Touristen

„Dir ist aber schon klar, daß wir hier Katastrophentourismus betreiben, oder?“ sagt meine Wandergefährtin, als wir von unserem Weg abbiegen, um, von hier aus nur ein Abstecher durch den Wald, das Grauen, das wir tags zuvor aus respektvoller Ferne betrachtet haben, jetzt noch einmal aus der nächsten Nähe anzuschauen, als wüßten wir nicht, wie schlimm es ist; als müßten wir uns erst noch überzeugen. Warum tun wir uns das an?
Natürlich hat das etwas Ungehöriges an sich, etwas Pietätloses, als schlüge man am Tag nach einem Unglück ein Boulevardblatt auf oder folgte dem Einsatzwagen zum Unglücksort. Laut Karte beträgt die Distanz etwa zweihundertfünfzig bis dreihundert Meter. Auf die Entfernung ist noch nichts zu sehen, der Weg scheint ein wenig zu steigen, das Dach der Baumkronen sieht bis in die Tiefe des Wegs geschlossen aus. Nur etwas Braunes ist zunächst sichtbar, ein heller Streifen, es könnte verbranntes Gras sein oder Sand, oder auch nur der verbreiterte Grund einer Kreuzung.
Wie viele Katastrophen, so ist auch diese still. Ein Rotkehlchen schmettert, im Unterholz gluckst eine Gartengrasmücke. Schmetterlinge taumeln durch den hellen Schatten. Die friedliche Atmosphäre bekommt angesichts dessen, was wir wissen, etwas Beklemmendes. Die Stiefel knirschen, wir gehen stumm. Der braune Strich am Ende des Wegs wird größer, ohne dabei deutlicher zu werden, nicht einmal die Entfernung läßt sich schätzen. Es könnte auch etwas viel weiter Entferntes, sich hinter den Baumreihen Erstreckendes sein. Nach ein paar Minuten beginnt der Weg zu fallen. Der braune Streifen verbreitert sich, etwas Flaches an seinem Grund wird sichtbar, und die Baumreihe tritt ganz leicht auseinander, wie zu einer Kreuzung oder …
Plötzlich klärt sich das Bild. Der Streifen weicht stark zurück, macht einem asphaltierten Weg Platz, der aus der Perspektive des Waldwegs gar nicht zu erkennen gewesen ist. Das braune Gras verschwindet, oder besser, es verwandelt sich in eine Erhebung, einen Hügel, und dann in eine Halde aus Aushub. Wir treten aus dem Wald und stehen vor einem zwei Meter hohen, flachen Wall, der sich rechts in einer Kurve fortkrümmt, deren Ende nicht zu sehen ist, links aber sanft zu Tal gleitet, wo in der Ferne etwas erscheint, das wir schon aus der anderen Richtung kennen. Dort ragt der Hilfspylon der im Bau befindlichen Brücke auf, streng, riesig, unmenschlich, ein Unglück verheißend wie ein Meßturm vor dem Atomtest. Die ausgeworfene Erde ist rötlich-gelb, sandig, von metallisch schimmernden Gesteinsbrocken durchsetzt, trocken. Wir klettern auf den Wall, ins Erdreich getretene Stufen früherer Katastrophentouristen führen hinauf, und da ist sie, die neue Autobahntrasse, riesig und starrend und furchtbar, noch ohne Asphalt, aber schon planiert, mit mathematischer Akkuratesse durch den Wald geschnitten, in regelmäßigen Abständen ragen Drainagesäulen aus dem Grund. Eine Schneise. Hier Wald, drüben Felder. Ein Trekker fährt, eine silbrige Rauchwolke ausstoßend, auf der anderen Seite längs der zukünftigen Trasse vorbei. Obstbäume lassen freundliche Schatten auf eine Wiese fallen.
Es ist warm, die Sonne brennt auf den Boden wie auf eine Schürfwunde. Schon aber haben Pflanzen begonnen, das Fehlen der Bäume auszunutzen. Mohn leuchtet in kräftigem Rot. Disteln ducken sich an den Grund, als fürchteten sie den Bagger. Es ist ein schöner Anblick: Wie schnell die Natur zurückerobern würde, was ihr der Mensch geraubt hat. Als nächstes kämen Wegerich, Sauerampfer, Brennesseln. Dann Birken, Pappeln, Ahorn. In zwanzig Jahren wüchse ein junger Wald. Aber hier wird der Mensch nicht locker lassen, und der Aufmerksamkeit der Autobahnmeisterei wird kein Kräutlein ausweichen können.
Der Trekker ist fort. Meine Wandergefährtin macht ein paar Bilder. Es ist gespenstisch ruhig. Man könnte an eine Katastrophe denken, der alle Menschen zum Opfer gefallen sind: Hier verfiele gerade eines ihrer jüngsten Artefakte, zu dessen Fertigstellung es nicht mehr gekommen ist.
Aber so ist es ja nicht, denke ich bitter, als wir durch den Wald wieder zurück zu unserem schönen Weg gehen, nur fort von hier, zurück dahin, wo alles noch schön und heiter ist. Ein Blick zurück, und die Halde hat sich wieder in einen Grasstreifen verwandelt, und dann in einen braunen Fleck. Die Bäume haben sich geschlossen, die Grasmücke jubelt leise. Die Katastrophe, denke ich, ist noch gar nicht passiert.
Sie wird erst noch kommen.

