Widertonmoos

wo man vom widertonmoos spricht,
vor wonne frieren.

die ferne nach ihren farben
befragen über der einsamen lärche.

mit klammen lippen
atemwegen folgen, im

glücksgefröstel das hemd
hochschieben, ganz

über alle wipfel, daß
warme haut bis zum rhein reicht.

zwischen strom und stromern die wege
in küssen messen und die küsse danach
wie weit sie wohl tragen

(je süßer desto weniger)

Catull V (L. küssen)

VIVAMUS mea Lesbia, atque amemus,
rumoresque senum seueriorum
omnes unius aestimemus assis!
soles occidere et redire possunt:
nobis cum semel occidit breuis lux,
nox est perpetua una dormienda.
da mi basia mille, deinde centum,
dein mille altera, dein secunda centum,
deinde usque altera mille, deinde centum.
dein, cum milia multa fecerimus,
conturbabimus illa, ne sciamus,
aut ne quis malus inuidere possit,
cum tantum sciat esse basiorum.

Wir wollen, Lesbia, leben und uns lieben,
und mißgünstiges Reden strenger Greise
soll uns nach Herzenslust gestohlen bleiben.
Allein die Sonne sinkt und steigt doch wieder:
Wenn unser kurzes Lebenslicht gesunken,
so schlafen wir in Finsternis für immer.
Oh, gib mir tausend Küsse, danach hundert,
darauf ein zweites Tausend, nochmal hundert,
und sogar nochmal tausend, nochmals hundert.
Und dann, nach abertausend Abertausend,
verzähl’n wir uns, damit wir’s selbst nicht wissen,
und keiner sie uns übelwollend neide,
die Küsse, wenn er weiß, wieviel es waren.

Fagott

Von Fagotten habe ich schon einmal geträumt, diesmal aber war ich selbst der Fagottist. Merkwürdig genug, war es auch noch ein sehr seltsames Instrument, hatte es doch keine Grifflöcher bzw. Klappen, sondern einen Trompetenzug aus Metall, den man wie den Kolben einer Fahrradpumpe ziehen mußte, um die Tonhöhe zu verändern. Diese originelle Abwandlung eines Fagotts hatte ich in einem Korb gefunden, in dem noch mehr Instrumente (alles Fagotte verschiedener Bauart) standen, nicht ungleich Spazierstöcken in einem Souvenirladen. Auf diesem seltsamen Instrument spielte ich im Traum eine Melodie, von der ich noch beim Erwachen wußte, oder zu wissen glaubte, woher sie stammte. Mittlerweile bin ich mir nicht mehr sicher, ob ich nicht wieder Musik träumend phantasiert habe – diesmal nicht mehr nur als Zuhörer, sondern Instrumentalist selbst. Ich weiß nur noch, daß es eine Motivsequenz war, in der sich eine Tonfolge höher oder tiefer, vielleicht auch nach Moll gewendet, wiederholt; und wie beglückend es war, auf Anhieb die richtige Position des Kolbens zu finden.

Hummelgebrumm, Großvätergemurmel, tolpatschiges Bärengetorkel – manche meinen ja, das Fagott eigne sich besonders für humoristische Effekte. Das ist ein Irrtum, der daraus herrührt, daß das arme Rohrblattinstrument de facto oft für musikalische Scherze eingesetzt wurde. Aber dafür kann es nichts. Es hat jedenfalls nichts mit seiner Natur zu tun, die a priori nichts Komisches an sich hat. Und umgekehrt eignen sich andere Instrumente genauso gut für musikalische Späße. Die Klarinette quakt, die Posaune röhrt, das Cello pupst, und brummeln kann ein Horn mindestens genauso gut wie ein Fagott.

Dem Fagott haftet der Ruf des Marginalen an. Wer lernt schon Fagott spielen? Saxophon, Schlagzeug, Querflöte, oder, wenn es denn E-Musik sein soll, Violine oder Klavier, na gut. Aber Fagott? In einer US-Kinderserie aus den 70ern kam einmal ein etwas unbeholfener und unsportlicher Junge vor, der ausgerechnet Fagottunterricht bekam. Fagott, das ist wie CB-Funk oder Makramé, das hat irgendwie etwas Nerdiges.

