Privatsphäre (Sen. Ep. III, 25)

„Handle stets so, sagt [Epikur], als ob Epikur dir dabei zusähe.“ Ohne Zweifel ist es nützlich, sich selbst einen Aufpasser zur Seite zu stellen und jemandem zu haben, mit dem man rechnen muß, den man sich als Mitberater bei den eigenen Entschlüssen vorstellen kann. Am besten wäre es freilich, so zu leben wie unter den wachsamen Augen eines stets anwesenden vortrefflichen Menschen; doch bin ich schon damit zufrieden, wenn du in allem so handelst, als sähe jemand Beliebiges zu. Alles Schlechte empfiehlt uns das Alleinsein. Wenn du schon so große Fortschritte gemacht hast, daß du dir eine gewisse Ehrerbietung zollen magst, kannst du den Lehrmeister wegschicken: Bis es so weit ist, begib dich in die Obhut von Leuten, deren Vortrefflichkeit unbestritten ist – Catos oder Scipios oder Laelius’ oder irgendeines anderen, durch dessen Einschreiten selbst verwahrloste Menschen ihre Fehler unterdrücken würden. Das tu, bis du selbst einer geworden bist, in dessen Gegenwart du keinen Fehler zu machen wagst. Wenn du das geschafft hast und bei dir eine ehrfurchtsvolle Haltung dir selbst gegenüber eingetreten ist, will ich dir zugestehen, was auch Epikur nahelegt: „Besonders dann ziehe dich in dich selbst zurück, wenn du gezwungen bist, dich in einer Menge aufzuhalten.“ Du mußt dich von den Vielen unterscheiden, solange es noch nicht gut für dich ist, dich zu dir selbst zurückzuziehen. Schau dir die Leute an: Es gibt keinen, für den es nicht vorteilhafter wäre, bei irgendeinem beliebigen anderen zu sein, als bei sich selbst. „Besonders dann ziehe dich in dich selbst zurück, wenn du gezwungen bist, dich in einer Menge aufzuhalten.“ – ja, wenn du ein guter Mensch bist, wenn du ruhig bist und besonnen! Andernfalls solltest du dich vor dir selbst in die Menge zurückziehen: Denn bei dir selbst bist du dann einem schlechten Menschen allzu nahe. Lebe wohl.

„Sic fac“ inquit „omnia tamquam spectet Epicurus.“ Prodest sine dubio custodem sibi imposuisse et habere quem respicias, quem interesse cogitationibus tuis iudices. Hoc quidem longe magnificentius est, sic vivere tamquam sub alicuius boni viri ac semper praesentis oculis, sed ego etiam hoc contentus sum, ut sic facias quaecumque facies tamquam spectet aliquis: omnia nobis mala solitudo persuadet. [6] Cum iam profeceris tantum ut sit tibi etiam tui reverentia, licebit dimittas paedagogum: interim aliquorum te auctoritate custodi – aut Cato ille sit aut Scipio aut Laelius aut alius cuius interventu perditi quoque homines vitia supprimerent, dum te efficis eum cum quo peccare non audeas. Cum hoc effeceris et aliqua coeperit apud te tui esse dignatio, incipiam tibi permittere quod idem suadet Epicurus: „tunc praecipue in te ipse secede cum esse cogeris in turba“. [7] Dissimilem te fieri multis oportet, dum tibi tutum [non] sit ad te recedere. Circumspice singulos: nemo est cui non satius sit cum quolibet esse quam secum. „Tunc praecipue in te ipse secede cum esse cogeris in turba“ – si bonus vir , si quietus, si temperans. Alioquin in turbam tibi a te recedendum est: istic malo viro propius es. Vale.

„Wenn es etwas gibt, von dem Sie nicht wollen, daß es irgend jemand erfährt, sollten Sie es vielleicht ohnehin nicht tun.“ (Eric Emerson Schmidt, Vorsitzender von Google Inc.)

