Insulationen (1)

Beim Spaziergang über den Deich vergeht mir jede Wasser-, Schwimm- und Abenteuerlust. Der Wind schlüpft zu den warmen Händen in die Taschen, zupft hinten an der Jacke, brüllt Seefahrerparolen ins Ohr. Es stürmt, sagt der Binnenländer, und es ist ihm egal, daß das hier für Einheimische noch lange kein Sturm ist. Also stürmt es halt, ein anderes Wort steht für dieses Luftregister nicht zur Verfügung. Luftkohorten, die von weit draußen Anlauf nehmen und den Spaziergänger vom Deich zu stoßen trachten, Inselwinde mit dem Geschmack nach Salz und Wolken. Es reißt am Gesicht, als flögen gleich die Augenbrauen dem Rotz aus der Nase hinterher.

Wir gehen, nun mit dem Wind im Rücken, vor dem Deich am Wattenmeer, das in der Flut langsam von Westen her volläuft, entlang nach Osten, auf einen fernen dunklen Fleck zu, der in dieser streckengeladenen Flachheit meilenweit entfernt scheint und sich, als wir dann doch irgendwie, vom Wind geschoben, näherkommen, als Haufen grauer Steine entpuppt, die von einer Vergangenheit als Ruine zu träumen scheinen. Und dann sehen wir das Bahnübergangszeichen, und allmählich werden von links über den Deich herabgeführt Bahngleise sichtbar. An dem Steinhaufen biegen sie nach rechts ab, überqueren den Weg und streben hinaus ins Watt. Rostige Stränge, Schwellen aus Beton, dazwischen zittert Wasser, der Schienenstrang verschwindet nach kurzem in einem Gewirr aus Marschpflanzen, Schlick und Wind. Erst auf dem Rückweg lesen wir auf einer Infotafel, bei dem Schienenstrang handele es sich um eine Verbindung zwischen der Hallig Langeneß und dem Festland. Diese ist auf einem Damm montiert, dem sogenannten Olanddamm. Ein Photo dazu zeigt einen Wagen, der wie ein Seifenkistenrennauto aussieht, aber einen Mast hat, mit einem schönen Segel daran. Ein Segel auf Schienen! So etwas kann auch nur Küstenbewohnern einfallen. Ein Segel hätten wir jetzt auch gerne, ein Segel, das uns schneller zu dem fernen, am windzerblasenen Horizont klebenden Hotel zurückbringt, aber der Wind käme sowieso von vorn.

Das einzige verbliebene Licht. Das Pilotlämpchen einer Türschelle hängt in der Nacht. Es schwebt ohne Verbindung zu stützenden Strukturen, gehalten nur von den Strängen der Dunkelheit. Ein verlorener Posten, nur noch von Pflicht und Durchhalten am Leuchten gehalten. Dauern wird es, bis sich Mauern darum herum materialisieren. Ankämpfen gegen die Traurigkeit, der letzte zu sein. Sich einbilden, man wäre der erste. Der Wind läuft eingebildeten Schritten hinterher. Hinter unsichtbaren Garagentoren sterben vielleicht Hunde.

Phoebe

Der Mond, fast voll, weißlich und gequetscht, über der schwarzen Kante einer Photovoltaikanlage. Ich verringere die Belichtungszeit, bis die Narben und Schrunden des gequälten Trabanten hervortreten wie der Leib eines alten Soldaten. Ich mache mein Bild, aber was im Sucher erscheint, hat nichts mit der eisigen Wirklichkeit des Gestirns zu tun, die Silhouetten der Gebäude, über denen es steht, die Dächer, die Tiefe des Bahnsteigs, das alles versinkt in dunklen Flächen, überläßt der leuchtenden Kugel darüber die Bühne. Und dieser Himmelskörper, keine Sonne, nur zu geliehenem Leuchten imstande und gerade in diesem Leihen ein Meister, steht über dem Dach, als wolle er alle unsere Bemühungen, uns die Sonne dienstbar zu machen, verhöhnen.