Edgar Degas: L’Orchestre de l’Opéra
Nicht nerdig: Edgar Degas, L’Orchestre de l’Opéra

Das war natürlich nicht immer so, und zum Glück haben viele Komponisten die lyrischen-elegischen Möglichkeiten klar erkannt, die der warme und sanftdunkle Klang des Fagotts bietet. Nur in den tiefen Lagen hat die Klangfarbe nämlich etwas Brummeliges, und auch dann nur bei geeigneter Spielweise. Weich und voll wie eine Tenorstimme in der Mittellage, gewinnt der Ton des Fagotts in der Höhe eine federnde, energische Härte, die im Piano auch schmeichelnd und zärtlich klingen kann, wie eine Oboe, nur daß ihm das Schneidende fehlt. Der Klang mischt sich sehr gut mit dem anderer Instrumente, ist aber auch für Solopassagen geeignet. Und so ist das Fagott im klassisch-romantischen Orchster seit gut 250 Jahren fest etabliert. Es gibt aber auch manch dankbares Stück in der Sololiteratur. Abgesehen von seinem unermüdlichen Einsatz als Continuo-Instrument haben sich namhafte Barockkomponisten des Fagotts auch als eines virtuos spielbaren Soloinstruments angenommen: Von Telemann gibt es neben einer Sonate für Fagott und BC ein viersätziges Konzert für Fagott, Altblockflöte, Streicher und BC, eine eigentümliche Mischung, könnte man meinen, aber Telemann hat es ausgezeichnet verstanden, die so gegensätzlichen Klangfarben von Blockflöte und Fagott als Solointrumente in einem Konzert unterzubringen, und so nicht nur die Fagott-, sondern auch gleich die Blockflötenliteratur um eine Perle bereichert. Geradezu vernarrt in das Instrument scheint Vivaldi gewesen zu sein: Nicht weniger als 39 Solokonzerte (mehr als für jedes andere Instrument) hat er dem Fagott gewidmet. Mozart, Weber, Hummel, Danzi, sie alle haben Werke für Fagott und Orchester zur Konzertliteratur beigesteuert. Und natürlich darf im klassichen Bläserquartett das Fagott als Bassinstrument nicht fehlen. Die Romantik behandelte das Instrument eher stiefmütterlich, während Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts wieder mehr für das Fagott komponiert wird. Saint-Saënts’ Sonate für Fagott und Klavier, deren einziges Manko ist, daß sie nicht länger dauert, ist ein frühes Beispiel für das wiedererwachte Interesse. In der Moderne haben unter anderen Jean Françaix, Heinz Holliger, Karl-Heinz Stockhausen und Peter Maxwell Davies Solowerke für das Fagott komponiert, und sogar Tom Waits hat die dunkleren Register dieses unterbewerteten Instruments zu schätzen gewußt.

Natürlich wird das Fagott nicht mit einem Posaunenzug gespielt, sondern auf Grifflöchern, bei modernen Instrumenten mit chromatischer Bohrung, deren Handhabung durch ein kompliziertes Klappensystem (der Mensch hat nun einmal nur 10 Finger) ermöglicht wird. Eine Art von Posaunenzug wäre schon deshalb gar nicht möglich, weil das Rohr des Fagotts nicht gerade verläuft, sondern wie ein Siphon u-förmig gebogen ist, worauf schon die Position des Mundstücks an der Seite hindeutet. Das Fagott ist sozusagen eine zusammengeklappte Röhre. Daher hat es vermutlich auch seinen Namen. Fagotto bedeutet schlicht „Bündel“.