Frühprotokoll: Einparken

Immer häufiger kommt es vor, daß in unserer Straße einer seinen Wagen laufen läßt. Der Wagen steht, eingeschalteten Lichts, und läuft. Und läuft. Neulich um halb elf nachts, lange Minuten, bis ich dem Krach mittels Ohrstöpseln ein Ende gemacht habe. (Morgens lief er nicht mehr, vielleicht war der Kraftstoff ausgegeangen.) Dann, einen Tag später, im Morgengrauen dasselbe. Minutenlang. In meiner Kindheit war es üblich, im Winter einige Zeit vorm Losfahren den Motor anzuwerfen, um die Fahrgastzelle damit zu heizen, während man noch mit Eiskratzen beschäftigt war. Ich erinnere mich an die dicke blauen Wolken vor gelblichem Scheinwerferlicht in der Dämmerung eisiger Dezembermorgen. Später hieß es, diese Praxis sei verboten worden. Ich habe den Verdacht, daß dieses Verbot, falls es das je gegeben hat, kürzlich wieder aufgehoben worden ist. Gewandelt hat sich jedenfalls allem Anscheine nach die Vorliebe für bestimmte Motortypen. Früher waren das in der Mehrzahl Benziner; heute höre ich zumeist das entsetzlich nervtötende Baßgerassel von Dieselmotoren – auch bei Kleinwagen. Da ich selbst nicht Auto fahre und auch nie eines besessen habe, stehe ich dem Phänomen des Motorlaufenlassens mit bassem Unverständnis gegenüber. Kraftstoff kostet anscheinend doch nicht so viel, wie alle immer behaupten. Noch schlimmer sind allerdings solche Geräusche, die – An- und Abschwellen der Drehzahl, Knirschen im Stand einschlagender Reifen, das abwechselnde Klacken beim Wechsel vom Vorwärts- zum Rückwärtsgang – beim Einparken (oder dem Versuche desselben) entstehen. Auch hierfür habe ich nicht das geringste Verständnis. Wenn ihr’s nicht könnt, so laßt es halt bleiben. Ich laß es ja auch bleiben. Wenn ihr aber unbedingt eine Karre haben müßt, dann seht eben zu, wie und wo ihr sie abstellt, und zwar geräuschlos. Euer Problem. Aber behelligt mich nicht mit Lärm und Abgasen, weil ihr kurzsichtig seid oder kein räumliches Vorstellungsvermögen habt. Ich habe auch keins – aber ich habe auch kein Auto, bitteschön.

