Zurückziehen ins Kleine. Im Großen kann man nicht mehr leben.
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Im Kleinen auch nicht. Die Zwetschgen am Baum, die Bienenschwärme, die die Jungfernrebe abernten, die Blütenpracht in K.s Garten, der rotschwarze Schmetterling an der Buddleya — alles eine papierene Hülle. Eine falsche Idylle. Der letzte Atemzug einer sterbenden Welt. Im Großen wie im Kleinen, im Außen wie in meinem kleinen privaten Leben — was wir kannten, was ich kannte, geht zu Ende, und es ist gar nicht fraglich, ob das, was kommt, besser ist. Es wird erheblich schlechter sein. Es wird schlimm werden. Sehr schimm.
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Was selbst der bescheidenste, genügsamste Mensch noch als gutes Leben bezeichnen würde, wird immer auf einem massiven Eingriff in natürliche Kreisläufe und Regelsysteme der Natur fußen, auf Verbiegungen dieser Regelsysteme zu seinen, des Menschen, Vorteil. Auf diese Manipulation verzichten zu wollen, würde wieder hohe Säuglingssterblichkeit, Tod nach Ablauf der Auslegungslebensdauer (30–40 Jahre), unvorhersehbare Schwankungen im Nahrungsangebot und in der Folge regelmäßige Hungersnöte bedeuten. Vom Fehlen “höherer” Güter wie elektrischer Strom, fließend Wasser, Schmerzmittel, Fernsehen oder Internet mal ganz zu schweigen. Natürlich ist nichts an unserem Leben, nichts.
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“Ich war schon an meinem Hause”, sagte Thomas, “und erst als ich sah, daß die Fenster noch alle hell waren und die Wagen unten hielten, bin ich umgekehrt.”
“Ja, sie leben wie Belsazar und seine Knechte … immer war das so in solchen Zeiten … man soll nicht schelten, man soll nur immer da sein, immer da sein …” Er legte den Kopf an die Lehne seines Stuhles und schloß die Augen. Jedes Linie des Gesichtes erstarb in erschreckender Müdigkeit. (Ernst Wiechert, Das einfache Leben, S. 27)
Sich ins Kleine zurückziehen – darf man das? Andererseits sieht man im Großen, egal wo man sich engagiert, viel Verlogenes, viel Auftrumpfen ohne Grundlage.
Und Wiechert, ja. Die Jerominkinder haben mir als Teenie das Leben gerettet, neben anderen Büchern. Da gibt es den Satz vom Herrgott, der seine Hand auf den Tisch stützt. Daran muss ich zur Zeit oft denken.
Ja, darf man sich zurückziehen? Epikur würde das sofort bejahen. Allerdings hätte sich Epikur niemals eine globale, menschengemachte Katastrophe der Art, wie wir sie jetzt zu erleben beginnen, auch nur vorstellen können. Es wäre interessant zu erfahren, was die philosophischen Schulen seiner Zeit dazu zu sagen gehabt hätten.
Die Kommentatorin sofasophia spricht aus, was ich selbst denke: Manchmal muß man sich zurückziehen, aus Selbstschutz, aus einem pfleglichen Umgang mit dem eigenen Selbst heraus.
Den Wiechert habe ich erst kürzlich entdeckt, und es wird nicht das letzte Buch sein, das ich von ihm lesen werde. Mir gefällt sehr der unaufgeregte, feine Stil. Es ist ein Aufatmen nach all dem hyperventilierenden Stakkato des einundzwanzigsten Jahrhunderts.
Echt, ein Buch hat Ihnen das Leben gerettet? Ich hatte geahnt, das so etwas möglich ist (“when trouble strikes, head for the library!”), habe es aber noch von keinem bestätigt gefunden.
Ich war eine sehr unglückliche Jugendliche, und ich hatte wohl Grund dazu. Suizidgedanken haben mich sehr lange begleitet, Bücher haben geholfen.
Was mir gefällt? Das zurückgezogen sein nicht, dass ich was von dir lesen konnte. Herzlichst, piri
Das freut mich, danke!
Ich bin da wohl ähnlich unterwegs wie du es beschreibst. Meine Perspektiven sind minimal. Die Illusion des Rückzugs bleibt mir noch; und sie hilft beim Tag-für-Tag-Leben. Im Kleinen, im Zurückgezogensein, geht es mir erstaunlicherweise ziemlich gut, auch wenn es sich zuweilen falsch anfühlt. Weil doch das Große so unheilbar laut ist.
Ich würde es nicht Illusion nennen … eher ein bewußtes Augenzumachen. Ich denke, es muß manchmal sein, um bei Gesundheit zu bleiben. Es hilft, du sagst es. Und welches Leben findet nicht Tag-für-Tag statt?
Wie schön! Mein (Über)lebensmotto mal in Worte gefasst “when trouble strikes, head for the library”; nicht nur für trouble sondern auch in trubligen Zeiten passend.
Wenn das Private politisch ist, wer könnte dann im Kleinen leben?
Menschen mit Gewissen haben zwei Probleme – das eine ist, daß sie wenig globale Wirkmacht haben. Das andere, daß die mit großer Wirkmacht oft kein Gewissen zu haben scheinen.
Es ist schwer, wohlgestimmt zu bleiben; andererseits sind aus Zufriedenheit selten Änderungen erwachsen.
Daß das Private politisch sein soll, habe ich immer abgelehnt, weil ich die Gefahr sehe, daß das Politische das Private vergiftet.
Daß wir in einer Zeit leben, in der persönliche Lebensentscheidungen politische Wirkmacht haben und ihnen daher immer auch noch eine öffentliche Verantwortung zukommt, lehne ich auch ab, aber das schert natürlich die Welt, in der wir leben, wenig. Wäre alles, was erlaubt ist, auch eine gute Idee, wir brauchten dieses Gespräch nicht mehr zu führen.
Das mit dem Gewissen ist so eine Sache. Der Mensch ist Meister darin, das eigene Handeln gegen alle möglichen Gewissensansprüche abzusichern. Niemand sagt von sich selbst, er sei böse, ein Faschist oder eine Umweltsau. Das sagen, das sind, immer nur die anderen.