Martial, 5,58

Morgen, sagst du, Postumus, immer, werdest du leben:
sage mir, Postumus, wann ist dieses Morgen denn da?
Ach, wie fern ist dies Morgen! Wo ist es? Wo soll man es suchen?
Ob bei den Parthern es sich oder Armeniern versteckt?
Dieses Morgen hat schon das Alter von Priam’ und Nestor.
Sag’ mir, für welchen Betrag steht dieses Morgen zum Kauf?
Morgen erst? Schon ist’s zu spät, mein Postumus, heute zu leben:
Weise, Postumus ist, welcher schon gestern gelebt.

Martial, 5,58

Cras te victurum, cras dicis, Postume, semper:
dic mihi, cras istud, Postume, quando venit?
Quam longe cras istud! ubi est? aut unde petendum?
Numquid apud Parthos Armeniosque latet?
Iam cras istud habet Priami vel Nestoris annos.
Cras istud quanti, dic mihi, possit emi?
Cras vives? Hodie iam vivere, Postume, serum est:
ille sapit quisquis, Postume, vixit heri.

Martial III, 87

Narrat te rumor, Chione, numquam esse fututam
    atque nihil cunno purius esse tuo.
Tecta tamen non hac, qua debes, parte lauaris:
    si pudor est, transfer subligar in faciem.

Chione, man sagt, es habe gefickt dich noch keiner,
    und nichts Reineres gäb’s, als deine Möse, weithin.
Trotzdem wäschst du dich nicht an der Stelle, wo du es müßtest:
    Wenn du Schamgefühl hast, häng dir den Rock
vor’s Gesicht.

Herodot, Historien I, 139

Bei Herodot (I, 139) gibt es eine Stelle, wo man sich an gewisse onomastische Verhältnisse bei Asterix erinnert fühlt:

Auch folgendes hat sich bei den Persern so ergeben, was ihnen selbst gar nicht klar ist, mir aber schon: Ihre Eigennamen, die körperliche Eigenschaften oder gesellschaftlichen Rang bezeichnen, enden alle auf denselben Buchstaben, den die Dorer „San“, die Ionier „Sigma“ nennen; wenn man diese Sache untersucht, stellt man fest, daß alle Namen der Perser so enden, nicht die einen so und die anderen anders, sondern alle gleichermaßen.

καὶ τόδε ἄλλο σφι ὧδε συμπέπτωκε γίνεσθαι, τὸ Πέρσας μὲν αὐτοὺς λέληθε, ἡμέας μέντοι οὔ• τὰ οὐνόματά σφι ἐόντα ὅμοια τοῖσι σώμασι καὶ τῇ μεγαλοπρεπείῃ τελευτῶσι πάντα ἐς τὠυτὸ γράμμα, τὸ Δωριέες μὲν σὰν καλέουσι, Ἴωνες δὲ σίγμα• ἐς τοῦτο διζήμενος εὑρήσεις τελευτῶντα τῶν Περσέων τὰ οὐνόματα, οὐ τὰ μὲν τὰ δ’ οὔ, ἀλλὰ πάντα ὁμοίως.

Dazu schreiben W. W. How & J. Wells (A Commentary on Herodotus, Oxford 1912):

