Muß nicht auffallen, wie sehr die Wahl eines Karnevalskostüms vom Geschlecht bestimmt wird? Die Frauen und Mädchen gehen als Prinzessinnen, Elfen, Meerjungfrauen oder schinken sich einfach nur mit Kranz, Glanz, Flitter und Glitter, als kämen sie alle geradewegs aus der Redaktion der Zeitschrift Lillifee (voll süß!) — wo aber sind sie alle, die Astronautinnen, Chirurginnen, römischen Soldatinnen, Piratinnen, Wikingerinnen, Feuerwehrfrauen, die ganzen Larven, für die sich ihre männlichen Mitfeiernden vorzugsweise entscheiden? Es scheint, als wollten die Närrinnen nicht mal imaginär bei den Jungs mitspielen. Darüber mal bei der nächsten Debatte über Geschlechtergerechtigkeit nachdenken.
Wuppertalsperre
Nach den beiden Bädern in der Nordsee wieder an der Talsperre im Wasser gewesen. Der Tag war sonnig, elf Grad Lufttemperatur. Gegen zehn Uhr kam ich warmgelaufen an der Vorsperre an. Je nach Lichteinfall war das Wasser klar bis auf den hellen, steinigen Grund hinunter, oder im Gegenlicht abweisend-opak, ölig, nicht einmal zum Spiel mit dem Wind aufgelegt. Nur wenige Menschen unterwegs, eine ältere Dame verunsicherte ich, als ich auf der Suche nach meinem Plätzchen wieder ein Stück umkehrte (und ihr aus ihrer Perspektive zu folgen schien). Hoher Wasserstand, die Stelle von letztem Jahr unauffindbar. Zuletzt wieder die zweitbeste Stelle genommen, dort stand das Wasser so hoch, daß ein bequemer Absatz, sonst wahrscheinlich mehrere Meter von der Wasserlinie entfernt, jetzt einen Fußbreit unmittelbar darüber lag. Am ertasteten Grund beim Hineingehen war jedenfalls die Stelle nicht zu erkennen. Steil geht es hinab, nach drei Schritten bin ich eingetaucht, hektisch atmend. Es ist eisig wie immer, und doch auf subtile Weise garstiger, schwieriger. Härter. Ich kürze ab, zwei Schwimmzüge müssen reichen, einmal auf den Rücken gedreht, mit den Beinen gestrampelt. In diesem Moment beruhigt sich die Atmung wieder. Eine Art Zuversicht stellt sich ein: Ich habe es wieder geschafft. Zwei Züge zurück, bis ich Grund unter den Füßen habe: so noch einen Moment untergetaucht bleiben, dann raus. Keine Minute hatte das Bad gedauert. Gelauscht, geschaut: Die Wege waren alle leer. Ich griff zum Handtuch. Kein Mensch bekam den entzückenden Anblick des 50jährigen, nur mit einer Wollmütze und Badelatschen bekleideten Mannes mit, der sich die nasse Gänsehaut von den winterweißen Gliedern wischte.
Sauattrappe
Das Problem mit der KI ist überhaupt nicht, ob und welche menschlichen Tätigkeit künstliche Systeme ersetzen; ist nicht, wo KI besser sein könnte als der Mensch. Das wahre Entsetzen über KI, und das wird in den Debatten immer übersehen, kommt aus einer anderen Möglichkeit: daß die KI – und sie hat die ersten Schritte jenseits dieser Schwelle längst getan – das Vertrauen untergräbt, es in der Kommunikation noch mit einem Menschen zu tun zu haben, und also, ob überhaupt Kommunikation stattfindet. Denn anders als Watzlawick behauptet setzt Kommunikation ein bewußtes Gegenüber mit kommunikativen Absichten voraus. (Nicht jedes Aussenden und Interpretieren von Zeichen ist Kommunikation.) Wo das nicht gegeben ist, ist die Kommunikation, na ja, nur eine Simulation oder schlimmer: eine Täuschung. Der Zuchteber, der, mit Duftstoffen bis zur Raserei gereizt, auf eine Sauattrappe geführt wird, um sich seinen Samen abzapfen zu lassen – er mag den Turnbock, auf dem er hockt, für eine echte Partnerin halten. Selbst wenn seinem Trieb nichts fehlt: Würden wir nicht sagen, daß diesem masturbatorischen Betrug etwas zutiefst Trauriges anhaftet? Solange ich weiß, daß ich mit einer Maschine kommunikative Masturbation betreibe, ist gegen KI nichts einzuwenden; das Unbehagen beginnt mit dem verunsichernden Gedanken, es vielleicht nicht zu wissen. Was, wenn ich nicht weiß, ob der Popsong, der mich zu Tränen