Selbstwirksamkeit

Natürlich will niemand zurück zur Steinzeit. Es mag reizvoll sein, uralte Überlebenstechniken wieder zu lernen, wie das große Interesse an dem, was man neuerdings Survival nennt, bezeugt. Aber gewiß will niemand in vollem Ernst ein Steinzeitleben führen, nicht in aller Konsequenz, spätestens, wenn man Zahnschmerzen hat oder sich ein Bein bricht, werden sich Zweifel melden. Aber eines ist es, auf die grundlegendste Form der Selbstwirksamkeit – das Überleben mit dem, was die Natur unmittelbar anbietet – zu verzichten und sich das Leben hier und da durch Maschinen und Werkzeuge zu erleichtern; ein anderes ist, sich mit Haut und Haar der Technik zu überantworten und gänzlich auszuliefern. Man muß nicht die Technik in Bausch und Bogen verwerfen, um sich kleine Bereiche der Selbstwirksamkeit und damit der Kontrolle über die Umwelt zu erhalten oder, wo sie schon verloren sind, zurückzugewinnen. Wobei diese Umwelt selbst wieder technischer Natur sein kann.
Es geht um kleine Bereiche der Freiheit.
Denn der Bezirk, in der der moderne Mensch noch selbstwirksam handeln kann, schwindet. Unangefochten ist er so gut wie nirgends mehr Herr über sein Handeln.
Die elementarste Form menschlicher Fortbewegung ist die auf zwei Beinen. Meine Entscheidung, mich in Bewegung zu setzen, führt unmittelbar zur Bewegung; nichts vermittelt zwischen meinem Willen und seinem Effekt, nichts ist dafür vonnöten außer einer brauchbaren Anatomie. Nicht einmal Schuhe sind zwingend notwendig, allen Aussagen der Outdoorindustrie zum Trotz.
Das Fahrrad bedeutet größere Geschwindigkeit und Reichweite bei geringerer Ermüdung, aber diese Vorteile sind erkauft mit einer Reihe von Abhängigkeiten, wiewohl immer noch ich selbst es bin, der handelt: Ich selbst muß in die Pedale treten, und mein Kraftaufwand steht in direkter, proportionaler Beziehung zum Ergebnis. Trete ich schneller, fahre ich schneller, trete ich langsamer, fahre ich langsamer. Ich kann nicht sagen, daß das Fahrrad für mich fährt oder mir einen Teil der Mühen abnimmt. Wenn das Rad einmal existiert, kommt alles, was ich mit ihm tue, direkt zu mir zurück: als Widerstand, als Beschleunigung, als Geschwindigkeit. Der Punkt ist aber: Das Fahrrad muß erst einmal existieren; jemand muß es gebaut haben, was, wenn man nur die rohe Natur zur Grundlage hat, ein extrem diffiziler Vorgang ist. Ferner braucht es eine Straße, um ordentlich fahren zu können, und wenn der Reifen platzt, nutzt auch die schönste Straße nichts mehr. Und so wie mit dem Fahrrad ist es mit jedem mechanischen Werkzeug. Schere, Schneebesen, Handfeger und Kehrblech; Zange, Schraubenzieher, Mörser. Sense, Spaten, Grabgabel, Gießkanne. Mit all diesen Geräten kann der Mensch unmittelbar in seiner Umwelt wirksam werden. Mein Einwirken auf das Werkzeug hat unmittelbar und in einer Ein-zu-Eins-Beziehung eine Wirkung in der Umwelt, der Hecke, dem Blatt Papier, dem Gras zur Folge. Viele solcher Geräte erfordern ein beträchtliches Geschick, um damit das gewünschte Ergebnis zu erzielen. Man denke an Stricknadeln oder an ein Spinnrad. Auch das Fahrradfahren ist nicht nur anstrengend, es will auch gelernt sein.
Herr der Lage sein, wem gefällt das nicht? Vielleicht hat keine andere technische Errungenschaft so sehr diesen Wunsch bedient wie das Auto. Wer Auto fährt, hat die Macht eines Halbgottes. Wer Auto fährt, dem sind Raum und Zeit untertan. Mühelos schweben wir mit unglaublicher Geschwindigkeit dahin und hören dabei auch noch Musik. Nur Fliegen wäre noch schöner, noch mehr Macht, noch mehr Gotthaftigkeit. Warum nervt der Stau so sehr? Weil die anderen bösen Autofahrer sich erfrechen, uns in unserem Gottsein zu behindern. Sie stehen zwischen uns und der Allmacht. Wir empfinden ja gar nicht das Auto als Maschine – wir fühlen uns selbst vergrößert, ermächtigt, mit unglaublichen Fähigkeiten ausgestattet … vergöttlicht durch die Maschine. Wir sind es ja selbst, die handeln, und so glauben wir unseren Körper nur verlängert und verbessert. Wir fahren, nicht das Auto. Wir sind Herr über die Kilometer, nicht die Maschine. Wir befehlen der Maschine nicht, wie wir einem Diener befehlen. Wir sind die Maschine in dem Moment, wo wir aufs Gaspedal drücken, und der Wagen wie ein Arm oder Bein von uns reagiert. Wir fühlen unseren Willen direkt mit der Maschine verbunden. Die Maschine tut nichts für uns, wir tun es selbst, verlängert, ermächtigt durch die Maschine.
Das glauben wir zumindest. Aber ist schon diese Empfindung Illusion, so wird seit einigen Jahren selbst diese Illusion noch von einer größeren Illusion getragen. Wer früher aufs Bremspedal trat, der konnte sich einbilden, noch selbst zu bremsen: Der Druck aufs Pedal überträgt sich auf eine hydraulische Flüssigkeit, die den Druck zu den Bremsbacken weiterleitet. Das war ursprünglich nicht viel anders als bei einer Heckenschere. Aber schon so etwas wie ein Bremskraftverstärker zerstört diese direkte Wirksamkeit, ist es doch nicht mehr meine Kraft, die sich auf die Bremsbacken überträgt, sondern die Kraft eines Motors, den ich einschalte, wenn ich das Bremspedal trete.
Ist die Geschichte hier schon zu Ende? Mitnichten. Denn jetzt kommt die Elektronik ins Spiel. Wer heute noch glaubt, er fahre sein Auto, täuscht sich gewaltig. Niemand fährt mehr Auto – das Auto fährt uns. Nach unseren Befehlen zwar – aber vielleicht auch das nicht mehr lange. Denn moderne Autos sind längst Smartphones auf Rädern – Computer, die das Fahren erledigen und nebenbei die Illusion aufrecht erhalten, der Mensch am Steuer tue so etwas wie … fahren. Wer tatsächlich fährt, das ist die Bordelektronik. Ein Tritt aufs Bremspedal löst einen Bremsbefehl aus, der am Ende einer Signalverarbeitungskette in eine Bewegung der Bremsbacken umgesetzt wird. Dabei mißt das Bremspedal den Druck des Fußes und leitet diese Information weiter, so daß für den Fahrer der Eindruck entsteht, sein Handeln stehe in unmittelbarer und proportionaler Beziehung zu den Auswirkungen der Umwelt, so wie wir glauben, den Mauspfeil zu bewegen. Tatsächlich gibt der Fahrer aber nur eine Datenkette in einen Computer ein, der dann für den Fahrer bremst. Man könnte diese Unterscheidung für akademisch halten, sie hat meiner Ansicht nach aber zwei wichtige Folgen. Erstens: Indem der Computer das Optimum an Bremskraft aus den Werten für Reifendruck, Geschwindigkeit, Gelände, Straßenbelag, Nässe, Abstand zum vorfahrenden und zum folgenden Fahrzeug etc. berechnet, ist der Bremsvorgang keine Frage des Könnens, der Geschicklichkeit, der Erfahrung des Fahrers. Der Fahrer könnte, statt in die Eisen zu steigen, auch einfach „ich möchte bremsen“ sagen, oder, dramatischer, „Stop!“ Der Schritt, merkt man hier schon, zum vollkommen autonom fahrenden Fahrzeug, dem man nur noch das Ziel eingibt, ist hier nicht mehr weit. Wenn der Computer es doch viel besser kann?
Die zweite Folge ist: Da die Bordelektronik auch Komponenten enthält, die nach außen kommunizieren, beispielsweise Radio, Telephon und Navigationsgerät; ferner Teile, die innerhalb des Fahrzeugsystems per Funk kommunizieren müssen (Messung des Reifendrucks); kann ein solches Fahrzeug prinzipiell gehackt werden, schlimmstenfalls mit tödlichen Folgen.