Herodotus is at his weakest as a linguist (cf. explanation of royal names, vi. 98. 3 n.); yet he seems to have valued himself on this score. He makes two remarks on Persian names, which are both inaccurate:
(1) That they all have a certain meaning. σῶμα is variously taken (a) by Stein, in ageneral sense, „individuals (32. 8) and their honourable nature“; (b) by Macaulay, „their bodily shape“ (which is simpler). Whichever sense be given, Herodotus is too absolute; nor is he consistent; cf. vi. 98. Some Persian names referred to deities (cf. Mithradates, „given by Mithra“); others to personal appearance (Otanes, „fair of body“); others (e.g., Darius, „possessor“) to position, etc.
(2) That all names end in S. This, in the first place, ignores all feminine names. Even of men’s names, it is only true of the Greek forms; in Persian, s (sh) was retained after i or u, e.g., Darayavaush = Darius, but not otherwise, e.g., Vistâçha (Hystaspes), where, however, the final a was not written. For the interesting statement as to the Greek alphabet cf. Roberts, Gk. Epig. p. 8seq. The Phoenicians had four signs for sibilants, each of which was borrowed in part by Greece:
(1) The hard Samech (No. 15 in the Phoenician alphabet), probably = „Sigma“ Others, however, make „σίγμα“ („the hissing letter”) a genuine Greekword (from σίζω).
(2) The lingual Tsade.
(3) The palatal Shin.
(4) There was also the soft Zazin.
Of these the name Tsade survives in Zeta, while „Samech“ was transferred to the place of „Shin“ The sign of Samech and its place in the alphabet after Nun, were left to the later Xi.

Latrina latina

Gestern fragte mich mein Nachhilfeschüler nach dem lateinischen Ausdruck für „kacken“. Seien wir nachsichtig, er ist 13, und man darf noch froh sein, daß er nicht nach solchen Vokabeln fragt, wie sie allenfalls in manchen Catullgedichten vorkommen. Nun ja. Ein bißchen in Verlegenheit, weil einem solche Ausdrücke nicht sofort auf der Zunge liegen, zumindest nicht auf Latein, erinnerte ich mich dann aber an einen gewissen Graffito aus Pompeji, in welchem davor gewarnt wird, an nämlicher Stelle zu urinieren oder, na ja, zu kacken eben. Nachdenklich macht dabei der in der Warnung zur Sprache kommende Ort des improvisierten Klos. Offenbar war der Hinweis nötig, daß es unfein ist, sich über Gräbern zu entleeren.
Man beachte, daß diese Lateinische Version eines Textes der heutigen Sorte „Hunde an der Leine führen“ oder „Rasen betreten verboten“ in Versen formuliert ist und aus zwei elegischen Distichen besteht. Damit orientiert sich der Text an der Form des Epigramms, das ursprünglich in Weih- und Grabinschriften verwendet, später aber auch mit dichterischer Intention für allerlei kritische, witzige und pointenreiche Gedichte in Gebrauch genommen wurde. Beispielsweise dieses kleine Epigramm vom wohl berühmtesten aller Epigrammatiker, Martial:

Esse nihil dicis quidquid petis, inprobe Cinna:

si nil, Cinna, petis, nil tibi, Cinna, nego.

(III, 61)

„Es sei doch gar nichts, worum du mich bittest, sagst du, unverschämter Cinna: Na, wenn du mich um nichts bittest, dann schlage ich dir ja auch nichts ab.“

Gleichzeitig ist der Graffito eine Parodie auf den Inhalt des typischen Grabepigramms, indem es einen gängigen Topos aufgreift: die Verfluchung des Grabschänders. Nur daß hier die Nemesis darin besteht, daß den vorwitzige Notdurftverrichter Brennesseln an einer empfindlichen Stelle reizen mögen. Zum Vergleich ein Ausschnitt aus einer Art „echten“ Grabepigramms des Horaz (kein eigentliches Grabepigramm, aber der Fluchtopos ist der gleiche):

At tu, nauta, uagae ne parce malignus harenae

ossibus et capiti inhumato

particulam dare: sic, quodcumque minabitur Eurus

fluctibus Hesperiis, Venusinae

plectantur siluae te sospite multaque merces,

unde potest, tibi defluat aequo

ab Ioue Neptunoque sacri custode Tarenti.

Neglegis inmeritis nocituram

postmodo te natis fraudem committere? Fors et

debita iura uicesque superbae

te maneant ipsum: precibus non linquar inultis

teque piacula nulla resoluent.

