Wuppertalsperre

Einige Male in meinem Leben habe ich sehr schlimm gefroren, schlimmer als Zähneklappern, so schlimm, daß man sich vom Tod angehaucht fühlt. Ich weiß die Male noch genau: in der klirrenden Morgenfrühe, knapp 5000 m über und bei einem zweistelligen Celsiusbetrag unter Null, auf einem Gletscher unterhalb des Wayna Potosí, nach einer Nacht, in der ich vor Frost nicht schlafen konnte, darauf wartend, daß die Tour endlich begönne und wir uns warm gehen könnten; nach einem Bad im Freibad vor Jahren im September, wo mich die Kälte in der Umkleidekabine heimsuchte wie ein böser Geist; oder das stygische Frösteln, wenn man bei Fieber auf die Toilette muß; oder erst neulich einmal nach einem eisigen Bad auf dem windigen Weg vom Beckenrand zur heißen Dusche, zum Glück gab es eine.

Es ist eine Kälte, die das letzte Flämmchen Wärme, das irgendwo zwischen Magen und Wirbelsäule flackert, auszulöschen droht. Ein Gefühl von Elend, das jedes bloße Bibbern weit hinter sich läßt.

Zweihundert Meter sind es an der Talsperre von einem Ufer zum anderen, hin und zurück vierhundert, neulich bin ich das geschwommen, die Strecke ist ein Klacks, fünf Minuten hin, fünf Minuten zurück, man glaubt, gar nicht richtig im Wasser gewesen zu sein, wenn man sich hinterher abtrocknet, und denkt, eigentlich ist man erst richtig geschwommen, wenn man das Doppel zweimal hinter sich gebracht hat. Achthundert Meter, zwanzig Minuten, das sind gerade mal 16 Freibadbahnen, normalerweise schwimme ich 40.

An diesem windigen und bewölkten Tag Mitte Juni kehre ich, nachdem ich nach zweihundert Metern kabbeligen Wassers die Bucht wieder erreicht habe, wo meine Sachen auf mich warten, noch einmal um und schwimme die Strecke zum zweiten Mal. Die Sonne kommt heraus und schneidet tanzende Bahnen in die grüne Tiefe, gleich fühle ich mich in meinem Vorsatz bestärkt, das Wasser flimmert, der Himmel zeigt fahles Blau, die Ufer scheinen näher zusammenzurücken. Ich bin allein auf dem Wasser, mitten auf dem weiten Wasser, hundert Meter vom nächsten Ufer entfernt, und alles jubelt in mir vom Gefühl, Widerstandskraft zu haben und stark zu sein. Ich erreiche das andere Ufer, betrete zum zweiten Mal den Grund mit den algigen Steinen hinter der überfluteten Weide. Schwimmbrille reinigen, ein Moment Pause, bis sich der Atem etwas beruhigt hat. Los geht’s, murmele ich und mache mich auf den Rückweg. Noch merke ich nichts. Ich merke auch noch nichts, als ich abermals die Hälfte hinter mir habe. Auch als ich in die Bucht steuere, merke ich noch nichts. Sicher, es ist kalt, und die Arme sind schwer und müde, aber so kalt ist es nun auch wieder nicht. Wie kalt es wirklich ist, wie kalt ich innerlich bin, ausgekühlt bis zu dem kleinen Flämmchen zwischen Magen und Wirbelsäule, merke ich erst, als ich mich schon abgetrocknet habe. Wind kommt auf und droht den letzten Rest Wärme aus mir herauszublasen, so fühlt es sich an. Ich zerre am T-Shirt, sehne mich nach bloßem Freibadbahnenbibbern, im Vergleich zu dem hier mollig warm, muß mich setzen, um die Hose anzuziehen, ich kann das Gleichgewicht nicht mehr halten, ich schluchze vor Frustration, weil ich das Hosenbein nicht über die feuchte Ferse gezogen kriege.

Zum Glück vergißt man schnell, und was bleibt, ist nicht das Elend des erbärmlichen Frierens, sondern der Triumph, das Glück und jene Überzeugung der eigenen Kraft und Stärke, die nur Schwimmen in kaltem Wasser vermitteln kann. Wie beim Schwimmen alles ins Lot kommt: “I can dive in with what feels like a terminal case of depression and step out again a whistling idiot”, schreibt Roger Deakin, und ich kann das nur bestätigen.

Eine heiße Dusche gibt’s hier nicht, nur eine anstrengende, unter anderen Umständen schweißtreibende Fahrradfahrt nach Hause; aber nicht einmal die erste anstrengende Steigung vermag mich aufzuwärmen, vom Ins-Schwitzen-Geraten gar nicht erst zu reden. Noch zu Hause in der warmen Küche, nach einer Stunde Radeln und zwei heftigen Anstiegen, fröstelt mich. “Ich habe immer noch eine kalte Nase”, sage ich zu meiner Frau, die mich lachend auf die Spitze derselben küßt.

Solstitium

Der Hügel bebt, von Hörnern angestoßen,
die Lüfte tragen Pelz, sind wild wie Narren
und Mandeln stürzen weiß wie süße Schloßen.