rührt, nur das auf meine Gefühle hin berechnete Produkt einer Maschine ist? Ob der Roman, der mich aufwühlt, nicht auf genau meine Aufwühlung von einem Algorithmus maßgeschneidert worden ist? Auch die Beziehung zwischen Künstler, Werk und Rezipient ist eine Form der Kommunikation; ist etwas, das zwischen Menschen stattfindet; ist ein Audruck menschlicher Beziehungen – worauf das Menschliche exklusiv Anspruch hat. Mehr noch: Kunst ist etwas, das den Menschen vor allen anderen Wesen auszeichnet: es ist wie Sprache und Lachen ein nicht-akzidentielles Wesensmerkmal. Insofern läßt es sich per definitionem nicht durch eine Maschine ersetzen. Und so wollen wir uns auch nicht von einer Maschine zu Tränen anrühren, nicht von einem künstlich maschinell erzeugten Text aufwühlen, nicht von einem synthetischen Witz zum Lachen bringen lassen. Warum nicht? Weil die Maschine nicht mitlacht. Weil die Maschine nicht weiß, was Tränen sind, oder was es bedeutet – wie es sich anfühlt – aufgewühlt zu sein. Als kommunikativer Akt setzt das Sich-Rühren-Lassen – wie alle Kommunikation – ein fühlendes Gegenüber und also: Empathie voraus. Kommunikation spiegelt uns ein denkendes Wesen, das uns versteht und uns aufgreift und uns verwandelt zurückschenkt. Lassen wir uns von einer Maschine zu Tränen rühren, sind wir nichts weiter als ein verzückter Eber auf seiner Attrappe. Man darf auch nicht immer nur die Perspektive der (Kunst)Rezipienten einnehmen, weil zu jeder Rezeption immer ein Kunstschaffen gehört. Es ist nie die Rede davon, daß die KI den Zuhörer, Leser, Zuschauer wird ersetzen können. Das auszuklammern bedeutet, die kommunikative Rolle des Kunstschaffenden zu ignorieren. Die Tätigkeit des Künstlers ist nur das andere Ende der künsterischen Kommunikation, und der Künstler braucht sein Publikum, wie das Publikum den Künstler braucht, damit die Kommunikation zustande kommt. Wer kein Problem mit der Vorstellung hat, Computer könnten uns demnächst Romane schreiben oder Filme drehen, darf auch kein Problem damit haben, Computer könnten demnächst die Bänke im Auditorium füllen und im Theater der Vorstellung applaudieren. Oder gehen wir noch einen Schritt weiter: Was, wenn Computer beides tun? Wenn Computer betrachten, was Computer gemalt, lesen, was Computer gedichtet, hören, was Computer komponiert haben? Wo wäre der Sinn? Es ist immer die Rede davon, daß die KI vieles überflüssig macht: Fließbandarbeiter, Kassierer, Setzer, Raumpfleger, demnächst Busfahrer, vielleicht bald Krankenpfleger, Sportjournalisten oder Nachrichtentexter – aber ganz gleich, was noch alles: die KI kann dem Menschen den Menschen nicht ersetzen. So wie wir die Liebe, Sex oder gutes Essen nicht an Maschinen delegieren können. Den Menschen dem Menschen nicht ersetzen heißt auch: Sich selbst nicht ersetzbar zu sein. Denn der Kommunikationscharakter der Kunstproduktion und -rezeption bestimmt Kunst noch nicht ganz. Kunst findet auch ohne Publikum statt. Vor etwa 10000 Jahren nahm ein Künstler oder eine Künstlerin ein Stück Walknochen zur Hand und schnitzte daraus die Figur eines Rentiers im Galopp. Das Stück ist äußerst fein gearbeitet und fußt auf exakter und sorgfältiger Beobachtung. Man darf sagen, es ist mit Hingabe, ja Liebe gefertigt. Jemand, ein Mann oder eine Frau, hat sich damals die Mühe gemacht, aus einem Stück unnahbarer Materie etwas zu machen, das mehr war als ein Werkzeug; etwas, das für ein anderes einstehen konnte; etwas, das Bedeutung hatte. Was immer der Grund war – es war diesem Menschen wichtig, sonst hätte er oder sie nicht soviel Mühe darauf verwendet. Mühe nicht nur auf dieses eine Stück, denn um die Figur so genau schnitzen zu können, bedarf es langer Übung, bedarf es zahlloser mißlungener Zwischenschritte, in denen der Künstler sich an die Perfektion der Darstellung angenähert hat. Was