(carmina I, 28)

„Aber du, Seemann, zögere nicht boshaft, ein Körnchen des wehenden Sandes zu schenken: So sollst du heil bleiben, während, was auch immer der Eurus mit den Fluten Hesperiens vorhat, nur die Wälder Venusinas trifft, und reiche Ware, woher nur möglich, soll dir vom gerechten Jupiter und vom Wächter des heiligen Tarent, Neptun, zufließen. Willst du aber leichtfertig einen Frevel begehen, der deinen Kindern später schaden wird, die nichts dafür können? Vielleicht auch holt die verdiente Gerechtigkeit und die Rache für deinen Hochmut dich selber ein: Meine Bitten um Vergeltung werden nicht unerhört bleiben, dich aber werden keine Gebete erlösen.“

Hier aber nun sind es Brennesseln. Hohe Form für einen banalen Anlaß. Elegisches Distichon, tja. Unterhalb dessen griff der Lateiner erst gar nicht zur Feder. Man stelle sich vor, wie das wäre, wenn statt eines „Ballspiele untersagt“ ein mahnendes

Kinder, der Rasen ist schön, drum trampelt ihn nicht mit den Füßen

Hier zu kicken den Ball, raten möcht ich euch nicht!

auf der grünen Tafel zu lesen wäre. Das elegische Distichon setzt sich im übrigen aus je einem (katalektischen) daktylischen Hexameter und einem daktylischen Pentameter zusammen. Letzteren kann man sich als aus zwei halben Hexametern bestehend denken, die jeweils an der Penthemimeres (nach fünf Halbfüßen) „abgeschnitten“ sind. Ein berühmtes Beispiel ist die Charakterisierung des elegischen Distichons von Schiller – in Form eines nämlichen Distichons, versteht sich:

Ím Hexámeter steígt des Spríngquells flü´ssige Säúle.

Ím Pentámeter draúf fä´llt sie melódisch zurü´ck.

Was Matthias Claudius zu folgender Parodie inspirierte:

Im Hexameter zieht der ästhetische Dudelsack Wind ein;

Im Pentameter drauf läßt er ihn wieder heraus.

Die Forderung, im zweiten Halbvers des Pentameters keine Spondäen (Folgen von zwei langen Silben) zuzulassen, ist in dem Pißverbotsepigramm auch eingehalten.

Hier aber nun der Text:

Hospes adhuc tumuli ni meias ossa precantur.

Nec, si vis huic gratior esse, caca !

Urticae monumenta vides. Discede, cacator !

Non est hic tutum culum aperire tibi.

Fremder, dich bitten die Knochen, doch nicht an die Gräber zu pinkeln.

Noch, willst freundlich du sein, mach hier dein großes Geschäft!

Vor einem Denkmal voll Brennesseln stehst du, verschwinde, du Kacker!

Nicht ist es sicher für dich, hier zu enblößen den Arsch.

