Bevor man über die Erweiterung der Ehe auf mehr als zwei Personen nachdenkt, könnte man erst mal nach dem Sinn der Einrichtung, wie sie jetzt geregelt ist, fragen. Dazu gibt es zwei Zwecke, einen alten (patriarchalen) und einen modernen, die sich im Institut der Ehe abgelöst haben, ohne daß das die äußere Form der Ehe berührt hätte. Die Ehe ist immer noch das, was sie vor zweihundert Jahren war: ein zivilrechtlich abgesichertes, verbrieftes Bündnis zwischen zwei Menschen, bis vor kurzem einem Mann und einer Frau. Ihr Zweck freilich ist heute ein ganz anderer geworden. Machen wir uns nichts vor: Ursprünglich bestand der darin, Männern Kontrolle über die Nachkommenschaft ihrer Frauen zu verschaffen. Dem Mann umgekehrt sollten gewisse Pflichten auferlegt werden, um die Frau in ihrer verordneten Hilflosigkeit nicht allein zu lassen und vor allem den gemeinsamen Nachwuchs zu schützen. Das hatte mit Freiheit oder Gerechtigkeit nichts zu tun, hat aber über Jahrhunderte funktioniert. (Was passierte, wenn es mal nicht funktionierte oder wenn Frauen sich gegen diese Ordnung auflehnten, davon zeugen, von Anna Karenina über Tess of the d’Urbervilles bis Effi Briest, unzählige Romane.) Von diesem ursprünglichen Zweck ist heute außer dem Schutz der Nachkommenschaft nichts mehr geblieben. Aber auch bei diesem ist ein Wandel hinter der Fassade der äußerlich unangetasteten Einrichtung festzustellen, denn immer mehr verheiratete Paare bleiben kinderlos. Was aber wird geschützt bei einem Paar wohlhabender Doppelverdiener ohne Kinder? Vollends losgelöst von der ursprünglichen Motivation ist die Ehe gleichgeschlechtlicher Menschen. Als schützenswertes Gut bleibt nur noch die Liebesbeziehung der beiden autonomen, aufeinander in keiner Weise angewiesenen Menschen. Warum aber sollte dieses, Entschuldigung, Privatvergnügen schützenswert sein? Erst mit der Schwangerschaft (oder Adoption) wird aus dem Privatvergnügen ein öffentliches Gut, das den Schutz durch Gesetze verlangt. Das wäre die eine Sicht der Dinge. Man kann aber auch umgekehrt fragen: Wenn die Liebesbeziehung zweier Menschen vor dem Gesetz eben doch schützenswert sein sollte — warum dann nicht auch andere Beziehungsformen wie die Freundschaft oder die Wohngemeinschaft? Oder umgekehrt formuliert: Wer prüft denn, ob überhaupt eine Liebesbeziehung vorliegt? Es müssen nur zwei die Ehe wollen; welche Gefühle sie verbinden, interessiert das Standesamt nicht. Unter diesen Voraussetzungen erscheint dann aber die Beschränkung auf zwei Menschen, die ja ihren Ursprung in der unumstößlichen Tatsache hat, daß es zwei Menschen braucht, um ein Kind zu zeugen, willkürlich, ja eigentlich nur noch als Reflex aus der Zeit, als die Ehe ein Schutzraum für Mann und Frau zwecks Zeugung von Nachkommen war. Wenn sie sich aber aus ihrem ursprünglichen Kontext gelöst hat, wäre es endlich an der Zeit, die Ehe völlig neu zu denken.
Gerade im Zusammenhang mit immer größere Verbreitung findenden polyamoren Lebensformen ließen sich hier interessante Ordnungen finden. Man denke etwa an Gruppen von Frauen und Männern, die in einer offenen Beziehung zusammenleben und wild durcheinandervögeln. Nach Bonobo-Art könnten dann alle zusammen die Verantwortung für alle Kinder übernehmen, wobei es unerheblich ist, welches Kind von welchem Mann stammt. Da kein Mann bei keinem Kind ausschließen kann, daß es von ihm ist, kommt eine Motivation zustande, keins zu vernachlässigen, es könnte ja das eigene sein. Gleichzeitig wachsen die Kinder in einem Geflecht mehrerer Bezugspersonen heran, die ihnen je unterschiedliche Vorbilder sein und Lebensstrategien aufzeigen können. Und schließlich wäre in einer solchen Gemeinschaft die Frage, wer arbeitet und wer auf die Kinder aufpaßt, entspannter. Man wechselt einfach durch, die Last verteilt sich auf mehr Menschen. Niemand wird allein gelassen, die Beteiligten hätten mehr und besseren Sex, und wirtschaftlicher wäre es auch.
Diese Beschreibung erinnert mich ein bisschen an den ehemaligen Kommunismus. In der Theorie war alles ideal, in der Praxis scheiterte es aber an gewissen menschlichen Eigenschaften. Ich bin trotzdem ein idealistischer Anhänger des Kommunismus und der Polyamorie, ich glaube aber nicht, dass sie in dieser Zeit funktionieren können. Später vielleicht, wenn wir uns weiterentwickelt haben.
Man muß halt bei allen alternativen Gesellschaftsentwürfen immer die möglichen Konflikte mitdenken, sonst scheitert man, oder die Sache wird totalitär. Man kann den Menschen nicht verändern oder zum Ideal erziehen, man kann höchstens seine Schwächen nehmen und in Stärken verwandeln.
Der hier skizzierte Entwurf setzt halt einen Menschen ohne Eifersucht voraus, spätestens da dürfte es schiefgehen. Was für die Bonobos gut funktioniert, muß halt für den Menschen noch lange nicht funktionieren.
Wobei es natürlich, wie bei allen menschlichen Eigenschaften, eine gewisse Bandbreite an Variation gibt. Manche Menschen haben extrem wenig Talent zur Eifersucht, andere extrem viel davon. Polyamorie ist nur was für die ersteren. 😉
Sie vertreten offenbar keine christlich-konservativen Werte und Traditionen. .)
Wie kommen Sie denn auf so etwas? (Natürlich tue ich das!)