wir sehen können, ist das ferne Ende, das Ergebnis eines langen, von Frustration und Rückschritten, Durchbrüchen, Aha-Erlebnissen und Triumphen geprägten Lernprozesses. Warum hat dieser Mensch damals das auf sich genommen? Wir wissen es nicht genau – aber wenn wir ehrlich sind, können wir uns doch hineinfühlen, sind wir diesem Menschen ganz nah, kennen seinen Impuls, jedes Mal, wenn wir einen Stift nehmen und gedankenverloren eine Figur kritzeln. Wir kennen alle diesen Moment, wo etwas, das wir formen wollten, tatsächlich gelingt. Und wir bewundern die, denen es besonders gut gelingt. Können – wollen – wir diesen Moment an eine Maschine delegieren? Was wäre der Sinn, wenn wir es tun? Wir treiben ja auch Sport und quälen uns an Bestzeiten und Rekorden ab, obwohl eine Maschine schneller wäre. Was war das Gejammer groß, als in den nuller Jahren ein Automat den damals amtierenden Schachweltmeister schlug. Bewundern und feiern wir jetzt den Automat? Man stelle sich vor, es erhöbe sich ein Geheul, weil ein Auto den Weltrekordhalter auf der 100-m-Distanz schlägt. Man bedenke: Roboter auf dem Rasen statt Menschen bekämen vielleicht auch die interessanteren Spiele hin, wenn man sie so programmiert; und man könnte sie so programmieren, daß sie niemals foulen. Aber eins könnten sie eben nicht: triumphieren. Und was vielleicht noch bedeutsamer ist: Sie könnten auch niemals scheitern. So wie eine Sauattrappe keinen Liebeskummer haben kann.
Insulationen (4)
Diesmal sah man zahlreiche verendete Vögel, rohe Nester aus Fleisch und Federn, duckten sie sich unter Deich und Düne, vom Wind gemiedene Gelege des Todes.
Insulationen (3)
An der Raiffeisenbank in Nebel hängen Immobilienangebote aus. Zu verkaufen ist neben einem Baugrund in Nebel für eine halbe Million Euro (nur das Grundstück) eine Eigentumswohnung in Wittdün. Erdgeschoß, 2 Zimmer (Wohn- und Badezimmer), 45 qm, 25 qm Nutzfläche, kein Balkon, kein Garten, von einem Keller ist auch nicht die Rede, 405.000, Hausgeld 290. Wer dem Zentrum entfliehen, die Sehnsucht aufgeben und sich den Rand der Welt zur Heimat machen will, muß reich sein oder Verwandte auf der Insel haben. Uns anderen, den Habenichtsen, Pechvögeln und Enterbten, bleiben nur das Nahe, das Innere und die Städte.
Insulationen (2)
Gefurchte, genarbte, von selbstähnlichen Kräuselmustern ausgemalte Flächen; oder Flußdelten, Zopfmuster, weder dem Mineralischen noch dem Aquatischen ganz zugeordnete Materie; Zwischenwesen, verflüssigter Sand, geronnenes, zu ornamentalen Diagrammen halberstarrtes Wasser; zarte Gebilde, unverwechselbar einmalig wie Schneeflocken, nur durch die Kraft von Oberflächenspannung zusammengehalten, emergente Struktur: man scheut sich, diesen Arbeiten von Wellen, Strömung, Regen und Wind ins Handwerk zu pfuschen und darauf etwas so Profanes wie Fußspuren zu setzen. Es fühlt sich an, als würde man einem Künstler über die Leinwand latschen. Aber diese Welt ist sowieso ständig in Bewegung, und die fraktalen Furchen im eben erst trockengefallenen Schlick, sie werden bei der nächsten Flut mitsamt den gepfuschten Fußpuren darauf verschwinden — um bei der nächsten Ebbe neugeschaffen wieder aufzutauchen, ohne Gedächtnis, ohne Spuren, ohne Erinnerung an die Schuhsohlen, die hier zwölf Stunden zuvor ein paar Sandkörner verschoben haben, flüchtiger als ein Gedanke. Die Hybris besteht darin, anzunehmen, man könnte sich hier dauerhaft aufprägen; Rücksicht nehmen zu sollen, Schonung walten zu lassen, darin liegt die eigentliche Selbstüberschätzung. Du bist nichts, Mensch. Du bist so wenig, daß du nicht einmal Rücksicht nehmen kannst. Mit deinen Vibramsohlen, deinem Outdoor-Outfit, deinen Brillengläsern und Fernrohren bist du weniger als ein Sandkorn, leichter als der Wind, der das Sandkorn an seinen Platz in den unerschöpflichen Ordnungen trägt.