Fortsetzung

Schon fiel Asche auf die Schiffe nieder, desto heißer und dichter, je näher sie kamen; dann sogar Lavabrocken und schwarze, verbrannte, im Feuer geborstene Steine; dann eine plötzliche Untiefe, und das Ufer von einem Bergsturz abgeriegelt. Nach kurzem Zögern, ob er umkehren solle, sprach er zum Steuermann, der ihm dazu riet, „Dem Tapferen hilft das Glück: Fahr zu Pomponianus.“ Dieser hielt sich in Stabiae auf, durch die Bucht von uns getrennt – denn die Küste weicht hier allmählich in Windungen und Krümmungen zurück –; dort hatte er, obwohl die Gefahr sich noch nicht näherte, aber doch schon abzusehen war, und, würde sie zunehmen, sehr nahe wäre, sein Gepäck auf Schiffe geladen, zu Flucht entschlossen, wenn nur der ungünstige Wind sich erst gelegt hätte. Unter diesem Wind läuft nun mein Onkel ein, umarmt Pomponianus, tröstet den Zitternden, muntert ihn auf, und läßt sich schließlich ins Bad bringen, um so mit seiner eigenen Seelenruhe die Furcht des anderen zu besänftigen; nach dem Bade legt er sich zu Tisch und speist heiter oder – was genauso großartig ist – sich den Anschein der Heiterkeit gebend. Inzwischen leuchteten vom Vesuv her breite Feuersbrünste und hohe Brände, deren strahlende Helligkeit durch die Schwärze der Nacht noch verstärkt wurde. Als Gegenmittel gegen ihre Furcht sagte mein Onkel immer wieder, daß die Bauern in ihrer Panik die Herdfeuer sich selbst und ihre Häuser verlassen hätten, und das es diese seien, die dort nun allein vor sich hin brennten. Dann begab er sich zur Ruhe und schlief auch wirklich; den sein tiefes Atmen, das bei ihm wegen seiner Leibesfülle ziemlich tief und laut war, wurde von denen gehört, die an der Schwelle lauschten. Aber Gelände, von wo man das Gartenhaus betrat, hatte sich schon mit einem Gemisch aus Asche und Lava gefüllt und war so sehr angestiegen, daß, wenn mein Onkel länger im Schlafgemach geblieben wäre, er nicht mehr ins Freie hätte gelangen können. Man weckt ihn, er kommt heraus und gesellt sich zu Pomponius und den anderen, die die Nacht durchwacht hatten. Gemeinsam beratschlagen sie, ob sie im Haus bleiben oder sich lieber draußen aufhalten sollen. Denn die Wände neigten sich unter zahlreichen, heftigen Erdstößen, und wie aus ihrem Fundament gerissen, schienen sie sich mal hierhin mal dorthin zu verschieben und wieder zu ihrer alten Lage zurückzukehren. Unter freiem Himmel andererseits fürchtete man den Hagel von Lavabrocken, wenn diese auch leicht und schon ausgeglüht waren; dennoch sprach ein Abwägen der Gefahren für diesen Weg; bei meinem Onkel trug freilich die eine Überlegung über die andere, bei den übrigen aber die eine Furcht über die andere den Sieg davon. Sie legen sich Kopfkissen aufs Haupt und befestigen sie mit Leintüchern; das war ein Schutz gegen die fallenden Steine. Andernorts war schon Tag, hier aber herrschte noch Nacht, schwärzer und undurchdringlicher als je eine; aber sie wurde auch von Fackeln und verschiedenartigen Lichtern erhellt. Man beschloß, zum Strand hinunterzugehen und aus der Nähe zu sehen, ob das Meer schon eine Fluchtmöglichkeit böte; aber es blieb aufgewühlt und der Wind ungünstig. Dort legte sich mein Onkel auf ein niedergeworfenes Leintuch, bat immer wieder um kaltes Wasser und trank es. Dann lassen Flammen und der Vorbote von Flammen, ein Geruch nach Schwefel, die anderen das Weite suchen, meinen Onkel aber scheuchen sie auf: Gestützt auf zwei Sklaven steht er auf – und bricht sofort wieder zusammen, weil, wie ich vermute, der ziemlich dichte Rauch ihm das Atmen schwer machte, indem sich seine Luftröhre, von ihrer Anlage her schwach, eng und oft flatterig, verschloß. Als das Tageslicht wiederkehrte – es war der dritte seit dem, an dem er zuletzt gelebt hatte – fand man seinen Leichnam unversehrt, ohne Verletzung, in den Kleidern, die er zuletzt getragen. Sein Körper glich mehr einem Schlafenden denn einem Toten.

Währenddessen waren meine Mutter und ich in Misenum – aber das ist für die Geschichte ohne Belang, und Du hattest ja nur vom Tode meines Onkels erfahren wollen. Also schließe ich hier. Eines nur möchte ich hinzufügen, daß ich nämlich alles, bei dem ich selbst zugegen, und auch, was ich gleich danach, als es noch am genauesten im Gedächtnis war, gehört, getreulich berichtet habe. Du wirst daraus das wichtigste auswählen. Es ist nämlich etwas anderes, ob man einen Brief oder ein Geschichtswerk, ob man einem Freunde oder für alle Menschen schreibt. Lebe wohl.

