Der Regen, in der Nacht noch ergiebig gefallen, hat erst gegen Morgen aufgehört. Die Wiese ist noch so naß wie das letzte Mal. Ich ziehe mich um und stopfe Hemd und Hose in den Rucksack, darüber kommt die Regenjacke. Laut Anzeige hat das Wasser 18°, doch fühlt es sich so kalt an, daß mir der Atem stockt. Vielleicht hat es mit der Erwartung zu tun. Wer auch mit 15° klarkommt, unterschätzt die 18° und hält den Widerstand für geringer. Tatsächlich zeigen die drei Grad Unterschied erst nach dem Schwimmen ihre Wirkung, wenn das postnatatale Zähneklappern ausbleibt. Ein paar Züge Brust, um mich zu gewöhnen, dann Kraul mit Atmen im 2-3-2-Rhythmus. Ich schwimme am Ufer entlang bis zur Bojenkette, die den zivilisierten Teil des Sees, wo Schwimmen erlaubt, vom wilden, wo es verboten ist, trennt, in der Absicht, mich an der Leine bei der Überquerung zu orientieren. (Man neigt beim Kraulen dazu, stark abzudriften, wenn keine Bodenmarkierungen den Kurs vorgeben.) Was dazu führt, daß ich nach ein paar Zügen kräftig mit einer Boje zusammenstoße. Immer ist da die leise Versuchung, einfach unter der Leine durchzutauchen und in den gesperrten, größeren Teil des Sees hinauszuschwimmen, ins Freie, Offene, Wilde hinaus. Ins Unbegrenzte. Aber natürlich lasse ich es bleiben. Nicht aus Angst, jedenfalls nicht vor dem unzivilisierten Wasser. Vor der Natur fürchte ich mich nicht, vor ihr habe ich Respekt. Mit den Menschen geht es mir umgekehrt. Die Natur kann man lernen, den Menschen nicht. So fürchte ich nur Menschen und ihren Glauben an Erzählungen. Zum Beispiel diejenige Erzählung, die einigen von ihnen die feste Überzeugung eingibt, mir ein Bußgeld aufbrummen zu können. Und auch da fürchte ich nicht den Verlust des Geldes, sondern ihre strengen, strafenden, zivilisierten Augen. Eine meiner Lieblingsbeschäftigungen: In Ruhe gelassen werden. Deshalb habe ich mir ja auch Bewegungsformen gesucht (mein Gestrampel oder Schweifen Sport zu nennen, weigere ich mich, Sport ist etwas für die Modernen), bei denen ich allein sein kann, das Laufen, das Wandern und eben auch das Schwimmen, letzteres vorzugsweise bei schlechtem Wetter und draußen, vorzugsweise in einem See. In einer überfüllten Halle oder im sonnenmilchgetrübten Becken des Freibads ist es nämlich Essig mit dem In-Ruhe-gelassen-Werden. Da ist eine Bojenkette ein geringes Übel, läßt sie doch zum Schwimmen so viel Platz, daß von Ufer zu Ufer im zivilisierten Bereich vier Olympiabahnlängen liegen. Zum In-Ruhe-Gelassen-Werden gehört aber eben auch, von Behörden aller Art unbehelligt zu bleiben, auch deswegen achte ich die Bojenkette.
An deren anderen Ende riecht das Ufer faulig, ich sehe zu, daß ich schräg zum Sandstrand quere; wieder die Gewächse wie beim letzten Mal, deren Spitzen aus der trüben Tiefe auftauchen, ihre Blätter sehen verschlammt aus, als trügen sie einen Niederschlag von etwas vor langer Zeit zum Grund Gesunkenem wieder ans Licht empor. Und dann, aus dem Augenwinkel, eine träge Bewegung, ein Wälzen, ein kurzes Gerinnen der schlammigen Grünheit zu Körper und Form. Es ist das erste Mal, das ich hier Fische sehe. Meine Freundin Rhea hat welche gesehen, neulich am Dümpfhaubsee. Ich noch niemals.
Fische, und dann Sonne. Geblendete Atemzüge nach links, grünuferige rechts. Ein kurzer Halt am Ponton, wie alles in dieser Frühe am See, bei diesem Wetter, verlassen und lustlos, dann zurück zu meinen Kleidern. Keine zwanzig Minuten sind vergangen, seit mir der Atem stockte beim Hineingehen, aber es reicht mir. Runter mit der albernen Badehose, noch ein Schokoriegel auf der Bank, ein paar Atemzüge innehalten. Das Blubbern wieder aus den Ohren kriegen. Die Bäume stehen still rings ums Wasser, in den Büschen schlagen die Nachtigallen. Drei, vier Schwimmer sind draußen. Die Pontons treiben träge und kalt und warten auf Sommer.