Insulationen (1)
Beim Spaziergang über den Deich vergeht mir jede Wasser-, Schwimm- und Abenteuerlust. Der Wind schlüpft zu den warmen Händen in die Taschen, zupft hinten an der Jacke, brüllt Seefahrerparolen ins Ohr. Es stürmt, sagt der Binnenländer, und es ist ihm egal, daß das hier für Einheimische noch lange kein Sturm ist. Also stürmt es halt, ein anderes Wort steht für dieses Luftregister nicht zur Verfügung. Luftkohorten, die von weit draußen Anlauf nehmen und den Spaziergänger vom Deich zu stoßen trachten, Inselwinde mit dem Geschmack nach Salz und Wolken. Es reißt am Gesicht, als flögen gleich die Augenbrauen dem Rotz aus der Nase hinterher.
Wir gehen, nun mit dem Wind im Rücken, vor dem Deich am Wattenmeer, das in der Flut langsam von Westen her volläuft, entlang nach Osten, auf einen fernen dunklen Fleck zu, der in dieser streckengeladenen Flachheit meilenweit entfernt scheint und sich, als wir dann doch irgendwie, vom Wind geschoben, näherkommen, als Haufen grauer Steine entpuppt, die von einer Vergangenheit als Ruine zu träumen scheinen. Und dann sehen wir das Bahnübergangszeichen, und allmählich werden von links über den Deich herabgeführt Bahngleise sichtbar. An dem Steinhaufen biegen sie nach rechts ab, überqueren den Weg und streben hinaus ins Watt. Rostige Stränge, Schwellen aus Beton, dazwischen zittert Wasser, der Schienenstrang verschwindet nach kurzem in einem Gewirr aus Marschpflanzen, Schlick und Wind. Erst auf dem Rückweg lesen wir auf einer Infotafel, bei dem Schienenstrang handele es sich um eine Verbindung zwischen der Hallig Langeneß und dem Festland. Diese ist auf einem Damm montiert, dem sogenannten Olanddamm. Ein Photo dazu zeigt einen Wagen, der wie ein Seifenkistenrennauto aussieht, aber einen Mast hat, mit einem schönen Segel daran. Ein Segel auf Schienen! So etwas kann auch nur Küstenbewohnern einfallen. Ein Segel hätten wir jetzt auch gerne, ein Segel, das uns schneller zu dem fernen, am windzerblasenen Horizont klebenden Hotel zurückbringt, aber der Wind käme sowieso von vorn.
Das einzige verbliebene Licht. Das Pilotlämpchen einer Türschelle hängt in der Nacht. Es schwebt ohne Verbindung zu stützenden Strukturen, gehalten nur von den Strängen der Dunkelheit. Ein verlorener Posten, nur noch von Pflicht und Durchhalten am Leuchten gehalten. Dauern wird es, bis sich Mauern darum herum materialisieren. Ankämpfen gegen die Traurigkeit, der letzte zu sein. Sich einbilden, man wäre der erste. Der Wind läuft eingebildeten Schritten hinterher. Hinter unsichtbaren Garagentoren sterben vielleicht Hunde.
Phoebe
Der Mond, fast voll, weißlich und gequetscht, über der schwarzen Kante einer Photovoltaikanlage. Ich verringere die Belichtungszeit, bis die Narben und Schrunden des gequälten Trabanten hervortreten wie der Leib eines alten Soldaten. Ich mache mein Bild, aber was im Sucher erscheint, hat nichts mit der eisigen Wirklichkeit des Gestirns zu tun, die Silhouetten der Gebäude, über denen es steht, die Dächer, die Tiefe des Bahnsteigs, das alles versinkt in dunklen Flächen, überläßt der leuchtenden Kugel darüber die Bühne. Und dieser Himmelskörper, keine Sonne, nur zu geliehenem Leuchten imstande und gerade in diesem Leihen ein Meister, steht über dem Dach, als wolle er alle unsere Bemühungen, uns die Sonne dienstbar zu machen, verhöhnen.