Irrtum

Spätes Begreifen aufgrund der unausrottbaren Neigung, von mir auf andere zu schließen. Es trifft nicht zu, worüber ich jahrelang erst gestaunt, dann gespottet, bald schon mich geärgert habe, daß die Leute auch noch in Bus, Bahn und Zug telephonieren müssen. Mein Irrtum bestand darin, anzunehmen, es handele sich um ein Laster, dem überall, und eben auch in Räumen, wo es nicht am Platz sei, gefrönt werde; dabei ist das Gegenteil der Fall: nicht auch noch in der Bahn, nein, gerade in der Bahn wird gequasselt. Bestand doch mein Denkfehler darin, vorauszusetzen, der eigentliche Ort zum Führen von Telephongesprächen sei das eigene Zuhause, die Festnetzleitung, und sonst benutze man halt das Mobiltelephon, wenn es sich nicht vermeiden lasse und telephoniere unterwegs, wenn es bis nach Hause zu weit sei. Weit, ach, allzu weit gefehlt! Zu Hause hat man Besseres zu tun; der Ort, die Zeit, wo man in aller Ruhe seinen konversationellen Pflichten und Bedürfnissen nachgehen kann — ist unterwegs. Wo man, auch darin sieht sich meine Erwartung getäuscht, eben nichts Besseres zu tun hat. Längst scheint es ja aus der Welt, daß man diese Zeit unterwegs nutze, indem man ein Buch oder die Zeitung läse.

Was den Wegen gelingt: sich selbst zu begegnen, wieder und wieder, Anfang und Ende zusammenzuknüpfen, Ankunft und Aufbruch gleichzeitig zu sein, bleibt unmöglich.

Also noch einmal in die Wanderstiefel, noch einmal die Haustür hinter sich ins Schloß fallen hören. Nicht auf den Regen achten, sich den Wald überstreifen wie einen Mantel. Bis ganz hinauf, wo die Böschungen müde am Weg stehen und sich mit den Erdschichten verzählen. Hinter den Hügeln arbeitet sich wie je die Ebene mit ihren Straßen an der Ferne ab. Keine Zeit für Glocken, unter den Steinen knackt schon die Dunkelheit mit den Gliedern. Der Wind bringt keine Geschichten; für die unseren ist er taub.

Von irgendeinem Weg weiter oben klingt Kinderlachen auf, gleich wieder verstummt, zu seiner eigenen Zeit etwas Spätes und Letztes, das es eilig hat, ohne es zu wissen, wie Blätterfall. Auf dem Schotter die Mumie einer vor Monaten vergessenen Socke. Unten im Tal ein geschlossenes Freibad, im gefüllten Becken schaukelt der Himmel mit Gewölk.

Es wäre Zeit, aber wofür? Vor der Hütte warten die Wege, abmarschbereit. Namen im Holz, Jahreszahlen, in der Dämmerung kaum noch lesbar, auch diese mußten weiter zu ihrer Zeit.

Gaza, 24.12.2023

“Steht in der Zeitung, sie haben jetzt Sprengstoffgürtel — für Kinder, in Gaza”, sagt mein Vater am Abendbrottisch, er sagt, “Wer plant so etwas?”, und er sagt, “Was sind das für Menschen, die sich so etwas ausdenken?”, und seine Stimme, als er das sagt, beinahe mitfühlend mit denen, die sich so etwas ausdenken, ist ganz klein.

Und auch

(Und auch dich kennt dieser Raum durch mich, kennt uns, und von Anfang an, kennt die Knospen und Wurzeln, die ersten sprossenden Silben des Gesprächs, das uns seither bis ins Körperliche hinein verbindet. Als ich schlaflos lag und die auf mich Ruhlosen herabblickenden Bücher bat, ihre Spiegelungen auch in der Scheibe, mir von dir zu erzählen. Hier war es. Und doch war es nicht hier. Es war nirgends. Es war in der Vergangenheit eines Ortes, der seine eigene Zukunft hatte, damals, wie wir die unsere, unbekannte.)

Vom Wetter (2)