Doch selbst wenn man dies zu verhindern weiß, bleibt immer noch der Eingriff in die Selbstwirksamkeit des Menschen bestehen, seine Selbstkastration. Denn Autofahren ist ja, bei allen Nachteilen und Gefahren dieser Maschinen für Mensch und Umwelt, dennoch etwas, das gelernt, geübt werden will und zu persönlicher Meisterschaft aufruft. Das Auto war bislang nicht nur eine Maschine, die uns allerlei abnimmt; es ist auch ein Werkzeug, dessen Bedienung Können erfordert und dessen Bemeisterung stolz macht. Sonst gäbe es keine Autorennen. Weil die Erfahrung von Selbstwirksamkeit, egal wie eingeschränkt der Rahmen ist, in dem sie sich zeigen kann, eine beglückende Erfahrung ist. Doch so wie dem Auto wird es vielen Werkzeugen gehen, zu deren Handhabung bislang ein Mindestmaß an Geschick erforderlich war. Schon steuert Elektronik den E-Herd. Gegen eine Energiesparplatte jedoch, die sich im falschen Moment abschaltet, sind alle Kochkünste vergeblich eingesetzt. Nicht besser wäre aber ein Elektroherd mit dem Programm „Steak, medium“, bei dem ich nur noch die Pfanne mit Öl und Fleisch bestücken muß („bitte-jetzt-Steak-wenden-und-eine-Minute-weiterbraten“). Wen sollen dann die Gäste loben, und was ist das Können eines Kochs noch wert, wenn das Computerprogramm ununterscheidbar gute Ergebnisse liefert? Es gäbe keine Meisterköche mehr. Es gäbe überhaupt keine Köche mehr. Und selbsternannte Kenner und Liebhaber würden sich damit brüsten, sie könnten den Unterschied herausschmecken, so wie Musikliebhaber vermeintlich den Unterschied zwischen einer CD und einer analogen Wiedergabe hören können. Offensichtlich will der Mensch aber nicht nur ein perfektes Steak und eine perfekte Klangwiedergabe; der Mensch will Meisterschaft, der Mensch ist verliebt in das Können. Meister können aber nur selbst Menschen sein, nicht Maschinen.
Ja, was ist das Können wert, außer, daß man es bei einem Stromausfall dann doch braucht (vorausgesetzt, man hat einen Gaskocher zur Hand)?
Oder was ist mit Wissen? Neulich im dichtgepackten Zug überlegten zwei Mitreisende, deren Anschluß gefährdet war, die günstigste Strategie, um weiterzukommen. Aussteigen, sitzenbleiben, umsteigen? Da ich auf dieser Strecke die Fahrpläne fast auswendig weiß, war ich drauf und dran, die beiden anzusprechen, um ihnen weiterzuhelfen. Aber ich hatte den Mund noch nicht geöffnet, da wußten sie schon alles.
Von ihrem Smartphone.
Was ist Wissen noch wert?
Abphotographieren und mehr erfahren! Wo kleben sie nicht, die kleinen Quadrate mit den Punktmustern? Ich muß nichts mehr wissen, ein Smartphone genügt. Neulich photographierte ein Bekannter auf einer Feier in meiner Wohnung; plötzlich gibt das Gerät ein Signal: Es hatte im Hintergrund den Druck eines Gemäldes erkannt.
Was ist Wissen noch wert? Früher war Pilzesuchen etwas, das Meisterschaft verlangte, ein Spezialwissen, schwierig zu erwerben und im Falle des Scheiterns mit hohem Risiko verbunden. Man durfte stolz darauf sein, zwei zum Verwechseln ähnliche Fruchtkörper auseinanderhalten zu können. „Der Fruchtkörper ist jung komplett von einem Velum umhüllt. Hut zeigt im Allgemeinen keine Velumreste. Am Stielgrund bleibt das Velum universale als häutig-lappige Volva zurück. Das Velum partiale bleibt als deutlich geriefter, weißlicher, hängender Ring am Stiel zurück. Der Stiel 5 bis 15 Zentimeter hoch, auf weißem Grund olivgrün genattert, Basis knollig verdickt, häutige Scheide. Stiel 2 Zentimeter stark, jung voll, im Alter markig bis hohl. Lamellen weiß. Sporenpulver weiß.“ Schon die Beschreibungssprache ist ein Gedicht. Wie lange wird es aber dauern, bis diese Kenntnisse überflüssig sind, bis mir mein Smartphone sagt, ob der Fruchtkörper, den ich vor mir habe, eßbar ist? Niemand muß dann mehr in die Lehre gehen; man muß nicht einmal genau hinschauen. Unterschiede gehen verloren, Sichtweisen, Dimensionen nicht nur der Kenntnis, sondern auch der Wahrnehmung. Was ich da vor mir habe, ist nur noch ein unscheinbarer Blobb. Meine Fertigkeiten in der Erkennung werden sich auf die Bedienung des Smartphones beschränken.
Möglicherweise ist das Programm weit weniger fehleranfällig als der Mensch und entscheidet im Zweifel richtig. Aber dann bin nicht mehr ich es, der seine Umwelt beherrscht. Nicht ich habe die Kontrolle über die Situation. Nicht ich weiß bescheid, sondern ein Gerät. Man könnte nun sagen, die Meisterschaft ist davon unabhängig. Es sind ja auch Menschen auf den Everest gestapft und haben bewußt das Sauerstoffgerät im Tal gelassen. Aber der Arm des Geräts ist lang. Denn: Ist es nicht besser, ein kleines Sauerstoffgerät mitzunehmen, nur für den Fall der Fälle? Ich muß es ja nicht benutzen. Aber es könnte mein Leben retten, wenn ich mich verkalkuliere oder das Wetter umschlägt. Und sollte ich nicht lieber diesen Maronenröhrling doch noch abphotographieren und von der MycoApp testen lassen? Nur zu Sicherheit. Und Zack! hat mich das Gerät voll im Griff. Denn wer will allen Ernstes auf Sicherheit verzichten? Einen Pilz einfach so bestimmen? Freiäugig? Das ist die Steinzeit!
Und so geht sie dahin, die Selbstwirksamkeit. Wir brauchen keine Orientierung mehr, wir müssen keine Karten mehr lesen können, wir haben den Navi. Wir haben die Strickmaschine und die Nähmaschine, wir haben den Brotbackautomat, der selbsttätig Volumen, Gewicht und Feuchtigkeit des Teiges mißt; wir werden Kühlschränke haben, die uns auf abgelaufene MHDs aufmerksam machen; wir haben Maschinen, die Gesichter erkennen, wir lassen uns von Computern unterrichten; wir haben Melkmaschinen und Schachcomputer, und die Zeit wird kommen, da wir Pflegemaschinen und vollautomatische Duschmaschinen haben werden.
Ich habe kein Smartphone, aber ich rühre Sahne und Kuchen nicht von Hand. Auto fahre ich nicht, aber für meine Wäsche hab ich eine Maschine, und es fiele mir nicht im Traum ein, sie wieder in der Badewanne zu waschen (die Wäsche, nicht die Maschine), obwohl ich weiß, daß ich es kann. Meine Texte schreibe ich nicht mehr von Hand, weil ich es verlernt habe, und meine Bahnverbindung hole ich mir aus dem Netz. Ich besitze sogar eine elektrische Zahnbürste, einen Staubsauger und einen Joghurtbereiter. Ich bin ein Kind des Fortschritts, und Maschinen, die mir das Leben erleichtern und mich für wichtigere Dinge als Wäschewaschen und Besuche am Fahrkartenschalter befreien, begrüße ich rückhaltlos.
Ich will nur diese Dinge bittschön selbst bedienen, und mir von meinem Staubsauger nicht sagen lassen, daß mal wieder ein Hausputz nötig wäre.
Wenn es Schachcomputer gibt, warum läßt man die nicht gegeneinander antreten, wäre das nicht billiger als Turniere mit Menschen? Oder wie wäre es mit Fußballrobotern, die statt Menschen auf den Rasen gehen. Das kriegen die sicher besser hin als jeder Mensch, die ermüden nicht, sie foulen nicht, sie kriegen keinen Kreuzbandriß, und hohe Ablösesummen wollen sie auch nicht haben. Warum also nicht?
Sehen Sie?
Ich meine, daß Selbstwirksamkeit ein unhinterfragbares Gut ist, eine lebenswichtige Erfahrung, deren Notwendigkeit sich nicht an ihren Ergebnissen messen lassen darf. Fußball ist sinnlos, wenn nicht Menschen gegeneinander spielen. Kunst ist sinnlos, wenn sie von einem Algorithmus erzeugt wird. Selbstwirksamkeit hat etwas mit Orientierung, Zurechtfinden und – Kontrolle zu tun. Die Befriedigung aber, die es bedeutet, seine Umwelt zu kontrollieren, sei es, einen Wagen zu steuern, sei es, ein Steak zu braten, oder zu wissen, welchen Pilz man vor sich hat: diese Befriedigung ist tief und elementar.
Durch keine andere Erfahrung zu ersetzen. Wir sollten sie uns nicht nehmen lassen.