Irrtum
Spätes Begreifen aufgrund der unausrottbaren Neigung, von mir auf andere zu schließen. Es trifft nicht zu, worüber ich jahrelang erst gestaunt, dann gespottet, bald schon mich geärgert habe, daß die Leute auch noch in Bus, Bahn und Zug telephonieren müssen. Mein Irrtum bestand darin, anzunehmen, es handele sich um ein Laster, dem überall, und eben auch in Räumen, wo es nicht am Platz sei, gefrönt werde; dabei ist das Gegenteil der Fall: nicht auch noch in der Bahn, nein, gerade in der Bahn wird gequasselt. Bestand doch mein Denkfehler darin, vorauszusetzen, der eigentliche Ort zum Führen von Telephongesprächen sei das eigene Zuhause, die Festnetzleitung, und sonst benutze man halt das Mobiltelephon, wenn es sich nicht vermeiden lasse und telephoniere unterwegs, wenn es bis nach Hause zu weit sei. Weit, ach, allzu weit gefehlt! Zu Hause hat man Besseres zu tun; der Ort, die Zeit, wo man in aller Ruhe seinen konversationellen Pflichten und Bedürfnissen nachgehen kann — ist unterwegs. Wo man, auch darin sieht sich meine Erwartung getäuscht, eben nichts Besseres zu tun hat. Längst scheint es ja aus der Welt, daß man diese Zeit unterwegs nutze, indem man ein Buch oder die Zeitung läse.
Was den Wegen gelingt: sich selbst zu begegnen, wieder und wieder, Anfang und Ende zusammenzuknüpfen, Ankunft und Aufbruch gleichzeitig zu sein, bleibt unmöglich.
Also noch einmal in die Wanderstiefel, noch einmal die Haustür hinter sich ins Schloß fallen hören. Nicht auf den Regen achten, sich den Wald überstreifen wie einen Mantel. Bis ganz hinauf, wo die Böschungen müde am Weg stehen und sich mit den Erdschichten verzählen. Hinter den Hügeln arbeitet sich wie je die Ebene mit ihren Straßen an der Ferne ab. Keine Zeit für Glocken, unter den Steinen knackt schon die Dunkelheit mit den Gliedern. Der Wind bringt keine Geschichten; für die unseren ist er taub.
Von irgendeinem Weg weiter oben klingt Kinderlachen auf, gleich wieder verstummt, zu seiner eigenen Zeit etwas Spätes und Letztes, das es eilig hat, ohne es zu wissen, wie Blätterfall. Auf dem Schotter die Mumie einer vor Monaten vergessenen Socke. Unten im Tal ein geschlossenes Freibad, im gefüllten Becken schaukelt der Himmel mit Gewölk.
Es wäre Zeit, aber wofür? Vor der Hütte warten die Wege, abmarschbereit. Namen im Holz, Jahreszahlen, in der Dämmerung kaum noch lesbar, auch diese mußten weiter zu ihrer Zeit.
Gaza, 24.12.2023
“Steht in der Zeitung, sie haben jetzt Sprengstoffgürtel — für Kinder, in Gaza”, sagt mein Vater am Abendbrottisch, er sagt, “Wer plant so etwas?”, und er sagt, “Was sind das für Menschen, die sich so etwas ausdenken?”, und seine Stimme, als er das sagt, beinahe mitfühlend mit denen, die sich so etwas ausdenken, ist ganz klein.
Solstitium
Hell wie Lupen der Schnee, ins Licht gewendete Höhlen.
Nirgends und überall wirkt, was sich im Innern verschloß.
Und auch
(Und auch dich kennt dieser Raum durch mich, kennt uns, und von Anfang an, kennt die Knospen und Wurzeln, die ersten sprossenden Silben des Gesprächs, das uns seither bis ins Körperliche hinein verbindet. Als ich schlaflos lag und die auf mich Ruhlosen herabblickenden Bücher bat, ihre Spiegelungen auch in der Scheibe, mir von dir zu erzählen. Hier war es. Und doch war es nicht hier. Es war nirgends. Es war in der Vergangenheit eines Ortes, der seine eigene Zukunft hatte, damals, wie wir die unsere, unbekannte.)
Was reden die alle seit Tagen von dem Gottschalk? Wetten dass …? war doch mit Frank Elstner!