Esther

Wie schon einmal grübele ich über einem Brief. Das letzte Mal quälte ich mich mit einer Antwort auf ihre so beiläufige, in aller Harmlosigkeit (und in einer Parenthese) eingestreute Offenbarung, das Wort ist bereits eine Übertreibung. Wie sollte ich es sagen, ohne es zu sagen? Ich habe Dir auch so manches nicht verraten, schrieb ich damals zurück, und daß ich es schade fände, daß ich sie damals unbedingt hatte beeindrucken wollen – und daß mir das auch noch gelungen sei. Deutlicher wurde ich nicht. Ich weiß nicht die richtigen Worte, schrieb sie zurück, Du gehörst zu meinem Leben.
Ich weiß nicht, was für eine Antwort ich erwartet hatte. Ich weiß nicht, was ich von dieser merkwürdigen Freundschaft in Zukunft erwarte. Ich weiß nicht, was ich mir verspreche, was ich hoffe, was ich mir versprechen und hoffen darf. Es gibt nichts nachzuholen, man kann nichts nachholen. Und es ist ja überhaupt die Frage, was nachzuholen wäre, wenn wir es denn könnten. Ich sage „wir“ und meine mich. Ich weiß nicht, wie es für sie ist. Ich weiß nicht einmal, was für eine Bedeutung Esthers damalige Parenthese hat, hatte, in jenem verschiegenen Sommern gehabt hat. Eine meiner Vorstellungen ist sehr kühn, sie sieht mich schon an ihrer Seite in H., in einer Gegenwart, die ich damals vorstellungsweise mit meinem Handeln bestimmt hätte. Ich wäre an jenem Abend näher an sie herangerückt, hätte mehr Mut gehabt, hätte unser Schweigen als Brücke aufgefaßt, als etwas, das ermöglicht, nicht als etwas, das zwischen uns steht. Ich hätte ihre Hand genommen, ein ermutigendes und zugleich bittendes oder fragendes Geräusch gemacht, und das wäre der Augenblick gewesen, der Angelpunkt, aus dem alles weitere geflossen wäre, und die ganze Zukunft, die jetzt nicht meine Gegenwart ist, wäre anders gewesen. Zusammen mit zwei Kindern in einem Haus in H., eine sehr kühne Vorstellung, denn das war ich damals nicht, es hätte nicht funktioniert, ich hätte das (oder auch nur die Vorläuferzeiten, das, was dorthin geführt hätte) nicht gewollt, ich hätte es nicht einmal gekonnt. Trotzdem ist da ein Schmerz, das Gefühl, etwas verloren zu haben, und sei es noch so imaginär.
Eine weit weniger gewagte Ausmalung der alternativen Zukunft-Vergangenheit-Gegenwart sieht so aus: Wir hätten damals, zwei erwachsene Menschen, die wissen, was sie tun und daß sie wollen, was sie tun, unsere gegenseitige Anziehung ernst genommen oder ihr nachgegeben, der Anziehung und der Neugier, und miteinander geschlafen, ein- oder vielleicht sogar mehrere Male, ohne daß daraus Folgen entstanden wären, weder schöne noch schlimme. Ich weiß, daß so etwas gutgehen kann, daß solche Beziehungen wieder beendet werden und zurückkehren können zu ihrer älteren Verfassung, und dabei dann noch eine große Bereicherung erfahren haben, ich habe das erlebt; es war nicht einfach, aber am Ende gut, sehr gut sogar, für beide.
Und das ist es, was nachholbar ist. Es ist möglich, und es bleibt möglich, solange wir leben. Es ist weiterhin und immer schenkbar. Denkbar ist es für mich immer gewesen, und diese Denkbarkeit hat jetzt vor dem Hintergrund jenes in Parenthese gemachten Geständnisses (unheimlich anziehend … als Mann) in Esthers vorletztem Brief eine neue, beunruhigende, auf Verwirklichung zielende Beweglichkeit erhalten.
Doch, ich weiß, was ich mir verspreche, ich weiß, was ich hoffe, was ich will. Es ist sehr einfach. Ich will mit Esther schlafen. Ich will jetzt nachholen, was wir uns damals versagt haben (oder wofür wir nicht mutig genug, nicht erwachsen genug gewesen sind, oder wovon wir geglaubt haben, es nicht zu dürfen, vielleicht, weil es unsere Freundschaft gefährden könnte; wofür wir nicht frei genug waren). Und eigentlich wäre es ja gar kein Nachholen. Es wäre einfach etwas, zu dem wir lange gezögert, und wofür wir uns jetzt endlich entschlossen hätten, weil wir genug innere Freiheit und Unabhängigkeit erlangt haben, und es würde sofort geschen, wenn auch Esther es wollte.
How can she ignore my available condition? geht mir ein Liedtext durch den Kopf. Und so ringe ich wieder mit einem Brief, mit einer Formulierung, die nichts ausspricht aber auch nichts verschweigt; suche nach Worten, die per Auslassung auf eine deutliche, unmißverständliche Weise aufscheinen lassen, was sie nicht ausschließen.