Autofahrer

Einer der hartnäckigsten Irrtümer der Autofahrer besteht darin, anzunehmen, nur weil man einen Motor hat, müsse man auch überhall freie Fahrt haben.

Gestern ist einer von denen einem Hindernis auf der Straße ausweichend auf den Bürgersteig gerollt und hat mir fast den Fuß abgefahren. Einmal ist mir dasselbe mit einem Mofafahrer passiert, der auf dem Trottoir glaubte, bei einer Ampelstauung seinem Recht auf freie Fahrt Geltung verschaffen zu können. Auf meinem geharnischten Brüller,, er solle gefälligst die Fahrbahn nehmen kam die Antwort: “Das geht doch nicht, da ist doch Stau!”

Ich meine, wo sollen wir denn noch hin, als Fußgänger? Die Hauswand hoch? In den Gulli runter? In ein kosmisches Wurmloch kriechen? Quantentunneln? Am besten selbst ans Steuer: Es ist der Zuruf eines Autofahrers an einen Fahrradfahrer überliefert, warum der denn nicht Auto fahre “wie normale Leute”

Der Gehweg ist ja bereits ein letztes Reservat, das uns Fußgängern zähneknirschend zugestanden wird. Daraus kann uns offenbar jeder motorisierte Idiot vertreiben, wenn ihm die Straße nicht ausreicht. Denn: Stillstand ist der Tod. Alle Räder müssen rollen. Vorwärts Marsch!

Den Becher zum Grund

Daß der Becher immer bis zur Neige geleert werden muß, ich halte das für eins der größeren Hemnisse eines besseren Lebens. Der Verlust an Spielräumen umfaßt weit mehr als nur die Plünderung von endlichen Ressourcen, hat nicht allein ökologische Relevanz. Es ist ein Verhaltensmuster, das überall begegnet und neben materiellen Ausbeutungsverlusten auch einen inneren Verlust bedeutet: Den Verlust der Gelassenheit.