… donec ad haec tempora quibus nec vitia nostra nec remedia pati possumus perventum est.
“… bis wir schließlich [in der Lektüre, S.] in unsere Zeit gelangen, eine Zeit, in der wir weder unsere Fehler noch deren Korrektur ertragen können.”
(Livius, Ab urbe condita, Praefatio)
Vom Wetter (2)
Das Wetter als Menschenwerk. Es zeichnet sich schon ab, daß Geoengineering der letzte Ausweg bleibt, um die Erderwärmung auf lebensverträgliche Maße zu begrenzen. Die Frage ist wohl weniger, ob wir es tun, als vielmehr, wann wir es tun. Unabsichtlich haben wir ja mit dem Geoengineering bereits angefangen, als wir uns vor ungefähr 150 Jahren daran machten, das Erdklima durch den Ausstoß von Treibhausgasen anzuheizen. Als die Physik den Treibhauseffekt von Kohlendioxid und anderen Gasen entdeckte, den Klimawandel erst für möglich hielt, dann voraussagte, endlich nachwies, glaubte man auch zunächst noch an eine durchaus positive Entwicklung, schien eine wärmere Erde und eine höhere Kohlendioxidkonzentration in der Atmosphäre doch verbessertes Pflanzenwachstum und damit bessere Ernten zu versprechen. Wenn wir jetzt erwägen, Schwefelaerosole in die Stratosphäre auszubringen oder im All gigantische Schattenspender aufzuspannen, um die Erde wieder abzukühlen, denken wir bereits über einen zweiten Eingriff nach, der die Folgen des ersten rückgängig machen soll. Davon kann man halten, was man will — es hat jedenfalls nicht nur physikalische Folgen, sondern auch psychologische und soziale. Es wird ein für allemal unsere Auffassung vom und unsere Haltung zum Wetter verändern. Schon das Bewußtsein des menschengemachten Klimawandels macht aus dem täglichen Regen oder Sonnenschein ein Phänomen, das von menschlicher Anwesenheit kontaminiert ist, man könnte sagen, es hat seine Unschuld verloren, seine außermenschliche Neutralität. Das Wetter war gut oder schlecht, aber es war niemandes Schuld. Es gehörte keinem. Niemand war als Wetterhalter oder -Inhaber dafür verantwortlich, wenn es zu rechten Zeit regnete oder zur Unzeit schneite. Damit, mit dieser Unschuld, wäre es vorbei, sobald wir absichtsvoll ins Klima und ins Wettergeschehen eingreifen. Was erst eine neutrale Tatsache, dann eine von niemandem gewollte, beiläufige Folge gewesen ist, wird ein von Menschen und ganz konkreten, benennbaren Institutionen zu verantwortendes Geschehen werden. Wetterkatastrophen hat es schon immer gegeben, auch vor dem Beginn des anthropogenen Klimawandels. Katastrophen wie etwa Überschwemmungen, die sich ins kollektive Gedächtnis der Menschheit als Erzählung von einer Sintflut eingebrannt haben. Wer ist in Zukunft, im Zeitalter des Geoengineering, für Ereignisse verantwortlich, die nicht mehr einfach so passieren, sondern die ungewollten Folgen einer versuchten Kontrolle sind? Freilich, das Problem ist ein theoretisches und prinzipielles: das Wettersystem ist chaotisch, kein einzelnes Ereignis, sei es eine Dürre, ein Tornado oder auch nur günstiger Regen zur richtigen Zeit, kann direkt auf eine einzelne Maßnahme zurückgeführt werden. Trotzdem bleibt die Tatsache des Eingriffs bestehen, das Bewußtsein darüber, daß wir eingreifen. Und allein dieses Bewußtsein muß die Auffassung vom Wetter verändern. Das Wetter wird dann nicht mehr gegebene Tatsache sein, nie mehr. Es wird diskussionswürdig werden, zum Streitthema, zum Politikum. Denn sollte es uns gelingen, die übelsten Folgen des Klimawandels abzumildern; sollte es gar gelingen, zu vorindustriellen Temperaturen zurückzukehren: Was wäre denn dann noch normales Wetter? Selbst wenn man eines Tages glauben dürfte, es geschafft zu haben, und beschlösse, nicht mehr ins Wettergeschehen einzugreifen: die Tatsache, daß man es kann, daß man Erfolg hatte mit dem ersten und zweiten Eingriff, macht auch so aus dem Wetter eine Folge menschlicher Entschlüsse, etwas, das das Wetter nie zuvor gewesen ist. Würde man in Zukunft den Entschluß fassen, nicht mehr einzugreifen, wäre jeder Regen, jede Dürre, aber auch jeder durchschnittliche Sonnenschein die Folge eben davon: daß wir nicht eingegriffen haben. Und bliebe also: unser Entschluß. Man kann nie mehr zum Nichtwissen zurück, wenn man mal etwas in Erfahrung gebracht, nie mehr zum Nichtkönnen, wenn man mal etwas gelernt hat. Wir werden lernen, das Klima zu beherrschen und damit indirekt auch das Wetter, und wir können nicht mehr verlernen, wie man das macht. Noch schlimmer: Wir dürfen es auch nicht. Wer das Wetter meistert, ist auch verantwortlich dafür. Wir sollten das nicht akademisch finden, sondern uns jetzt schon Gedanken darüber machen, wie wir mit einem solchen Können umgehen sollen.