Saeby

Da waren also diese Leute draußen im Wald und sangen dieses etwas alberne und doch irgendwie traurige Lied, Alouette, gentille alouette, aber für mich damals war es, konnte es gar nicht albern sein, man hat als Fünfjähriger kein Gefühl dafür, was albern oder ernst, süß oder verkitscht, aufrichtig oder hohl ist. Und im Grunde ist es ja nur ein ganz einfaches Liedchen, das sich in seiner Schlichtheit nicht verstecken muß. Schon gar nicht nachts um spät, der Fünfjährige ist erwacht, und aus seiner Sicht ist es mitten in der Nacht, sei es elf oder zwölf oder halb vier. Es war Sommer, Hochsommer, und im Norden heißt das Tageslicht bis um zehn, elf Uhr. Es war aber zu jener Stunde schon dunkel, stockfinster, bis auf, ja, vielleicht bis auf ein Licht, das, nicht nah, nicht weit, aber ungeheuer draußen, zwischen den Föhrenstämmen aufblitzte, erlosch, wieder aufblitzte, der Nacht, den Baumriesen, dem Waldraum angehörend, einem Raum, der verzaubert war, und wo in diesem Augenblick etwas Wunderbares geschah, und dieses Wunderbare war: Musik.
Es sangen da Stimmen, zwei oder drei oder vier, sangen, und vielleicht unterbrachen sie sich manchmal, um laut herauszulachen; Strophe, Gegenstrophe, Lachen, es war etwas unendlich Gelöstes, Frohes und Lustiges an diesen Stimmen, überirdisch und entrückt und doch ganz hier; und zugleich haftete ihnen ein unergründlicher Zauber an, ein heiterer Ernst, wenn es so etwas gibt: Es war etwas, die Melodie, das Heitere, das Nur-sich-selbst-Genügende, das zum Atemanhalten schön war (wahrscheinlich drückte ich mir die Nase an der Fensterschiebe platt), das nicht mir galt, das einfach passiert war, da draußen zwischen den Bäumen, und das sich, während ich lauschte und rätselte, schon wieder langsam entfernte, leiser und leiser wurde.
Es werden junge Leute gewesen sein, die angetrunken, ausgelassen und veralbert von einer Feier nach Hause gingen, und die in ihrer Ausgelassenheit beschlossen hatten, gemeinsam dieses Liedchen mit seinen anwachsenden Repetitionen (Et la tête! – Et la tête!) durch den Wald zu schmettern.
Ich weiß nicht wie lange es dauerte. Ich weiß aber, wie es mich, während ich am Fenster stand und lauschte und lauschte, in eine qualvolle Unruhe versetzte, weil ich es nicht verstand. Ich fühlte damals, daß es mir auf immer entglitte, daß ich es verlieren würde, wenn ich nicht begriff, was das war. Ich hatte die Sehnsucht, es für immer zu besitzen; ich glaubte, daß ich nur verstehen müsse, was es war, um in diesen ersehnten Besitz zu gelangen, für immer teilhaftig des wundersüßen Geheimnisses.
Was ich noch nicht wissen konnte, war natürlich, daß solche Augenblicke unwiederholbar sind, und daß man nichts daran besitzen kann, daß man schon dabei ist, sie zu verlieren, noch während sie dauern. Selbst, wenn man irgendwann weiß, wie das Lied heißt. Die Stimmen werden sich entfernen, die Laterne wird noch einmal aufblitzen, dann wird die Melodie, Et la tête! – Et la tête! Alouette! – Alouette!, in der Tiefe zwischen des Stämmen verklingen, Silbe für Silbe, vielleicht hört man noch ein Lachen, und dann auch das nicht mehr, nur noch den Wind, wie er in den Föhrenwipfeln rauscht.

