstene Steine; dann eine plötzliche Untiefe, und das Ufer von einem Bergsturz abgeriegelt. Nach kurzem Zögern, ob er umkehren solle, sprach er zum Steuermann, der ihm dazu riet, „Dem Tapferen hilft das Glück: Fahr zu Pomponianus.“ Dieser hielt sich in Stabiae auf, durch die Bucht von uns getrennt – denn die Küste weicht hier allmählich in Windungen und Krümmungen zurück –; dort hatte er, obwohl die Gefahr sich noch nicht näherte, aber doch schon abzusehen war, und, würde sie zunehmen, sehr nahe wäre, sein Gepäck auf Schiffe geladen, zu Flucht entschlossen, wenn nur der ungünstige Wind sich erst gelegt hätte. Unter diesem Wind läuft nun mein Onkel ein, umarmt Pomponianus, tröstet den Zitternden, muntert ihn auf, und läßt sich schließlich ins Bad bringen, um so mit seiner eigenen Seelenruhe die Furcht des anderen zu besänftigen; nach dem Bade legt er sich zu Tisch und speist heiter oder – was genauso großartig ist – sich den Anschein der Heiterkeit gebend. Inzwischen leuchteten vom Vesuv her breite Feuersbrünste und hohe Brände, deren strahlende Helligkeit durch die Schwärze der Nacht noch verstärkt wurde. Als Gegenmittel gegen ihre Furcht sagte mein Onkel immer wieder, daß die Bauern in ihrer Panik die Herdfeuer sich selbst und ihre Häuser verlassen hätten, und das es diese seien, die dort nun allein vor sich hin brennten. Dann begab er sich zur Ruhe und schlief auch wirklich; den sein tiefes Atmen, das bei ihm wegen seiner Leibesfülle ziemlich tief und laut war, wurde von denen gehört, die an der Schwelle lauschten. Aber Gelände, von wo man das Gartenhaus betrat, hatte sich schon mit einem Gemisch aus Asche und Lava gefüllt und war so sehr angestiegen, daß, wenn mein Onkel länger im Schlafgemach geblieben wäre, er nicht mehr ins Freie hätte gelangen können. Man weckt ihn, er kommt heraus und gesellt sich zu Pomponius und den anderen, die die Nacht durchwacht hatten. Gemeinsam beratschlagen sie, ob sie im Haus bleiben oder sich lieber draußen aufhalten sollen. Denn die Wände neigten sich unter zahlreichen, heftigen Erdstößen, und wie aus ihrem Fundament gerissen, schienen sie sich mal hierhin mal dorthin zu verschieben und wieder zu ihrer alten Lage zurückzukehren. Unter freiem Himmel andererseits fürchtete man den Hagel von Lavabrocken, wenn diese auch leicht und schon ausgeglüht waren; dennoch sprach ein Abwägen der Gefahren für diesen Weg; bei meinem Onkel trug freilich die eine Überlegung über die andere, bei den übrigen aber die eine Furcht über die andere den Sieg davon. Sie legen sich Kopfkissen aufs Haupt und befestigen sie mit Leintüchern; das war ein Schutz gegen die fallenden Steine. Andernorts war schon Tag, hier aber herrschte noch Nacht, schwärzer und undurchdringlicher als je eine; aber sie wurde auch von Fackeln und verschiedenartigen Lichtern erhellt. Man beschloß, zum Strand hinunterzugehen und aus der Nähe zu sehen, ob das Meer schon eine Fluchtmöglichkeit böte; aber es blieb aufgewühlt und der Wind ungünstig. Dort legte sich mein Onkel auf ein niedergeworfenes Leintuch, bat immer wieder um kaltes Wasser und trank es. Dann lassen Flammen und der Vorbote von Flammen, ein Geruch nach Schwefel, die anderen das Weite suchen, meinen Onkel aber scheuchen sie auf: Gestützt auf zwei Sklaven steht er auf – und bricht sofort wieder zusammen, weil, wie ich vermute, der ziemlich dichte Rauch ihm das Atmen schwer machte, indem sich seine Luftröhre, von ihrer Anlage her schwach, eng und oft flatterig, verschloß. Als das Tageslicht wiederkehrte – es war der dritte seit dem, an dem er zuletzt gelebt hatte – fand man seinen Leichnam unversehrt, ohne Verletzung, in den Kleidern, die er zuletzt getragen. Sein Körper glich mehr einem Schlafenden denn einem Toten.

Währenddessen waren meine Mutter und ich in Misenum – aber das ist für die Geschichte ohne Belang, und Du hattest ja nur vom Tode meines Onkels erfahren wollen. Also schließe ich hier. Eines nur möchte ich hinzufügen, daß ich nämlich alles, bei dem ich selbst zugegen, und auch, was ich gleich danach, als es noch am genauesten im Gedächtnis war, gehört, getreulich berichtet habe. Du wirst daraus das wichtigste auswählen. Es ist nämlich etwas anderes, ob man einen Brief oder ein Geschichtswerk, ob man einem Freunde oder für alle Menschen schreibt. Lebe wohl.

a.d. IX Kal Sept. anno 832 (24. August 79)

C. Plinius grüßt Tacitus

Du bittest mich, daß ich Dir vom Ende meines Onkels schreibe, damit Du den Nachfahren wahrhaftiger davon berichten kannst. Ich danke Dir; denn ich sehe, daß seinem Tode, wird er von Dir gewürdigt, unsterblicher Ruhm zukommt. Denn obwohl er bei der Vernichtung der herrlichsten Landschaften, ebenso wie Bevölkerung und Städte in einem denkwürdigen Untergange zugrundeging, gleichsam, als ob er für immer leben sollte; und obwohl er mehrere bleibende Werke schuf: So wird dennoch die Unvergänglichkeit Deiner Schriften zu seinem Fortleben viel beitragen. Ich halte wahrlich die für glücklich, denen das Göttergeschenk gegeben ist, beschreibenswertes zu leisten oder lesenswertes zu schreiben; am glücklichsten aber die, denen beides gegeben ist. Zu ihnen wird auch mein Onkel zählen, durch Deine Bücher und seine eigenen. Und darum will ich Dir gerne Deinen Wunsch erfüllen, ja, ich verlange selbst nach dem, was du mir aufträgst.