Das Wetter als Menschenwerk. Es zeichnet sich schon ab, daß Geoengineering der letzte Ausweg bleibt, um die Erderwärmung auf lebensverträgliche Maße zu begrenzen. Die Frage ist wohl weniger, ob wir es tun, als vielmehr, wann wir es tun. Unabsichtlich haben wir ja mit dem Geoengineering bereits angefangen, als wir uns vor ungefähr 150 Jahren daran machten, das Erdklima durch den Ausstoß von Treibhausgasen anzuheizen. Als die Physik den Treibhauseffekt von Kohlendioxid und anderen Gasen entdeckte, den Klimawandel erst für möglich hielt, dann voraussagte, endlich nachwies, glaubte man auch zunächst noch an eine durchaus positive Entwicklung, schien eine wärmere Erde und eine höhere Kohlendioxidkonzentration in der Atmosphäre doch verbessertes Pflanzenwachstum und damit bessere Ernten zu versprechen. Wenn wir jetzt erwägen, Schwefelaerosole in die Stratosphäre auszubringen oder im All gigantische Schattenspender aufzuspannen, um die Erde wieder abzukühlen, denken wir bereits über einen zweiten Eingriff nach, der die Folgen des ersten rückgängig machen soll. Davon kann man halten, was man will — es hat jedenfalls nicht nur physikalische Folgen, sondern auch psychologische und soziale. Es wird ein für allemal unsere Auffassung vom und unsere Haltung zum Wetter verändern. Schon das Bewußtsein des menschengemachten Klimawandels macht aus dem täglichen Regen oder Sonnenschein ein Phänomen, das von menschlicher Anwesenheit kontaminiert ist, man könnte sagen, es hat seine Unschuld verloren, seine außermenschliche Neutralität. Das Wetter war gut oder schlecht, aber es war niemandes Schuld. Es gehörte keinem. Niemand war als Wetterhalter oder -Inhaber dafür verantwortlich, wenn es zu rechten Zeit regnete oder zur Unzeit schneite. Damit, mit dieser Unschuld, wäre es vorbei, sobald wir absichtsvoll ins Klima und ins Wettergeschehen eingreifen. Was erst eine neutrale Tatsache, dann eine von niemandem gewollte, beiläufige Folge gewesen ist, wird ein von Menschen und ganz konkreten, benennbaren Institutionen zu verantwortendes Geschehen werden. Wetterkatastrophen hat es schon immer gegeben, auch vor dem Beginn des anthropogenen Klimawandels. Katastrophen wie etwa Überschwemmungen, die sich ins kollektive Gedächtnis der Menschheit als Erzählung von einer Sintflut eingebrannt haben. Wer ist in Zukunft, im Zeitalter des Geoengineering, für Ereignisse verantwortlich, die nicht mehr einfach so passieren, sondern die ungewollten Folgen einer versuchten Kontrolle sind? Freilich, das Problem ist ein theoretisches und prinzipielles: das Wettersystem ist chaotisch, kein einzelnes Ereignis, sei es eine Dürre, ein Tornado oder auch nur günstiger Regen zur richtigen Zeit, kann direkt auf eine einzelne Maßnahme zurückgeführt werden. Trotzdem bleibt die Tatsache des Eingriffs bestehen, das Bewußtsein darüber, daß wir eingreifen. Und allein dieses Bewußtsein muß die Auffassung vom Wetter verändern. Das Wetter wird dann nicht mehr gegebene Tatsache sein, nie mehr. Es wird diskussionswürdig werden, zum Streitthema, zum Politikum. Denn sollte es uns gelingen, die übelsten Folgen des Klimawandels abzumildern; sollte es gar gelingen, zu vorindustriellen Temperaturen zurückzukehren: Was wäre denn dann noch normales Wetter? Selbst wenn man eines Tages glauben dürfte, es geschafft zu haben, und beschlösse, nicht mehr ins Wettergeschehen einzugreifen: die Tatsache, daß man es kann, daß man Erfolg hatte mit dem ersten und zweiten Eingriff, macht auch so aus dem Wetter eine Folge menschlicher Entschlüsse, etwas, das das Wetter nie zuvor gewesen ist. Würde man in Zukunft den Entschluß fassen, nicht mehr einzugreifen, wäre jeder Regen, jede Dürre, aber auch jeder durchschnittliche Sonnenschein die Folge eben davon: daß wir nicht eingegriffen haben. Und bliebe also: unser Entschluß. Man kann nie mehr zum Nichtwissen zurück, wenn man mal etwas in Erfahrung gebracht, nie mehr zum Nichtkönnen, wenn man mal etwas gelernt hat. Wir werden lernen, das Klima zu beherrschen und damit indirekt auch das Wetter, und wir können nicht mehr verlernen, wie man das macht. Noch schlimmer: Wir dürfen es auch nicht. Wer das Wetter meistert, ist auch verantwortlich dafür. Wir sollten das nicht akademisch finden, sondern uns jetzt schon Gedanken darüber machen, wie wir mit einem solchen Können umgehen sollen.

Vom Trösten

Im Traum kommt nachts oder spätabends meine Mutter in mein altes Zimmer in Inseldorf. Ich habe schon geschlafen, sie zieht wortlos den Rolladen hoch. Eine fürchterliche Angst befällt mich. Etwas stimmt ganz und gar nicht. Sie verbirgt etwas vor mir. Am Rand nehme ich war, daß das Fensterbrett voller Kakteen ist. Ich flehe meine Mutter an, daß sie mir sagt, was los ist, aber sie schweigt.