Vom Kraut entblößt, liegt Lehm in wüsten Barren,
wie peinlicher Gedanke. Furchen, Fluchten
versenken einen festgefahrnen Karren.

Die Bäche phantasieren sonder Zuchten,
wo sie im Dunkel stehen. Schräge Weisen
verfehlen ihren Ton in Flüsterbuchten.

Ein Lichtgang saugt sich fest an Wolkenschluchten.
Der Horizont kommt her auf schwarzen Gleisen.

Heddesheim

Der Regen, in der Nacht noch ergiebig gefallen, hat erst gegen Morgen aufgehört. Die Wiese ist noch so naß wie das letzte Mal. Ich ziehe mich um und stopfe Hemd und Hose in den Rucksack, darüber kommt die Regenjacke. Laut Anzeige hat das Wasser 18°, doch fühlt es sich so kalt an, daß mir der Atem stockt. Vielleicht hat es mit der Erwartung zu tun. Wer auch mit 15° klarkommt, unterschätzt die 18° und hält den Widerstand für geringer. Tatsächlich zeigen die drei Grad Unterschied erst nach dem Schwimmen ihre Wirkung, wenn das postnatatale Zähneklappern ausbleibt. Ein paar Züge Brust, um mich zu gewöhnen, dann Kraul mit Atmen im 2-3-2-Rhythmus. Ich schwimme am Ufer entlang bis zur Bojenkette, die den zivilisierten Teil des Sees, wo Schwimmen erlaubt, vom wilden, wo es verboten ist, trennt, in der Absicht, mich an der Leine bei der Überquerung zu orientieren. (Man neigt beim Kraulen dazu, stark abzudriften, wenn keine Bodenmarkierungen den Kurs vorgeben.) Was dazu führt, daß ich nach ein paar Zügen kräftig mit einer Boje zusammenstoße. Immer ist da die leise Versuchung, einfach unter der Leine durchzutauchen und in den gesperrten, größeren Teil des Sees hinauszuschwimmen, ins Freie, Offene, Wilde hinaus. Ins Unbegrenzte. Aber natürlich lasse ich es bleiben. Nicht aus Angst, jedenfalls nicht vor dem unzivilisierten Wasser. Vor der Natur fürchte ich mich nicht, vor ihr habe ich Respekt. Mit den Menschen geht es mir umgekehrt. Die Natur kann man lernen, den Menschen nicht. So fürchte ich nur Menschen und ihren Glauben an Erzählungen. Zum Beispiel diejenige Erzählung, die einigen von ihnen die feste Überzeugung eingibt, mir ein Bußgeld aufbrummen zu können. Und auch da fürchte ich nicht den Verlust des Geldes, sondern ihre strengen, strafenden, zivilisierten Augen. Eine meiner Lieblingsbeschäftigungen: In Ruhe gelassen werden. Deshalb habe ich mir ja auch Bewegungsformen gesucht (mein Gestrampel oder Schweifen Sport zu nennen, weigere ich mich, Sport ist etwas für die Modernen), bei denen ich allein sein kann, das Laufen, das Wandern und eben auch das Schwimmen, letzteres vorzugsweise bei schlechtem Wetter und draußen, vorzugsweise in einem See. In einer überfüllten Halle oder im sonnenmilchgetrübten Becken des Freibads ist es nämlich Essig mit dem In-Ruhe-gelassen-Werden. Da ist eine Bojenkette ein geringes Übel, läßt sie doch zum Schwimmen so viel Platz, daß von Ufer zu Ufer im zivilisierten Bereich vier Olympiabahnlängen liegen. Zum In-Ruhe-Gelassen-Werden gehört aber eben auch, von Behörden aller Art unbehelligt zu bleiben, auch deswegen achte ich die Bojenkette.

An deren anderen Ende riecht das Ufer faulig, ich sehe zu, daß ich schräg zum Sandstrand quere; wieder die Gewächse wie beim letzten Mal, deren Spitzen aus der trüben Tiefe auftauchen, ihre Blätter sehen verschlammt aus, als trügen sie einen Niederschlag von etwas vor langer Zeit zum Grund Gesunkenem wieder ans Licht empor. Und dann, aus dem Augenwinkel, eine träge Bewegung, ein Wälzen, ein kurzes Gerinnen der schlammigen Grünheit zu Körper und Form. Es ist das erste Mal, das ich hier Fische sehe. Meine Freundin Rhea hat welche gesehen, neulich am Dümpfhaubsee. Ich noch niemals.

Fische, und dann Sonne. Geblendete Atemzüge nach links, grünuferige rechts. Ein kurzer Halt am Ponton, wie alles in dieser Frühe am See, bei diesem Wetter, verlassen und lustlos, dann zurück zu meinen Kleidern. Keine zwanzig Minuten sind vergangen, seit mir der Atem stockte beim Hineingehen, aber es reicht mir. Runter mit der albernen Badehose, noch ein Schokoriegel auf der Bank, ein paar Atemzüge innehalten. Das Blubbern wieder aus den Ohren kriegen. Die Bäume stehen still rings ums Wasser, in den Büschen schlagen die Nachtigallen. Drei, vier Schwimmer sind draußen. Die Pontons treiben träge und kalt und warten auf Sommer.