Vom Trösten
Im Traum kommt nachts oder spätabends meine Mutter in mein altes Zimmer in Inseldorf. Ich habe schon geschlafen, sie zieht wortlos den Rolladen hoch. Eine fürchterliche Angst befällt mich. Etwas stimmt ganz und gar nicht. Sie verbirgt etwas vor mir. Am Rand nehme ich war, daß das Fensterbrett voller Kakteen ist. Ich flehe meine Mutter an, daß sie mir sagt, was los ist, aber sie schweigt.
Warum habe ich diesen Traum? Und nimmt dieser Traum nicht ein echtes Ereignis auf? Spielt mit einem Erlebnis aus früher Kindheit, als in Wirklichkeit meine Mutter zu mir ins Zimmer kam und (nach meiner vielleicht nicht zuverlässigen Erinnerung) etwas mit dem Vorhang (hatten wir Vorhänge?) machte, ihn beiseite raffte oder erst noch vors Fenster zog? (Als wollte sie mich damit von allem Übel, von allen schlechten Nachrichten bewahren; oder als sollte ich sie genau sehen, um sie beizeiten kennenzulernen?)
Im Traum verschweigt mir meine Mutter, was passiert ist, und daraus erwächst die grauenhafte Angst. Die schlechte Nachricht damals: meine Großmutter väterlicherseits war gestorben. Aber nicht diese Nachricht (ich war noch keine vier Jahre alt und hatte kaum Gelegenheit gehabt, meine Großmutter richtig kennenzulernen) erschreckte mich. Was mir einen eiskalten Schrecken eingab, waren die Tränen meiner Mutter. Es dürfte das erste Mal gewesen sein, daß ich meine Mutter weinen sah, und das war so entsetzlich, daß ich sie damals bat, das Zimmer zu verlassen. An mehr erinnere ich mich nicht. Ob es verletzend für sie war, ob sie darauf noch etwas gesagt hat, mit welchen Gedanken ich wieder eingeschlafen bin, nichts davon weiß ich noch. Der Vorfall ist, soweit ich weiß, nie wieder zur Sprache gekommen, und ich weiß bis heute nicht, was meine Mutter bewogen haben mochte, ihren drei- oder vierjährigen Sohn mitten in der Nacht zu wecken, um dem Kind zu sagen, daß seine Großmutter gestorben sei.
Ich kann diese fast fünfzig Jahre zurückliegende Szene nicht ansprechen, also auch nichts darüber herausfinden. Im Grunde will ich auch gar nicht daran rühren. Ich hätte Angst, daß meine Frage (warum bist du damals ins Kinderzimmer gekommen, um mich zu wecken und mir den Tod meiner Großmutter mitzuteilen?) wie ein Vorwurf klänge. Und ich will nicht ansprechen, wie sehr mich das Weinen meiner Mutter immer bestürzt hat. Weinen überhaupt bestürzt mich und läßt mich schreckenskalt und -starr werden, zum Trösten unfähig. Eigentlich bei allen Menschen, aber besonders habe ich bei meiner Mutter — die selten, sehr selten weint — Weinen schrecklich gefunden. Vielleicht, weil darin die Erkenntnis lag, daß sie, dieser stärkste aller Menschen, wie ich es als Kind empfand, eben auch schwach war, nicht allem gewachsen, selbst des Trostes bedürftig.