Warum habe ich diesen Traum? Und nimmt dieser Traum nicht ein echtes Ereignis auf? Spielt mit einem Erlebnis aus früher Kindheit, als in Wirklichkeit meine Mutter zu mir ins Zimmer kam und (nach meiner vielleicht nicht zuverlässigen Erinnerung) etwas mit dem Vorhang (hatten wir Vorhänge?) machte, ihn beiseite raffte oder erst noch vors Fenster zog? (Als wollte sie mich damit von allem Übel, von allen schlechten Nachrichten bewahren; oder als sollte ich sie genau sehen, um sie beizeiten kennenzulernen?)

Im Traum verschweigt mir meine Mutter, was passiert ist, und daraus erwächst die grauenhafte Angst. Die schlechte Nachricht damals: meine Großmutter väterlicherseits war gestorben. Aber nicht diese Nachricht (ich war noch keine vier Jahre alt und hatte kaum Gelegenheit gehabt, meine Großmutter richtig kennenzulernen) erschreckte mich. Was mir einen eiskalten Schrecken eingab, waren die Tränen meiner Mutter. Es dürfte das erste Mal gewesen sein, daß ich meine Mutter weinen sah, und das war so entsetzlich, daß ich sie damals bat, das Zimmer zu verlassen. An mehr erinnere ich mich nicht. Ob es verletzend für sie war, ob sie darauf noch etwas gesagt hat, mit welchen Gedanken ich wieder eingeschlafen bin, nichts davon weiß ich noch. Der Vorfall ist, soweit ich weiß, nie wieder zur Sprache gekommen, und ich weiß bis heute nicht, was meine Mutter bewogen haben mochte, ihren drei- oder vierjährigen Sohn mitten in der Nacht zu wecken, um dem Kind zu sagen, daß seine Großmutter gestorben sei.

Ich kann diese fast fünfzig Jahre zurückliegende Szene nicht ansprechen, also auch nichts darüber herausfinden. Im Grunde will ich auch gar nicht daran rühren. Ich hätte Angst, daß meine Frage (warum bist du damals ins Kinderzimmer gekommen, um mich zu wecken und mir den Tod meiner Großmutter mitzuteilen?) wie ein Vorwurf klänge. Und ich will nicht ansprechen, wie sehr mich das Weinen meiner Mutter immer bestürzt hat. Weinen überhaupt bestürzt mich und läßt mich schreckenskalt und -starr werden, zum Trösten unfähig. Eigentlich bei allen Menschen, aber besonders habe ich bei meiner Mutter — die selten, sehr selten weint — Weinen schrecklich gefunden. Vielleicht, weil darin die Erkenntnis lag, daß sie, dieser stärkste aller Menschen, wie ich es als Kind empfand, eben auch schwach war, nicht allem gewachsen, selbst des Trostes bedürftig.

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In der Schulzeit fuhren wir Grüppchen Schüler aus unserem Dorf, die in dieselbe Klasse aufs Gymnasium im benachbarten Städtchen gingen, gemeinsam mit dem Fahrrad zur Schule. Einmal waren wir nur zu zweit, H., die Tochter unserer Vermieter, die im selben Haus wohnten, und ich. Etwas Schlimmes war passiert, ich weiß nicht mehr, ob H. es mir erzählte oder ob ich es von anderen wußte, und H. ging es sichtlich schlecht. Ihr Blick war starr und leer, abwesend, kalt wie Münzen, ihre Lippen verpreßt, und die ganze Fahrt über fiel kein Wort. Von ihr keins der Klage, von mir keins des Trostes. Ich wußte, alles war falsch an der Situation, das Schweigen, das Fahren, das Weiterschweigen, das Anhalten und Weiterfahren an einer Kreuzung, und alles andere wäre auch falsch gewesen, das einzige, was richtig gewesen wäre, aber war völlig unmöglich und irrwitzig und unleistbar, es wäre gewesen, schlicht “Halt mal an” zu sagen, abzusteigen und H. wortlos in den Arm zu nehmen, damit sie endlich hätte weinen können. Diesen Schritt zu tun, dachte ich, hätte ich ein ganz anderer Mensch sein müssen, aber es ist auch das andere wahr, daß ich, hätte ich es getan, in diesem Moment ein ganz anderer Mensch geworden wäre.