Jede neue Technologie stößt einen Handlungsraum auf, der stets bis in den letzten Winkel besetzt werden muß. Es genügt nicht, das Mobiltelephon bei Panne, Unfall und Gefahr zu benutzen, sondern die Möglichkeiten der allverfügbaren Kommunikation werden sämtlich geprüft und realisiert, von der Last-Minute-Verabredung bis zum Bussi vom Gipfel des Everest.

Wenn es doch schonmal da ist.

Und genau darum geht es. Es ist die ausbeuterische, versäumnispanische Mentalität des Wenn-es-doch-schonmal-da-Ist, die Spielräume, Reserven, Freistunden vernichtet und damit genau das unmöglich macht, was uns doch scheinbar so sehr am Herzen liegt: Das selbstbestimmte Handeln.

Oder ist es ein Zeichen von Eigenverfaßtheit, wenn ich ausnahmslos jede Möglichkeit einer Technologie nutze? Handele ich selbstbestimmt, wenn ich, statt alles einmal ruhen zu lassen, immer an die Grenzen gehe und mir selbst keine anderen auferlege, als die Technik sie mir zieht? Handele ich selbstbestimmt, wenn ich die Technik die Grenzen meiner Möglichkeiten bestimmen lasse? Handele ich selbstbestimmt, wenn ich auf einer Wanderung im schottischen Hochland nachts im Zelt liegend mobil nach Hause telephoniere? Oder unterwerfe ich mich da einem Zwang zum Tellerleeressen, zum Ausschöpfen aller Möglichkeiten?

Es mag harmlos sein, aber man darf vermuten, daß die Folgen solchen Ausschöpfens weiter reichen, als die Stille des schottischen Hochlands zu stören. Es gibt beispielsweise keine Straßen mehr, die ein lediglich latenten Bedürfnis, zwei Orte miteinander zu verbinden, befriedigt: Wo heute eine Straße ist, wird auch gefahren, und zwar ständig, als gäbe es den Zwang, dieses Streifchen Asphalt schon allein deshalb zu benutzen, weil es da ist. Das bedeutet nicht nur unmittelbar Lärm, Gestank und Aufmerksamkeitsforderung (durch die Gefahr, die von jedem rollenden Fahrzeug ausgeht); es bedeutet auch, daß die Straße als Lebensraum und Öffentlichkeit nicht mehr genutzt werden kann, weil ständig Verkehr herrscht. Es bedeutet, daß keine Kinder auf der Straße spielen. Und weil die Benutzung von Straßen den Bau weiterer Straßen nach sich zieht, bedeutet es eine allmähliche Verstraßung von Landschaft mit allen nervtötenden Folgen. Der Zwang zum Ausschöpfen beginnt im Kleinen und setzt sich im Großen fort. Gewinne zu machen ist schön. Aber es reicht nicht. Es muß nicht nur gewonnen werden, es muß so viel wie möglich gewonnen werden. Man nennt das Gewinnmaximierung. Die ihr zugrunde liegende Mentalität beginnt mit der Ruftaste des Mobiltelephons. Eine ausgefallene Verabredung muß sofort durch etwas anderes ersetzt werden. Und da das Mobiltelephon schnmal da ist, da könnte man doch …

Der Säufer muß den letzten Schluck aus der Flasche nehmen, auch wenn’s längst nicht mehr schmeckt. Und so ist es mit allem. Das Mobiltelephon ist immer mit dabei, es könnte ja was dazwischenkommen. Mit dem Auto erreicht man nicht schneller und bequemer zu Fuß erreichbarer Ziele, sondern der Radius des Erreichbaren wächst. Mit dem Auto kommt man schneller an Ziele, an die man vorher gar nicht gedacht hätte. Das Vorhandene wird nicht vereinfacht, sondern es nimmt zu, bis die Grenzen abermals erreicht sind. Brauchte ich eine Stunde mit dem Fahrrad, brauche ich jetzt immer noch eine Stunde, das Ziel ist aber dreimal so weit weg.

Immer an den Grenzen des Machbaren, ob es wünschenswert ist oder nicht: Wenn die Verfertigung eines Geschäftsbriefes statt früher eine halbe Stunde heute dank EDV-Anlage nur noch fünf Minuten benötigt, dann würde ein wahrer Zugewinn für Leben und Wohlbefinden darin liegen, die eingesparten fünfundzwanzig Minuten für die Lektüre eines guten Buches zu verwenden, oder sie bei einem gemütlichen Kaffee ganz gelassen zu verschwenden. Nicht zur Erhaltung der Arbeitskraft, nicht zum chillen oder networken, sondern einfach nur, um einen Kaffee zu trinken und sich zu freuen, daß das Leben schön ist. Das ist überhaupt etwas, das wir verlernt haben: Zeit zu verschwenden. Stattdessen schreiben wir in den gesparten fünfundzwanzig Minuten lieber sechs Briefe, haben nichts gespart und glauben auch noch, wir hätten einen gewaltigen Fortschritt gemacht. Umgekehrt bedeutet das zwanghafte Ausschöpfen des Möglichen eine Vervielfachung von Arbeitszeit. Weil es die Möglichkeiten gibt, müssen sie auch genutzt werden: Da ist es dann nicht mehr genug, einfach einen Brief zu schreiben, wie man ihn früher mit der Maschine geschrieben hat. Neue Technologie will eben ausgeschöpft sein, also müssen Fragen wie Schriftgröße, Schriftschnitt, Zeilenabstand, Einrückungen und weiß der Setzer nicht alles berücksichtigt werden, ehe man den ersten Buchstaben schreibt. Wer heute einen Geschäftsbrief schreiben will, braucht eine halbe Typographenausbildung. Nicht weil es komplizierter geworden wäre, einen Brief zu schreiben, das gerade nicht: Es ist einfacher geworden. Aber man man es sich nicht so einfach, wie es geworden ist. Sondern so kompliziert, wie es ein Ausreizen aller Möglichkeiten erfordert. Die Flasche will gelehrt sein, auch wenn’s nicht schmeckt.

