Felssporn

Bei Kathleen Jamie von einem rätselhaften Bauwerk an der schottischen Küste gelesen: auf einem Felssporn thronend, der über einen schmalen Landsteg mit dem Ufer Verbindung hat, ist das Hüttchen, das sich schon zur Seite neigt, bereit, demnächst zusammen- und von der Felsnadel zu fallen, nur auf dem Wege einer Kletterei zu erreichen. Von wann stammt dieses Bauwerk, wer hat es erbaut, zu welchem Zweck? Eine Einsiedelei? Ein Ausguck, spinne ich die Vermutungen weiter, ein … Kerker? Eine Bestrafung? Ort der Einlösung eines Gelübdes? Ein Heiligtum? Ein Observatorium? Ich stelle mir den Ort vor, das Innere der dreieinhalb Wände, den zugigen Stein, die Taubheit des Windschattens, das Kreischen von Seevögeln im anderen Ohr. Die Brandung überall nah, von den Steilwänden der Küste hallend, als säße man im Brennpunkt einer Satellitenschüssel. Obschon auf einer Felsnadel hockend, befindet das Hüttchen doch unter dem Niveau des Landes; freie Sicht gibt es nur zum Meer hin. Wolkenspiele wie Romane des Himmels. Außer Sicht bleiben die Straßen, die Fahrzeuge, die Schafe, Zäune und Mauern des Landes. Das Land wird zu einer seltsamen Sphäre, was dort passiert, zu etwas Unverständlichem, Bizarrem. Nur ganz selten erscheint überm Klippenkamm die Gestalt einer Kuh oder eines Schafs; dann starrt das Bizarre des Landes zurück und staunt über das Rätsel auf dem Felssporn.

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Ich stelle mir ein Leben auf diesem Felssporn vor. Die Einsamkeit, an Land ein kostbares Gut, hier wäre sie ein unbegrenzter Reichtum. Sie wäre so reichlich vorhanden, daß die Zeit sie nicht fassen, daß die Zeit von ihr überfließen würde. Ein Tag wäre ein zu enges Gefäß für einen Tag. Irgendwann entvölkerte die Einsamkeit selbst die Träume, verschwänden aus den Nächten Gestalten, Menschen, Meinungen, Absichten. Blieben die Gedanken leer, und an die Stelle der Vorstellungen von Gesichtern, an die Stelle der Wörter, an die Stelle von Zusammenhängen und logischen Schlüssen, an die Stelle von Vermutungen, Hoffnungen, Erwartungen träten Himmel, Wolken und Vögel, wie sie vor allen Benennungen einmal waren. Die Welt käme langsam wieder zu sich selbst zurück, nachdem sie die Hüllen und Klammern der Sprache abgestreift hätte, würde sich langsam von ihrer Enge erholen, holte Luft, schöpfte Atem, wie die Vögel und die Wolken Atem holen, der Wind. Wo die Sprache endete, finge wieder die Welt an zu sein.

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Irgendwann würde man selbst zu Stein. Wo die Sprache endete, verlöre auch das von Gedanken und Formulierungen gehaltene Selbst seine Begrenzungen. Es träte über in die Welt und ginge auf in ihr. Es würde Wind werden und das Spiel von Licht auf den Wellen. Es würde nicht mehr denken, es würde nicht mehr gedacht. Es würde nichts weiter von ihm bleiben als die Linie, die der Schatten einer Möwe über die die Klippe gezeichnet hat, bevor sie über den Horizont verschwand.