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Trösten ist schwierig. Aber warum? Weil uns etwas von dem fremden Schmerz trennt, der nicht unserer ist. Mitgefühl ist eine Paradoxie. Es ist ein narratologisches Empfinden, ein Feuern von Spiegelneuronen, eine Phantasie. Selbst wenn wir selbst einmal einen ähnlichen Schmerz empfunden haben, jetzt fühlen wir ihn nicht. Und wenn doch, dann sind wir selbst des Trostes bedürftig.

War meine Mutter des Trostes — meines Trostes — bedürftig? Und was ist mit meinem Vater, dessen Mutter es doch war, die gestorben war? Und wie hätte ich Vierjähriger trösten können? Vielleicht tat ich es, ganz einfach, weil ich da, ihr gemeinsames Kind und am Leben war. Vielleicht mußte meine Mutter deshalb ins Kinderzimmer kommen und mich wecken, um sich des Lebendigen zu vergewissern, für das ich junges Leben stand, ein Unterpfand gegen die Vergänglichkeit, gegen die Negation, gegen die lebensfeindlichen Kräfte. Meine Mutter war damals Anfang zwanzig, und dieser Tod war der erste in ihrem Umfeld, unter ihren Lieben. Ihre eigenen Eltern sollten da noch über fünfzig Jahre leben. Sie hatte den Tod bislang nur als ein Phänomen kennengelernt, das Fremden (ihren Patienten) geschah. Es ist auch gut möglich, daß sie in dem Moment einfach Angst um mich hatte, ihren ersten Sohn (ob mein Bruder da schon geboren war, weiß ich nicht). In jedem Fall muß es ein Knacks gewesen sein, ein Begreifen, ein Erwachen in einer kälteren Welt, das in ihr vielleicht das Bedürfnis nach der schläfrigen Wärme ihres Kindes weckte.

Aequinoctium

Letztes Ruder, wir leeren das Blau aus den Wimpern und Schöpfen.
     Was uns der Kranichzug ließ, schreibt uns den Tag auf die Haut.

Alle Wege führen zum selben geschlossenen Zauntor.
     Sterne wieviel er auch zählt, gibt sie der See nicht mehr her.

Winde bewohnen das Ufer. Im Bootshaus bechern die Wellen.
     Wärme, den klammen Puls, wandelt der Knöchel in Sand.

Regen von weit her, wie die Kunde von fernen Ländern. Ein Aufseufzen des Himmels, der zu dieser Stunde noch dunkel ist. Die Luft bildet eine schwere, zähe Substanz, gegen die sich die Autos mühsam vorwärtskämpfen. Alles ist mühsam, die Anzeige des Weckers muß bei jeder neuen Ziffer überlegen. Das Radio wiederholt nur die Sinfonien von gestern. Der Dunkelheit kaum gewachsen, lassen die Scheiben sich den Rücken vollregnen. Sie schauen nach innen, zu der Lichtinsel mit Schreibzeug und Kaffee. Zu dem eben erwachten Schläfer, der noch mit dem Wirrwarr seiner Träume kämpft.