Die besten Energiesparkonzepte bringen leider gar nichts, wenn man den Verbrauch anschließend so weit erhöht, wie er vor Einführung der Sparmaßnahme lag. Man läßt die Lampe länger brennen, weil man es sich leisten zu können glaubt. Es ist ja schließlich eine Energiesparlampe. Man fährt mehr und schneller Auto seit man einen geregelten Drei-Wege-Kat im 3-Liter-Wagen hat. Und dank Wärmedämmung hat man es jetzt bei 23 Grad Raumtemeperatur viel behaglicher als bei den gewohnten 20 Grad im unsanierten Altbau. Der Kühlschrank ist ein Energiespargerät, da drehe ich ihn doch gleich mal höher. Und mit der modernen Waschmaschine leiste ich mir vier Wäschen pro Woche, statt zu warten, bis die Trommel voll ist. Dummerweise funktioniert Energiesparen so nicht.

Ein Auto oder einen Computer für viel Geld erstanden zu haben, scheint für manche Leute absurde Folgen zu haben. Zur Mentalität des Wenn-es-schonmal-da-Ist kommt noch eine Logik hinzu, nach der ein teures Gerät möglichst oft benutzt werden muß, damit sich seine Anschaffung auch gelohnt habe. In einer schrecklichen Verdrehung von Ursache und Wirkung schafft so der Gegenstand seine eigenen Bedürfnisse, statt daß die Bedürfnisse zuvor nach dem Gegenstand verlangt hätten. Man geht täglich ins Schwimmbad, nicht, weil man es möchte, sondern damit sich die Jahreskarte lohne. Nicht, ob sich das Auto bei den bestehenden Bedürfnissen und Gewohnheiten lohnt, fragt man sich, sondern man schafft es an und fährt danach herum, als gelte es das Leben.

Was wäre selbstbestimmt? Das Auto stehenlassen, einmal schweigen statt reden, Zeit verschwenden, zu Fuß gehen, einen Termin versäumen. Kaffee trinken, ein Schwätzchen halten und sich freuen, daß man auf einem Planeten lebt, auf dem es Schokolade gibt. Verzichten; und dabei gewinnen. Gewinnen an Ruhe, an Gelassenheit, an Selbstbestimmung. Selbstbestimmt die Technik nutzen, das wäre: Mindestens die Prüfung der eigenen Bedürfnisse. Dann, das Erworbene in den Dienst dieser Bedürfnisse zu stellen. Und alles weitere gelassen zu ignorieren.

Im später, verrückt. Zwei Anmerkungen.

Elsa schrieb:

“Ich mache mir darüber auch oft Gedanken. Setze die Zäsur aber so um 1989 an. (Vielleicht fällt das sogar um die Zeit deiner Griechenlandrückkehr). Ab da ist der Turbokapitalismus richtig durchgestartet. Wie du richtig bemerkst, begann da auch die Ära nicht nur der Globalisierung (die es ohne Eisernen Vorhang vielleicht gar nicht gegeben hätte?), sondern auch des ständigen VERWEISES auf die Globalisierung. Schnitt.

Ein Beispiel: Vor 25 Jahren besaß man als Geschäftsmann, der viel unterwegs und dennoch erreichbar sein musste, ein Autotelefon, so groß wie heute ein Multifunktionsdrucker zum Scannen, Kopieren und Faxen. Das war 10.000 DM wert.
Heute hat jeder Arbeitslose mindestens zwei Handys und ist ständig mit ihnen beschäftigt. Immerhin.
Turbokapitalismus, Globalisierung und IT-Zeitalter. Kann es sein, dass der komplette Thomas von Aquin mittlerweile online verfügbar ist? Und hat uns das irgendwie weitergebracht? Ich meine, in der gesamten Gesellschaft?

Es gibt auch inwendige Gründe. Vielleicht sind wir einfach zu alt. Zu früh geboren (insgesamt natürlich zu spät, aber hier an diesem Punkt zu früh) … weil, vielleicht heißt es ja in 30 Jahren, dass wir uns nach der Neuen Rechtschreibung zurücksehnen und den schönen Handys, die “nur” telefonieren, online gehen, fotografieren und Textverarbeitung boten? vielleicht stehen wir in 30 Jahren mit Jugendlichen in einem Fahrstuhl, die anstatt via Handy zu surfen, kybernetischen Geschlechtsverkehr haben, während wir daneben stehen?
Vielleicht sind in der Zwischenzeit aber auch wirklich alle verrückt geworden und wir sträuben uns noch allzusehr, uns einfach zu ergeben?
ABER: Gab es dieses “Narrenschiff”- Bild für die Gesellschaft nicht bereits vor Hunderten oder gar Tausend Jahren?
Also kann es nicht an uns liegen … :)))”