Traum, Choral, Buchfink

Vor einigen Tagen wieder ein klingender Traum. Es spielte in einem Kammermusikensemble, das man von der Straße her durch ein offenes Fenster erspähte, eine Fagottistin ein langsames Solo. Die Melodie ist einfach, in Dur, schmucklos, beginnt mit einer lang ausgehaltenen Note, welche die Solistin aus dem Mezzopiano wie aus einem gedämpften Hintergrund langsam crescendierend in den Vordergrund des musikalischen Geschehens einschwingen läßt. Ihr Ton ist sehr weich und näselnd, das allmählich vortretende Vibrato unaufdringlich und schmeichelnd. Die Melodie ist eine fallende Figur, gleitet aus dem ersten Ton hinab, fängt sich, schwebt wieder empor und erreicht eine vorläufige Kadenz; dann beginnt es noch einmal von vorn. Bei der Wiederholung bin ich schon ein paar Schritte weitergegangen, die Weise erklingt noch einmal neben oder hinter mir, indes ich das Fagott vor mir sehe, ein frühes Instrument aus merkwürdig hellem Holz.
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Später im Radio den Bachchoral „Jesus bleibet meine Freude“ in einer Klavierbearbeitung von Busoni.
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Indessen, draußen, vor dem Fenster ein Buchfink, weder nah noch fern, und ebenso an den Dingen beteiligt wie unbeteiligt, ahnungslos, freundlich, ein vergnügter Teil der Welt, der bei allem, was diesen Augenblick ausmacht, unersetzlich ist.
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Der Traum, der Choral, der Buchfink: Die Augen geschlossen, den Kopf zurückgelehnt und etwas zu Seite geneigt, nur noch im Ohr beheimatet sein. Gestern und morgen, das Jahr und der Tag, Nächte und Morgen, Stimmen und Blicke, das Nahe wie das Ferne kommen in einem einzigen einfachen Ort zusammen, in dem alles, was man nur denken kann, die Bedeutung reiner Freude hat und sich ganz leicht auflöst in den Kullertränen eines unaussprechlichen Glücks.

Musiktraum

Wieder ein Musiktraum:
Konzertante Aufführung einer Oper. Drei Mezzosopranistinnen oder Altistinnen, auf etwas wie Thronsesseln sitzend, auf einer Bühne, sehr nah; die Gesichter geschminkt und bleich unter Perücken; sie sitzen seltsam starr; die Münder klappen puppenhaft auf und zu, während ihr Gesang den Raum füllt und sich, in den Terzen und Sexten, zu leuchtscharfen, beinah schrillen Schwebungen überlagert. Jemand findet das unangenehm, ebenso wie ihr rhythmisches, stark schwingendes Vibrato. Ich aber bin fasziniert und jubele innerlich, wenngleich ich verstehen kann, daß jemand diesen Klangeindruck als schwierig empfinden mag.

Sæby (2)

Nie ist das Drinnen so sehr drinnen wie zu jener Stunde, nie das Draußen so sehr draußen. Das Fenster ist eine Grenze; nacht aber ist es auf beiden Seiten. Nacht ist es in aller Welt. Die Welt selbst ist Nacht.

Ob die Stimmen schon immer da waren? Haben sie ihn geweckt, ihn heraufgelockt aus bewußtlosem Schlaf?
Ja, sie zogen ihn herauf und ans Fenster und waren: draußen und fern. Von jenseits des Schlafes herangeweht. Nicht zu ihm gekommen. Nicht zu ihm. Aus unerkannten Fernen, nach verborgenen Plänen handelnd, waren sie dorthin gekommen, wo auch er sich zufällig aufhielt. Und er war in den Begrenzungen von Zimmer, Haus und Mauer gefangen, auch ins Eigene gesperrt. Sie wußten nichts von ihm. Sie werden auch nie etwas von ihm wissen, oder von irgendeinem andern, der am Fenster steht. Sie brauchen nichts. Sie gehören auch nicht zur Nacht, sie gehören nur: sich selbst. Und sie singen. Sie singen sich selbst zur Freude.
Sie füllen den Wald mit Klang und Wundern, entfernen sich, verlieren sich, verstummen und lösen sich auf in der Stofflichkeit der Nacht, noch einmal klingt es auf unterm den Mondfäden, in der Tiefe der Bäume, dann fallen sie zurück ins Dunkel, aus dem sie getreten waren, und das sie nun wieder hält und birgt. Und das Kind, die Nase am Fenster plattgedrückt, zum ersten Mal ist es allein.