Unterwegs

Nicht einmal zwanzig Minuten, nachdem die Haustür hinter mir ins Schloß gefallen ist, beginnen die ersten feinen Tropfen zu stäuben, ein Nieseln, das sich in zehn Minuten zu einem ergiebigen Regen steigert. Da ist keine Stelle am Himmel, aus der nicht noch weiterer Regen droht, keine Wolken mehr, das ist der Himmel selbst, der schwer wie ein Schwamm über dem tropfenden Wald hängt. Noch vor ein paar Tagen mit einer Kollegin darüber gesprochen, wie albern es doch sei, mit dem Schirm in der Hand zu wandern. Nun ja.
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Wolkenfetzen hängen in den Tälern fest, die Straßen schwimmen, Absperrungen über Bächen sehen aus wie Bojen. Um nicht verrückt zu werden an dem Getröpfel, dem Gluckern, Rauschen, Plätschern, sage ich mir Gedichte vor, das lenkt ein wenig ab vom Zorn, den ich einfach nicht beherrscht kriege. Regen macht mich wahnsinnig, Regen macht mich selbst dann wahnsinnig, wenn ich im Trockenen sitze und zum Fenster hinausschaue, auch wenn ich nicht mehr raus muß, ich empfinde nicht einmal Erleichterung bei Regen nach einer Trockenperiode, er tröpfelt mir ins Hirn, selbst die Gedanken durchweichen wie Zeitungspapier. Das feuchte Echo ferner Autofahrten, die Fäden vor der verquollenen Hausfassade, das vergebliche Auf und Ab der Scheibenwischer, das Blinzeln der Pfützen, die zuckenden Blätter, die tristen Bäche, wie sie gerippt die Straße hinunterwallen — das alles ist zutiefst trostlos, niederschmetternd und entwürdigend, dem ganzen menschlichen Dasein Feind.
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Ein Regenschirm hält nur so lange den Regen ab, bis sich ein Gleichgewicht zwischen auftreffendem und vom Rand herabtropfendem Wasser einstellt — ab da wird alles naß, was sich zu nah an den Rand des Schirms bewegt, und bei einem Knirps ist das zwangsläufig irgendein Teil der Person, die darunter steht. In meinem Fall der Rucksack, der erwartungsgemäß durchnäßt wird.
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Unter den trostlosen Orten der Welt nehmen Unterführungen zweifellos einen Ehrenplatz ein. Fraglich ist, warum gerade die Ein- und Ausfahrten solcher Tunnel dazu einladen, Unrat zu deponieren. Einwegbecher, Burgerschachteln, Plastiktüten, Toilettenpapier, Plastikflaschen, Damenbinden, man könnte alleine aus den archäologischen oder kriminalistischen Horizonten von Unterführungen ein detailliertes Bild unserer Zivilisation rekonstruieren. (Mißverständnis späterer Archäologen: “Damit sie die Reisenden vor Unfällen bewahre, wollten die Menschen damals wahrscheinlich eine Gottheit gnädig stimmen, indem sie ihr vom Fahrzeug aus Getränke spendeten.”
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Auch ein Opfer der Unterführung ist das Eichhörnchen gewesen, dessen durchnäßter Kadaver einige Meter vom Tunnelausgang auf der Straße liegt, um die Längsachse verdreht, das Maul nach oben, zum Regen und den Wolken gewandt, ein schmutziger Feudel mit Schwanz und Zähnen. In diesem Momenten hört der Regen auf, es wird heller über der Straße.
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Was bringt es, Kränze niederzulegen, Kerzen anzuzünden, eine Gedenkstätte mit Aufrufen zum Frieden zu behängen? Mich machen solche Bekundungen immer ratlos. An wen richten sich diese Friedensappelle an der KZ-Gedenkstätte Wuppertal-Kemna, wo der Waldweg auf die Schnellstraße stößt, halb im Wald, wer ist ihr Adressat, was sollen sie bewirken? Ich habe auch damals die Geste nicht verstanden, als nach den Anschlägen aufs WTC völlig unbeteiligte Menschen auf der anderen Seite des Globus Kerzen ins Fenster stellten. Was wollten sie damit bewirken? Ich habe es nicht nur nicht verstanden, ich fand es nachgerade anmaßend, die wohlige Usurpation fremden Schmerzes. Vielleicht richten sie sich am ehesten an die ausführende Person selbst, erfüllen ihre Funktion schon im Akt der Anbringung. Sind Meditation. Übung. Ritus. Oder auch der Versuch, die Gottheit zu besänftigen, irgendein Numen gnädig zu stimmen, das doch bitte ein Einsehen haben soll mit den Torheiten der Menschen. Wenn schon die Menschen kein Einsehen haben mit ihren eigenen Torheiten.
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Geschwollene Muskeln der Bäche. Ich arbeite mich hinauf zu den Quellen, werde im Lauf des Wegs die Wasserscheiden mehrerer Täler überqueren. Oben freie Sicht in die Landschaften der Wolken, ringsum hat der Himmel zahlreiche Türme, Sender, Wasserspeicher auf die Hügel gesetzt, Wolkenfetzen kringeln sich darum. Vertrautes hat sich als Ferne verkleidet, gespenstisch, wie ein vertrauter Mensch, den man vergebens anfleht, wieder aus der Rolle zu fallen, Wege, die ich heute erst gegangen bin, haben sich abgewendet und ziehen unbekannt davon. Keine Pause, nur einmal Atem holen, dann fängt es schon wieder an zu nieseln.

Fenster auf, aber die Luft, die einströmt, ist so warm wie die, die hier übernachtet hat. Das Dunkel nippt von meinem Kaffee mit, im Radio verbeugt sich eine Geige, ehe sie stirbt, die Straßenlaternen harren aus, die Autowege legen den Gläubigen den Morgen aus. Noch eine Woche Sommer, der sich an den letzten Zahlen des Monats festklammert.