Du hast recht, daß es zu jeder Zeit Stimmen gab, die behaupteten, die Menschen seien verrückt geworden. Aber die Konsequenz daraus, nämlich die Vermutung, daß es dann wohl nur eine Frage der Wahrnehmung sei, was man als verrückt empfinde und was nicht, macht mich auf eine hilflose Weise zutiefst traurig. Denn dann gäbe es ja überhaupt keinen Maßstab mehr dafür, was vernünftig oder töricht, echt oder oberflächlich, ernst oder albern, bedeutsam oder banal, schön und häßlich ist. Dann ist einfach alles beliebig. Gleich gut. Egal. Macht was ihr wollt. Dann ist alles einfach nur Kampf, eine Schlacht, die diejenigen gewinnen, die am lautesten brüllen und die schrillsten Klingeltöne haben. Diejenigen, die in der Mehrheit sind, wie widerlich ihre Ansichten und Werturteile, wie gedankenlos ihre Wahl und Entscheidung für oder gegen etwas auch sein mögen. Es tut mir körperlich weh, wenn Menschen auf der Straße oder wo immer sie gehen und stehen in ihre kleinen silbernen Kästchen sprechen. Es ist nicht einfach nur, daß ich das dumm und überflüssig finde. Es macht mich krank, mitansehen zu müssen, wie alle, ausnahmslos alle, vom selben Wahn ergriffen werden; wie alle sich, unabgesprochen, darüber einig sind, wie die Welt auszusehen habe; wie niemand auch nur fünf Minuten einhält und einmal wenigstens eine wirkliche Entscheidung trifft, eine Entscheidung, der man anmerken würde, daß sie aus dem ureigenen selbstgegebenen Gesetz dieses Menschen entsprungen ist. Vielem von dem, was die Menschen so tun und lassen, scheint mir dagegen überhaupt keine echte Entscheidung vorangegangen zu sein. Man tut’s, weil’s halt alle so machen, Und weil es ja ach so praktisch ist. Die Idee, daß man aus sehr guten Gründen auf das Praktische auch verzichten kann, scheint niemand zu haben.

Was das Alter angeht, so spricht gegen Deine Vermutung, daß ich zu den Verrückten Menschen jedes Alters zählen muß; sie eint, nicht die Generation, sondern der Wahn selbst. Allerdings muß ich zugeben, daß ich das von Dir angesprochene Gefühl teile. Es ist nur eine andere Form des Grauens, über die auch noch zu sprechen wäre.

Meine Zäsur war übrigens 9 Jahre nach Deiner, also 1998. Ich habe jetzt noch einmal darüber nachgedacht und bin zum Schluß gekommen, daß es auch damit zusammenhängt, daß dies eine Zeit war, in der ich einige Ziele und Wünsche, die mich bis dahin geleitet hatten, ein für allemal verwarf. Das bedeutete, daß vieles für mich einerseits zwar irrelevant wurde, andererseits aber genau deshalb in kritischer Weise und mit unbeteiligtem Abstand beurteilbar. Vieles wurde dadurch leichter, aber ebenso viel wurde schwieriger (und quält mich bis heute). Genau an diesem Punkt begann mich zu ärgern, was vor der Zäsur möglicherweise noch als erstrebenswert für mich selbst gegolten hätte. Ein Auto zu besitzen und zu fahren, beispielsweise: Plötzlich war alles voll von ihnen, sie stanken, sie zeugten von Gedankenlosigkeit, Arroganz und Herrschaftswillen, sie nahmen mir die Vorfahrt und die Freude an der Bewegung. Das alles aber erst, seit klar war, daß ich nie eins besitzen würde. Möglicherweise würde ich heute auch das Internet für albern und verrückt halten, wenn ich nicht gerade im letzten Moment noch aufgesprungen wäre.
Es war ein Wertherscher Rückzug ins Innen, den ich damals vollzog; freilich ohne zu ahnen, daß das Außen mit aller Gewalt zurückschlagen würde.

Und damit bin ich bei Deiner entscheidenden Frage: Hat uns das alles weitergebracht? Die manchmal grandiose Kluft zwischen technischem Fortschritt und seiner Umsetzung zum Wohle des menschlichen Daseins ist mir einmal schlagend klar geworden angesichts eines Flugzeugs, das, behängt mit einer hunder Meter langen, buntbedruckten Stoffschleppe, auf der „Kodak“ oder „Fuji“ oder weiß der Geier was zu lesen war, seine trägen Runden über Köln zog. Es erschien mir plötzlich so widersinnig: Da hat es die Menschheit tatsächlich geschafft, so ein Stahldings zum Fliegen zu bringen (ich meine, zum Fliegen!), und dann weiß diese Menschheit nichts Besseres damit anzufangen, als eine bedruckte Stoffbahn daranzuhängen und ein paarmal damit über der Stadt Köln herumzuwedeln. Ich dachte: Würde morgen der Null-T-Transport oder die Zeitmaschine erfunden, würde man als erstes Null-T-Reisen zu den schönsten Stränden der Welt („… und abends sind Sie wieder zuhause!“) und Real-World-Abenteuerausflüge ins Mittelalter unternehmen. Ich meine also: Nein. Unsere ganzen Erfindungen haben uns nicht weitergebracht, außer vielleicht, das Leben hier und da angenehmer zu machen (aber nutzen wir die gewonnene Zeit?) – ich denke, das hast Du aber nicht gemeint. Es lesen bestimmt nicht mehr Menschen die Summa Theologiae, seit der Text online verfügbar ist. Freilich ist es für die, die sie ohnehin lesen würden, eine enorme Erleichterung. Aber ein größerer Schritt nach vorne dürfte für die Menschheit kaum dabei herausspringen.