Mein Onkel war in Misenum und befehligte dort persönlich die Flotte. Am 24. August, ungefähr zur siebten Stunde, machte meine Mutter ihn auf die Erscheinung einer Wolke von ungewöhnlicher Größe und Gestalt aufmerksam. Mein Onkel hatte sich gesonnt, danach kalt gebadet, im Liegen etwas gegessen und arbeitete jetzt. Er verlangt seine Sandalen, steigt auf eine Anhöhe, von wo man das Wunder am besten beobachten kann. Die Wolke – von weitem betrachtet war unklar, von welchem Berg; später wurde bekannt, es sei der Vesuv gewesen – die Wolke also stieg in die Höhe und ließ mit ihrer Form von allen Bäumen am meisten an eine Pinie denken. Denn hochgewachsen wie auf einem sehr langen Stamm teilte sie sich in der Höhe in etliche Äste, ich glaube, weil sie von einem Luftstrom vor kurzem hinaufgetrieben worden war, und dann, als dessen Kraft nachließ, von ihm im Stich gelassen oder von ihrem eigenen Gewicht bezwungen, in die Breite ging, an manchen Stellen weiß, an anderen schmutzig und fleckig, je nachdem, wo sie Asche oder Erde emporgerissen hatte. Es schien etwas Großen zu sein, das ein gelehrter Mann näher erforschen müsse. Mein Onkel befiehlt, ein kleines Schiff bereit zu machen; mir stellt er frei, ob ich mitkommen will; ich antwortete, daß ich lieber arbeiten wolle, und zufällig hatte er selbst mir etwas zu schreiben gegeben. Er war im Begriff, das Haus zu verlassen, da bekommt er ein Briefchen von Rectina, der Frau des Tascus, die außer sich vor Angst ist über die drohenden Gefahr – denn ihr Haus lag am Fuß des Berges, und es gab von dort keinen anderen Fluchtweg als mit Schiffen –: Sie bat darum, daß mein Onkel sie dieser Gefahr entreiße. Dieser ändert seinen Entschluß, und was er aus Forschergeist begonnen, nimmt er jetzt aus Großmut auf sich. Er läßt Vierruderer auslaufen und geht selbst an Bord, um nicht allein Rectina, sondern vielen Menschen – die schöne Küste war ja dicht besiedelt – Hilfe zu bringen. Er eilt dorthin, woher andere fliehen, und hält Kurs und Steueruder geradewegs auf die Gefahr zu, derart frei von Furcht, daß er alle Veränderungen und alle Einzelheiten dieses schlimmen Ereignisses diktierte und festhielt, so wie seine Augen es erfaßten.

Schon fiel Asche auf die Schiffe nieder …

Über die Zeit (Seneca an Lucilius)

Immer wieder eine lohnende Lektüre: Seneca:

In hoc enim fallimur, quod mortem prospicimus: magna pars eius iam praeterit; quidquid aetatis retro est mors tenet. Fac ergo, mi Lucili, quod facere te scribis, omnes horas complectere; sic fiet ut minus ex crastino pendeas, si hodierno manum inieceris. [3] Dum differtur vita transcurrit. Omnia, Lucili, aliena sunt, tempus tantum nostrum est; in huius rei unius fugacis ac lubricae possessionem natura nos misit, ex qua expellit quicumque vult. Et tanta stultitia mortalium est ut quae minima et vilissima sunt, certe reparabilia, imputari sibi cum impetravere patiantur, nemo se iudicet quicquam debere qui tempus accepit, cum interim hoc unum est quod ne gratus quidem potest reddere.

Darin nämlich täuschen wir uns, daß wir den Tod als vor uns liegend betrachten: Dabei ist ein großer Teil von ihm schon geschehen; alles, was an Lebenszeit hinter uns liegt, hält der Tod in Händen. Mach es also so, mein Lucilius, wie du es geschrieben hast, und halte alle Stunden fest; so wird es geschehen, daß du weniger am Morgen hängst, wenn du nur erst das Heute in deinen Besitz genommen hast. Das Leben geht vorbei, während man es aufschiebt. Nichts, mein Lucilius, gehört wirklich uns, nur die Zeit ist unser eigen. Dieses einzige Flüchtige und Vergängliche gibt uns die Natur zum Besitz, und es verjagt uns daraus, wer immer will. Und so groß ist die Dummheit der Menschen, daß sie, wenn sie um wertlose oder doch sicher ersetzbare Kleinigkeiten gebeten haben, sich diese in Rechnung stellen lassen, während keiner, dem jemand Zeit geschenkt hat, der Ansicht ist, dem andern etwas schuldig zu sein; dabei ist die Zeit doch das einzige, daß niemand je zurückzahlen kann, und sei er auch noch so dankbar.

ars poetica

Nec sic incipies, ut scriptor cyclicus olim:
“Fortunam Priami cantabo et nobile bellum”.
Quid dignum tanto feret hic promissor hiatu?
Parturient montes, nascetur ridiculus mus.

noch sollst anheben du wie einst der epische dichter:
„krieg der Edlen will ich besingen und Priamus’ schicksal“ –
Was wird uns würdiges zeigen, wer seinen mund derart voll nimmt?
berge liegen in wehen, heraus kommt ein lächerlich mäuslein.