Meles meles

Rehe kenne ich am Geräusch, Wildschweine vergißt man nie wieder, wenn man sie einmal gehört hat, Amseln und Tauben rascheln bei der Futtersuche manchmal so laut, daß man meint, gleich einem Grüffelo zu begegnen, aber weder Amsel noch Taube picken nachts im Laub. Also, was ist das, das sich da, zu zweit, zu dritt, raschelnd dem Zelt nähert? Über Füchse weiß ich nichts, jedenfalls nichts Akustisches, Wölfe habe ich nicht einmal gesehen, Luchse oder andere Katzen gibt es in dieser Gegend nicht. Waschbären? Gibt es angeblich überall. — Raschel, raschel, ein Igel? Aber Igel rascheln nicht nur, Igel röcheln und räuspern und haben eigentlich immer Asthma. Was sich da nähert, langsam, weder vorsichtig noch neugierig sondern unabsichtlich, mit anderem beschäftigt, gibt außer dem Rascheln keinen Laut von sich. Trotz diesem Desinteresse an meinem Schlafplatz habe ich ein wenig Sorge. Von Füchsen ist bekannt, daß sie Schuhe klauen, und einmal habe ich erlebt, daß ein Fuchs, von mir im Schlaf unbemerkt, das vor dem Zelt liegende Kochgeschirr vom Abend erst abgeleckt und dann, na ja, markiert hat. (Nicht unangenehm, der Duft, aber trotzdem, in meinen Schuhen möchte ich das lieber nicht.) Raschel, raschel, raschel, geht es während dieser Überlegungen draußen weiter. Ich klatsche in die Hände, räuspere mich: raschel, raschel. Ich drehe mich auf der knarrenden Luftmatratze um: raschel, raschel. Endlich taste ich nach der Stirnlampe, öffne das Zelt (raschel, raschel), strecke den Kopf heraus und richte die Lampe auf die Stelle, aus der das Rascheln kommt. Licht an! — Ich erschrecke. Nicht so, was da geraschelt hat, unbekümmert wühlen die beiden schlanken, etwa vierzig bis fünfzig Zentimeter messenden Leiber im Laub und scheren sich keinen Deut darum, daß sie gerade im Rampenlicht stehen. Dabei haben sie nachttaugliche Augen, das Tapetum lucidum schimmert im Lampenlicht, als hätte jemand seinen Schmuck verloren. Aber gleich, was sie mit ihren nachttauglichen Augen sonst noch sehen, das Licht und der Mensch, von dem es herstammt, interessiert sie nicht. Und so kann ich sie in aller Ruhe beobachten. Entgegen der landläufigen Auffassung sind sie nicht plump, im Gegenteil, sie sind agil, flink, machen sogar kleine Sprünge, man könnte, was sie da tun, ausgelassen nennen. Schnauze am Boden, wühlen sie wie kleine Schweine die Laubschicht auf. Sie haben einen fransigen Stummelschwanz und, daran verraten sie sich endlich, die typische Panzerknacker-Gesichtsmaske. Ich nicke zufrieden, kehre ins Zelt zurück und lasse sie weiterrascheln. — Doch am Morgen scheint, wovon ich in der Nacht überzeugt gewesen sein wollte, zweifelhaft. Panzerknackermaske, was ist denn das für ein Merkmal, und haben nicht auch Waschbären so eine? Und so bin ich in der Frühe, schon in Hemd und Schuhen, gar nicht mehr so sicher, ob es wirklich ein Dachs ist, was ich da als letzten Nachzügler der nächtliche Gruppe in der Dämmerung davonhuschen sehe.

Felssporn

Bei Kathleen Jamie von einem rätselhaften Bauwerk an der schottischen Küste gelesen: auf einem Felssporn thronend, der über einen schmalen Landsteg mit dem Ufer Verbindung hat, ist das Hüttchen, das sich schon zur Seite neigt, bereit, demnächst zusammen- und von der Felsnadel zu fallen, nur auf dem Wege einer Kletterei zu erreichen. Von wann stammt dieses Bauwerk, wer hat es erbaut, zu welchem Zweck? Eine Einsiedelei? Ein Ausguck, spinne ich die Vermutungen weiter, ein … Kerker? Eine Bestrafung? Ort der Einlösung eines Gelübdes? Ein Heiligtum? Ein Observatorium? Ich stelle mir den Ort vor, das Innere der dreieinhalb Wände, den zugigen Stein, die Taubheit des Windschattens, das Kreischen von Seevögeln im anderen Ohr. Die Brandung überall nah, von den Steilwänden der Küste hallend, als säße man im Brennpunkt einer Satellitenschüssel. Obschon auf einer Felsnadel hockend, befindet das Hüttchen doch unter dem Niveau des Landes; freie Sicht gibt es nur zum Meer hin. Wolkenspiele wie Romane des Himmels. Außer Sicht bleiben die Straßen, die Fahrzeuge, die Schafe, Zäune und Mauern des Landes. Das Land wird zu einer seltsamen Sphäre, was dort passiert, zu etwas Unverständlichem, Bizarrem. Nur ganz selten erscheint überm Klippenkamm die Gestalt einer Kuh oder eines Schafs; dann starrt das Bizarre des Landes zurück und staunt über das Rätsel auf dem Felssporn.