a.d. IX Kal Sept. anno 832 (24. August 79)

C. Plinius grüßt Tacitus

Du bittest mich, daß ich Dir vom Ende meines Onkels schreibe, damit Du den Nachfahren wahrhaftiger davon berichten kannst. Ich danke Dir; denn ich sehe, daß seinem Tode, wird er von Dir gewürdigt, unsterblicher Ruhm zukommt. Denn obwohl er bei der Vernichtung der herrlichsten Landschaften, ebenso wie Bevölkerung und Städte in einem denkwürdigen Untergange zugrundeging, gleichsam, als ob er für immer leben sollte; und obwohl er mehrere bleibende Werke schuf: So wird dennoch die Unvergänglichkeit Deiner Schriften zu seinem Fortleben viel beitragen. Ich halte wahrlich die für glücklich, denen das Göttergeschenk gegeben ist, beschreibenswertes zu leisten oder lesenswertes zu schreiben; am glücklichsten aber die, denen beides gegeben ist. Zu ihnen wird auch mein Onkel zählen, durch Deine Bücher und seine eigenen. Und darum will ich Dir gerne Deinen Wunsch erfüllen, ja, ich verlange selbst nach dem, was du mir aufträgst.

Mein Onkel war in Misenum und befehligte dort persönlich die Flotte. Am 24. August, ungefähr zur siebten Stunde, machte meine Mutter ihn auf die Erscheinung einer Wolke von ungewöhnlicher Größe und Gestalt aufmerksam. Mein Onkel hatte sich gesonnt, danach kalt gebadet, im Liegen etwas gegessen und arbeitete jetzt. Er verlangt seine Sandalen, steigt auf eine Anhöhe, von wo man das Wunder am besten beobachten kann. Die Wolke – von weitem betrachtet war unklar, von welchem Berg; später wurde bekannt, es sei der Vesuv gewesen – die Wolke also stieg in die Höhe und ließ mit ihrer Form von allen Bäumen am meisten an eine Pinie denken. Denn hochgewachsen wie auf einem sehr langen Stamm teilte sie sich in der Höhe in etliche Äste, ich glaube, weil sie von einem Luftstrom vor kurzem hinaufgetrieben worden war, und dann, als dessen Kraft nachließ, von ihm im Stich gelassen oder von ihrem eigenen Gewicht bezwungen, in die Breite ging, an manchen Stellen weiß, an anderen schmutzig und fleckig, je nachdem, wo sie Asche oder Erde emporgerissen hatte. Es schien etwas Großen zu sein, das ein gelehrter Mann näher erforschen müsse. Mein Onkel befiehlt, ein kleines Schiff bereit zu machen; mir stellt er frei, ob ich mitkommen will; ich antwortete, daß ich lieber arbeiten wolle, und zufällig hatte er selbst mir etwas zu schreiben gegeben. Er war im Begriff, das Haus zu verlassen, da bekommt er ein Briefchen von Rectina, der Frau des Tascus, die außer sich vor Angst ist über die drohenden Gefahr – denn ihr Haus lag am Fuß des Berges, und es gab von dort keinen anderen Fluchtweg als mit Schiffen –: Sie bat darum, daß mein Onkel sie dieser Gefahr entreiße. Dieser ändert seinen Entschluß, und was er aus Forschergeist begonnen, nimmt er jetzt aus Großmut auf sich. Er läßt Vierruderer auslaufen und geht selbst an Bord, um nicht allein Rectina, sondern vielen Menschen – die schöne Küste war ja dicht besiedelt – Hilfe zu bringen. Er eilt dorthin, woher andere fliehen, und hält Kurs und Steueruder geradewegs auf die Gefahr zu, derart frei von Furcht, daß er alle Veränderungen und alle Einzelheiten dieses schlimmen Ereignisses diktierte und festhielt, so wie seine Augen es erfaßten.