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In der Schulzeit fuhren wir Grüppchen Schüler aus unserem Dorf, die in dieselbe Klasse aufs Gymnasium im benachbarten Städtchen gingen, gemeinsam mit dem Fahrrad zur Schule. Einmal waren wir nur zu zweit, H., die Tochter unserer Vermieter, die im selben Haus wohnten, und ich. Etwas Schlimmes war passiert, ich weiß nicht mehr, ob H. es mir erzählte oder ob ich es von anderen wußte, und H. ging es sichtlich schlecht. Ihr Blick war starr und leer, abwesend, kalt wie Münzen, ihre Lippen verpreßt, und die ganze Fahrt über fiel kein Wort. Von ihr keins der Klage, von mir keins des Trostes. Ich wußte, alles war falsch an der Situation, das Schweigen, das Fahren, das Weiterschweigen, das Anhalten und Weiterfahren an einer Kreuzung, und alles andere wäre auch falsch gewesen, das einzige, was richtig gewesen wäre, aber war völlig unmöglich und irrwitzig und unleistbar, es wäre gewesen, schlicht “Halt mal an” zu sagen, abzusteigen und H. wortlos in den Arm zu nehmen, damit sie endlich hätte weinen können. Diesen Schritt zu tun, dachte ich, hätte ich ein ganz anderer Mensch sein müssen, aber es ist auch das andere wahr, daß ich, hätte ich es getan, in diesem Moment ein ganz anderer Mensch geworden wäre.
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Trösten ist schwierig. Aber warum? Weil uns etwas von dem fremden Schmerz trennt, der nicht unserer ist. Mitgefühl ist eine Paradoxie. Es ist ein narratologisches Empfinden, ein Feuern von Spiegelneuronen, eine Phantasie. Selbst wenn wir selbst einmal einen ähnlichen Schmerz empfunden haben, jetzt fühlen wir ihn nicht. Und wenn doch, dann sind wir selbst des Trostes bedürftig.
War meine Mutter des Trostes — meines Trostes — bedürftig? Und was ist mit meinem Vater, dessen Mutter es doch war, die gestorben war? Und wie hätte ich Vierjähriger trösten können? Vielleicht tat ich es, ganz einfach, weil ich da, ihr gemeinsames Kind und am Leben war. Vielleicht mußte meine Mutter deshalb ins Kinderzimmer kommen und mich wecken, um sich des Lebendigen zu vergewissern, für das ich junges Leben stand, ein Unterpfand gegen die Vergänglichkeit, gegen die Negation, gegen die lebensfeindlichen Kräfte. Meine Mutter war damals Anfang zwanzig, und dieser Tod war der erste in ihrem Umfeld, unter ihren Lieben. Ihre eigenen Eltern sollten da noch über fünfzig Jahre leben. Sie hatte den Tod bislang nur als ein Phänomen kennengelernt, das Fremden (ihren Patienten) geschah. Es ist auch gut möglich, daß sie in dem Moment einfach Angst um mich hatte, ihren ersten Sohn (ob mein Bruder da schon geboren war, weiß ich nicht). In jedem Fall muß es ein Knacks gewesen sein, ein Begreifen, ein Erwachen in einer kälteren Welt, das in ihr vielleicht das Bedürfnis nach der schläfrigen Wärme ihres Kindes weckte.
Aequinoctium
Letztes Ruder, wir leeren das Blau aus den Wimpern und Schöpfen.
Was uns der Kranichzug ließ, schreibt uns den Tag auf die Haut.
Alle Wege führen zum selben geschlossenen Zauntor.
Sterne wieviel er auch zählt, gibt sie der See nicht mehr her.
Winde bewohnen das Ufer. Im Bootshaus bechern die Wellen.
Wärme, den klammen Puls, wandelt der Knöchel in Sand.
Regen von weit her, wie die Kunde von fernen Ländern. Ein Aufseufzen des Himmels, der zu dieser Stunde noch dunkel ist. Die Luft bildet eine schwere, zähe Substanz, gegen die sich die Autos mühsam vorwärtskämpfen. Alles ist mühsam, die Anzeige des Weckers muß bei jeder neuen Ziffer überlegen. Das Radio wiederholt nur die Sinfonien von gestern. Der Dunkelheit kaum gewachsen, lassen die Scheiben sich den Rücken vollregnen. Sie schauen nach innen, zu der Lichtinsel mit Schreibzeug und Kaffee. Zu dem eben erwachten Schläfer, der noch mit dem Wirrwarr seiner Träume kämpft.