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Ich stelle mir ein Leben auf diesem Felssporn vor. Die Einsamkeit, an Land ein kostbares Gut, hier wäre sie ein unbegrenzter Reichtum. Sie wäre so reichlich vorhanden, daß die Zeit sie nicht fassen, daß die Zeit von ihr überfließen würde. Ein Tag wäre ein zu enges Gefäß für einen Tag. Irgendwann entvölkerte die Einsamkeit selbst die Träume, verschwänden aus den Nächten Gestalten, Menschen, Meinungen, Absichten. Blieben die Gedanken leer, und an die Stelle der Vorstellungen von Gesichtern, an die Stelle der Wörter, an die Stelle von Zusammenhängen und logischen Schlüssen, an die Stelle von Vermutungen, Hoffnungen, Erwartungen träten Himmel, Wolken und Vögel, wie sie vor allen Benennungen einmal waren. Die Welt käme langsam wieder zu sich selbst zurück, nachdem sie die Hüllen und Klammern der Sprache abgestreift hätte, würde sich langsam von ihrer Enge erholen, holte Luft, schöpfte Atem, wie die Vögel und die Wolken Atem holen, der Wind. Wo die Sprache endete, finge wieder die Welt an zu sein.

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Irgendwann würde man selbst zu Stein. Wo die Sprache endete, verlöre auch das von Gedanken und Formulierungen gehaltene Selbst seine Begrenzungen. Es träte über in die Welt und ginge auf in ihr. Es würde Wind werden und das Spiel von Licht auf den Wellen. Es würde nicht mehr denken, es würde nicht mehr gedacht. Es würde nichts weiter von ihm bleiben als die Linie, die der Schatten einer Möwe über die die Klippe gezeichnet hat, bevor sie über den Horizont verschwand.

Morgens

Liegen, erschöpft. Aufgewacht in einem Morgen, der viel zu groß ist, groß wie ein Kleid, das nicht paßt, aus dem du herausfällst. Alleine: Der Platz neben dir ist leer, die Decke zerknüllt und vom Fortgehen halb zurückgeschlagen. Die Zimmertür geschlossen. Würde sie können, sie ginge auch fort. Das Fenster seinerseits strebt mit seinen Flügeln nach draußen. Draußen gehen Schritte vorbei. Sie haben ihren Platz im Morgen, den du nicht hast. Es ist, als wäre dir etwas aus der Hand gerutscht. Nur ist es nicht die Hand, die danach fassen will, du bist es ganz. Du weißt nicht, was es ist, das du verfehlst, nur, daß es wichtig war. Du müßtest aufstehen, aber der Morgen ist so groß, er wird dich verschlucken, sobald du den Fuß auf den Grund setzt. Liegenbleiben kannst du aber auch nicht, und der Schlaf ist eine ferne, scharf gezogene Uferlinie. Der Himmel, ein wolkenloses Urteil. Freigesprochen: die Vögel. Die Stille kommt aus der Küche im Erdgeschoß heraufgeschlichen, um dich zu belauschen.

Martial 1,25

Gib doch endlich, Faustinus, die Bücher heraus deiner Feder!
      Aus der gelehrsamen Brust fördre zutage das Werk,
das selbst das feine Athen mit Recht nicht verreißen wird können,
      noch Roms greise Kritik stillschweigend mag übersehn.
Fama steht vor der Tür, und du scheust dich, hinein sie zu bitten?
      Warum verdrießt’s dich, der Müh’ Frucht auch zu bringen nach Haus?
Zwar Papier ist geduldig. Doch magst auch siegreich im Werk du
      weiterleben, vom Ruhm wirst du nichts hören im Grab.

Ede tuos tandem populo, Faustine, libellos
      et cultum docto pectore profer opus,
quod nec Cecropiae damnent Pandionis arces
      nec sileant nostri praetereantque senes.
Ante fores stantem dubitas admittere Famam
      teque piget curae praemia ferre tuae?
Post te uicturae per te quoque uiuere chartae
      incipiant: cineri gloria sera uenit.