Sæby (1)

(Alouette, gentille Alouette …)

erinnere dich an jene stunde.

erinnere dich an hütte, fenster, wald. an die dunkelheit, die gegen das fensterglas anstieg, an die dunkelheit, die kühl und ein wenig fremd unter deinen fingerspitzen kribbelte. an die andersseitige dunkelheit, den weiten raum, die verhüllten kiefern. an die dunkelheit, die den gesang barg, freigab und dann wieder in sich zurücknahm.
erinnere dich. du warst das. du standest am fenster, du preßtest die nase an die scheiben, du hörtest die stimmen, wie sie jenseits sangen und verklangen, die leuchtenden stimmen.
(Alouette, gentille Alouette …)
da beugtest du dich vor, atmetest einen nebel aus, stießest mit der nase gegen die nacht draußen und wußtest nicht ein noch aus vor schönheit. du hattest noch keine worte, alles stellte sich unmittelbar vor dir auf, wuchs dir
(Alouette, je te plumerai …),
direkt ans herz, und doch … und doch … (je te plumerai la tete …) fühltest du damals schon, daß du nicht ganz warst. daß die schönheit von dir getrennt, dir entfremdet war. wem hättest du es sagen können? im nebenraum, meilen entfernt, schliefen die eltern, denen du es am morgen erzähltest. aber hatten sie denn verstanden? hätten sie es dir deuten, hätten sie es dir auflösenkönnen? du fragtest sie nach dem lied, summtest es ihnen vor, glaubtest, es damit erworben und beherrscht zu haben, wenn du nur einen namenhättest. als könntest du dem schönen näherkommen, indem jemand das lied für dich sänge, wieder und wieder! als könntest du das schöne begreifen, wenn es wiederholbar geworden wäre … doch in demselben augenblick, da du
(Alouette? – Alouette!, Ooooh …),
da du begriffst, daß es schönheit gab, spürtest du schon ihre unerreichbarkeit und den schmerz, und auch, daß du allein sein würdest im angesicht des schönen. und später:

da erfandest du worte: behelf, meßgerät und prothese. aber näher würdest du ihm niemals kommen.

12. Weinen

Es gibt eine Art von katalytischer Musik, die mich innerhalb kürzester Zeit in Tränen ausbrechen läßt. Nach drei Takten beginnt die Kopfhaut zu prickeln, nach noch einmal drei Takten zieht sich der Hals merkwürdig zusammen, überall rieselt es, die Augen beginnen zu brennen. Und dann der Choreinsatz, die Synkope, die Donnerschläge der Pauken, das schon ersehnte Streichertremolo, die sonnenhaft aufleuchtende Wendung nach Dur: und es packt mich, es schüttelt mich durch und durch. Ich weine. Ausgiebig. Herzhaft. Gelöst.

Era el crepúsculo de la iguana … Es ist so schön, als wäre ein Engel vorbeigegangen und hätte mich, unwürdig-niederes Dasein, berühren wollen. Ich weiß nicht warum, eigentlich klingt diese Musik wie von der Sakro-Pop-Gruppe der katholischen Kirchengemeinde. Warum hat sie auf mich diese Wirkung, diese unglaubliche Kraft? Gestern wieder. Lang aufgestaute Sturzbäche der Erschöpfung, der Anspannung, des Vergeblichseins. Yo no voy a morirme/salgo ahora/en este día lleno de vulcanes/hacia la multitud/hacia la vida

Danach ist es gut.
Ganz bestimmte Musik muß es sein, und meistens klappt es zuverlässig: Brahms, Ein deutsches Requiem, Theodorakis, Canto General, Verdi, Requiem, „Dies Irae“ (ja, ich weiß. Trotzdem.), Mozart, Klavierkonzert A-Dur, 2. Satz, Brahms, Klavierkonzert Nr. 1, d-Moll, 2. Satz. Und anderes, von dem ich es vielleicht noch nicht weiß. Ist es beschämend, weil ich so eine Erlösung manchmal brauche und mir nicht anders zu helfen weiß, als es durch ein paar billige Töne herbeizuführen?