Ein zweites Mal im See, nach einem 5-km-Marsch im Regen, an einer Stelle mußte aufs Feld ausgewichen werden, den Weg hatte eine Pfütze, eigentlich schon ein kleiner Weiher, unpassierbar gemacht. Endlich erscheint zwischen den Büschen die Wasserfläche, der See übt einen Sog aus, das Versprechen, gleich ins Wasser steigen zu können, läßt den Schritt noch einmal schneller gehen. Die Klamotten klamm, die Schuhe durchnäßt, erreiche ich das Kassenhäuschen. Umziehen im überdachten Bereich bei den Schließfächern, die feuchten Kleider in den Spint gestopft, das Handtuch im zusammengeklappten Schirm geschützt zum Steg mitgenommen, die Wiese ist durchnäßt, das Regenwasser quillt zwischen den Zehen. Luft 13°, Wasser wohl nach 24 Stunden Regen keine 18° mehr. Es fällt schwerer als gestern, nimmt mir bei den ersten Zügen den Atem. Ein paar Züge Brust, dann Kraul, bis der Sauerstoffbedarf das Atmen schwierig macht. Rhythmuswechsel, alle 2, 3, 2 Armschläge atmen, so läßt es sich durchhalten. Der See läßt sich vollregnen, blinzelt, konzentriert sich auf seine Mitte, meditiert, vergißt sich selbst. Die glitzernden Schwebstoffe fehlen heute. Das Wasser hat eine helle, transparente Leichtigkeit an der Oberfläche, als bestünde es aus Schichten verschiedener Elemente, bei jedem Atmen durchbricht das Gesicht diese Schicht, als würde man durch eine Glasscheibe tauchen, auf der sich Tropfen gesammelt haben. Darunter liegt die kompakte Masse der grüntrüben Tiefe, undurchdringlich, einförmig, dick.
Monat: Mai 2024
Heddesheim
Der See im Regengetröpfel. Im Frühjahr ist selbst eine wolkengetrübte Wasserfläche kein trauriger Anblick. Auch der verrammelte Kiosk, die zusammengeklappten Sonnenschirme, die leere, nasse Liegewiese, das alles ist von einer unerschrockenen Fröhlichkeit. Alles muß erst noch werden, und es wird: die Bäume umstellen das Ufer wie Sportler vor dem Wettkampf, das Grün lacht von Vögeln, die durchnäßte Wiese quietscht wie frisch gebohnert. Das Wasser ist kühl, nicht kalt, 18° sagt die Anzeige bei der Badeaufsicht. Bei dieser Temperatur bleibt es ein neutrales Element, ohne besondere Eigenschaften. Es duldet den Schwimmer weniger, als daß es ihn ignoriert. Die Sichttiefe ist größer als am Dümpfhaubsee, am Uferrand tauchen plötzlich die Fäden von Bewuchs aus der Tiefe auf, und der Grund wird schon mehrere Meter vom Strand entfernt sichtbar. Merkwürdig ist das Glitzern von Schwebstoffen, das letztes Jahr um diese Zeit fehlte.
Profy
Es ist kaum glaubhaft, doch tatsächlich dreht sich das Gespräch bei Tisch zwischen Chr. und den Eltern um Gesundheit. Cholesterinwerte, Thyroxinwert, Statine. Das volle Programm. Natürlich wird auch über anderes gesprochen. Aber in den Ansätzen ist es genau das, was meine Eltern einmal belustigt verachtet haben. “Alte Menschen sprechen fortlaufend über nichts anderes als Krankheit”, haben sie immer halb amüsiert, halb betrübt festgestellt. “Wer da noch nicht krank ist, wird es.” Und mein Bruder, paar Jahre jünger als ich, fängt jetzt schon an, Dinge gewandt im Munde zu führen, deren Namen auf -itis und -ose enden. Das Paradox ist natürlich: was man vermeiden will, um genau darum muß man sich kümmern. Wer gesund bleiben will, muß sich, wofern er keine 20 mehr ist, mit Krankheiten beschäftigen. Wieder einmal stelle ich fest, an Gesundheit freut sich nur, wem sie selbstverständlich ist.
…
Oft habe ich gedacht, ich bin zu spät geboren worden. Zehn, fünfzehn Jahre eher, und ich wäre Professor geworden, weil es die natürlichste Sache der Welt gewesen wäre (so wie es für viele halbwegs begabte Leute eine Generation vor mir die natürlichste Sache der Welt war, sie sind in ihre Lehrstühle quasi hineingeschlittert, wenn sie das wollten, die meisten wollten sowieso nicht). Aber das ist ein Irrtum. Ein paar Jahre eher, ein paar hundert Kilometer woanders, und ich wäre nicht einmal aufs Gymnasium gegangen. Oder hätte mir an irgendeinem erzkonservativen Establishment die Stirn blutig geschlagen. So aber hatte ich das Glück, es nicht selbst tun zu müssen, sondern die Errungenschaften der blutigen Stirnen der 68er-Generation voll genießen und auf eine Schule gehen zu dürfen, wo das halbe Kollegium, heute würde man sagen, links-grün versifft war. Ich spreche mit einer Wandergefährtin darüber, und sie meint dazu, dann wäre ich eine Generation eher wohl ein sehr guter Realschüler geworden. Wahrscheinlich. Aber dabei wäre ich intellektuell verhungert. Alles, was ich gut gekonnt hätte, hätte mich nicht gereizt. Ich wollte immer etwas, das zu groß war für mich. Diese Feststellung berührt noch gar nicht den Ehrgeiz und das Geltungsbewußtsein. Ich wollte als Person meinen intellektuellen Bedürfnissen genügen. Zwar war ich auf dem Gymnasium. Aber egal, in welchem Maßstab, ich habe immer über die Verhältnisse meines Talents leben wollen. Meine intellektuellen Bedürfnisse waren zu groß für meinen Intellekt.