Schon fiel Asche auf die Schiffe nieder …

Tierträume

Ein Zoo. Dunkle Giraffen, die mit gespreizten Beinen trinken und sich dann mühevoll wieder aufrichten. Manchmal stoßen sie ein wunderliches Gebrüll aus, als störe oder beunruhige sie etwas Dieses Gebrüll ist ein langer, dröhnender Schrei, ein Geröhre und Grollen, das sie mit gesenktem Hals ausstoßen. Auf ihrem Rücken sitzen kleine Affen. Später sind die Giraffen aber Kamele; und aus den Affen auf ihrem Rücken sind hohe, verfaltete, eingeknickte und mit langen Fellbüscheln gekrönte, schlanke Wülste geworden, ihre Höcker, so hoch und sperrig, daß man sich fragt, wo denn auf diesem Rücken ein Reiter Platz finden soll.

Giraffa camelopardalis (im Kölner Zoo)

Gestern bei Strabo folgendes gelesen (Geographica, 7.4.8):

ἔστι δὲ τῶν τετραπόδων ὁ καλούμενος κόλος, μεταξὺ ἐλάφου καὶ κριοῦ τὸ μέγεθος, λευκός, ὀξύτερος τούτων τῷ δρόμῳ, πίνων τοῖς ῥώθωσιν εἰς τὴν κεφαλήν, εἶτ’ ἐντεῦθεν εἰς ἡμέρας ταμιεύων πλείους ὥστ’ ἐν τῇ ἀνύδρῳ νέμεσθαι ῥᾳδίως.

„An Vierbeinern gibt es den sogenannten Kólos, der Größe nach zwischen Hirsch und Widder, von weißer Farbe und im Laufe schneller als diese. Er kann mit den Nüstern Wasser in den Kopf aufnehmen, auf das er dann als Vorrat über mehrere Tage hinweg zugreift. So vermag er leicht auch in Trockengebieten zu weiden.“

Über die Zeit (Seneca an Lucilius)

Immer wieder eine lohnende Lektüre: Seneca:

In hoc enim fallimur, quod mortem prospicimus: magna pars eius iam praeterit; quidquid aetatis retro est mors tenet. Fac ergo, mi Lucili, quod facere te scribis, omnes horas complectere; sic fiet ut minus ex crastino pendeas, si hodierno manum inieceris. [3] Dum differtur vita transcurrit. Omnia, Lucili, aliena sunt, tempus tantum nostrum est; in huius rei unius fugacis ac lubricae possessionem natura nos misit, ex qua expellit quicumque vult. Et tanta stultitia mortalium est ut quae minima et vilissima sunt, certe reparabilia, imputari sibi cum impetravere patiantur, nemo se iudicet quicquam debere qui tempus accepit, cum interim hoc unum est quod ne gratus quidem potest reddere.

Darin nämlich täuschen wir uns, daß wir den Tod als vor uns liegend betrachten: Dabei ist ein großer Teil von ihm schon geschehen; alles, was an Lebenszeit hinter uns liegt, hält der Tod in Händen. Mach es also so, mein Lucilius, wie du es geschrieben hast, und halte alle Stunden fest; so wird es geschehen, daß du weniger am Morgen hängst, wenn du nur erst das Heute in deinen Besitz genommen hast. Das Leben geht vorbei, während man es aufschiebt. Nichts, mein Lucilius, gehört wirklich uns, nur die Zeit ist unser eigen. Dieses einzige Flüchtige und Vergängliche gibt uns die Natur zum Besitz, und es verjagt uns daraus, wer immer will. Und so groß ist die Dummheit der Menschen, daß sie, wenn sie um wertlose oder doch sicher ersetzbare Kleinigkeiten gebeten haben, sich diese in Rechnung stellen lassen, während keiner, dem jemand Zeit geschenkt hat, der Ansicht ist, dem andern etwas schuldig zu sein; dabei ist die Zeit doch das einzige, daß niemand je zurückzahlen kann, und sei er auch noch so dankbar.