Da sind wir wieder, und der ganze Circus

Daß man es kaum schafft, in einer unbequemen Lage auch die darin begründeten durchaus willkommenen Nebeneffekte zu erkennen und zu würdigen. Gestern abend von dem Veranstaltungsplatz an der Kirche her Festivalgeräusche, jenes verhaßte Dröhnen, Rumpeln, Hallen, Heulen von ins Groteske verstärkter Supermarktmusik, wie es jetzt gut anderthalb Jahre nirgends zu hören gewesen ist. (Solche elektrischen Klangverstärkungen haben immer einen provokativen, hybriden Drang ins Universelle, Allgemeingültige, gräßlich.) Der Impuls in solchen Momenten, derartiges Treiben als eitles, leichtfertiges, geradezu sündiges Tun (Tand, Tand, ist das Gebilde von Menschenhand) zu verdammen — warum hat es mich in den vergangenen siebzehn Monaten nicht ein einziges Mal mit fröhlichem Ingrimm erfüllt, daß genau diese Verdammung offiziell in Kraft getreten war? Die Pandemie mit ihrem Ernst hätte ich mir doch zuvor geradezu gewünscht in Momenten wie gestern abend. Daß das sündige Treiben ein Ende finde und in einer schicksalhaften, göttlich zu nennenden Intervention des Ernstes in Flamme aufgehe, eines Ernstes, als dessen Vertreter auf Erden ich mich in meinem maßlosen Zorn zu empfinden durchaus geneigt bin.

Verschwendung

Weltweit werden etwa ein Drittel aller Lebensmittel weggeworfen. (Mit sehr unterschiedlichen Verteilung über die Weltregionen, von 6 kg pro Kopf und Jahr im subsaharanischen Afrika bis 115 kg pro Kopf und Jahr in Nordamerika und Ozeanien. Europa liegt bei 95 kg pro Kopf und Jahr) Okay, das ist ein Skandal, ökologisch, ökonomisch und moralisch sowieso. Ein drittel weggeworfene Lebensmittel, das entspricht, anteilig und umgerechnet, 1,4 Milliarden Packungen Spaghetti beim Getreide; 6,3 Milliarden Äpfeln beim Gemüse und 75 Millionen Kühen beim Fleisch. Jetzt stelle man sich aber mal vor, die Verbraucher beschlössen von jetzt auf gleich, nur noch so viel zu kaufen, wie sie auch essen, und die verbraucherseitige Verschwendung ginge auf Null zurück. Unter Vernachlässigung systemischer Verluste seitens der Produzenten, Verarbeiter, Groß- und Einzelhändler bedeutete das unmittelbar für den Nahrungsmittel-Einzelhandel insgesamt ein Drittel weniger Absatz. Was wäre dann? In einem Interview hat der Philosoph Peter Sloterdijk unlängst gesagt, würde sparsame Haushaltung, wie sie bis zum ersten Weltkrieg noch als bürgerliche Tugend galt, heute noch praktiziert, bräche die Wirtschaft sofort zusammen. Ich liebe solche Gedankenspiele. — Zugegebenermaßen werfe ich oft Lebensmittel weg, aus speziellen Gründen. Zum einen lebe ich in zwei Haushalten mit zwei Kühlschränken und zwei Essensplanungen. Da bleiben oft Reste, die ich beim Wechsel vom einen zum andern Haushalt nicht mitnehmen kann, die aber bis zum nächsten Wechsel sich nicht halten werden. Es ist sehr schwierig, für drei Tage Wochenende exakt so einzukaufen, daß ich satt bin und am Montag morgen alles aufgegessen ist. Irgendwas wird zuviel gewesen sein (andernfalls wäre es zu wenig gewesen), ein Kanten Brot, zwei Löffel Joghurt, eine Scheibe Wurst, ein halber Teller Suppe. Was macht man mit einem halben Teller Suppe? Zum anderen habe ich empfindliches Gedärm, und alles, was nicht sozusagen ackerfrisch ist, bekommt mir nicht. Ich habe mal eine halbe Nacht auf der Toilette verbracht, weil ich Muffins mit (gustatorisch wie olfaktorisch völlig unauffälliger) Buttermilch zubereitet habe, die eine Woche überm Datum war. Alle im Haushalt haben davon gegessen, Probleme hatte nur ich. Zum dritten habe ich einen kleinen Magen, in den nicht viel reinpaßt. Tatsächlich paßt so wenig hinein, daß es unmöglich ist, exakt so viel zu kochen, daß ich geleerten Tellers genau so satt bin, daß es sich gut anfühlt. Ich esse sehr ungern einzig zum Zwecke, daß der Teller leergegessen ist, über diesen Punkt hinaus. Denn danach ist mir unwohl. So kommt es eben auch, daß oft ein halber Teller Suppe, siehe oben, übrigbleibt. Natürlich ist es ökologischer und wirtschaftlicher, für eine Großfamilie von zwanzig Personen zu kochen, zumindest dann, wenn alle das gleiche essen und man nicht auf Veganer, Vegetarier, Frutarier, Glutenempfindliche und Erbsproteinallergiker Rücksicht nehmen muß, die alle einen eigenen Teller kriegen. Aber ein Leben in Großfamilien kriegen wir wohl nicht mehr hin, das ist vorbei. In meiner Familie kriegen wir es ja nicht einmal hin, daß alle zur gleichen Zeit essen. Umso wichtiger ist es aber gerade für Singlehaushalte, das Essen sorgfältig zu planen und nach den vorhandenen Möglichkeit abfallfrei zu wirtschaften. Denn Essen wegzuwerfen, bleibt ein Skandal.

Alphitobius diaperinus

In einem alten Kinderbuch (William Judson, In den Wäldern am kalten Fluß) muß ein Geschwisterpaar nach dem Unfalltod des Vaters sich zu Beginn des Herbstes ganz alleine durch die Wildnis zum hunderte Meilen entfernten Heimatort durchschlagen. Ein paar Vorräte können sie mitnehmen, aber das reicht natürlich nicht. Wovon ernährt man sich so, in der Wildnis? Pilze? In einer Szene, die mir besonders lebhaft im Gedächtnis geblieben ist, klaubt Lizzy, die ältere der beiden, den Ratschlägen des sterbenden Vaters folgend, fette Maden von der Unterseite eines Steins … in einem Eintopf mit einem Rest Bohnen aus den mitgebrachten Vorräten gekocht, geben sie ein nahrhaftes, fett- und eiwißreiches Essen ab…

Nun ja, also. Buffalowürmer sind nicht so sehr verschieden von dem, was man in der Wildnis unter Steinen findet. Zwar haben wir solche Nahrung nicht mehr zum Überleben nötig, aber allenthalben ist ja die Rede davon, daß Insekten für eine wachsende Menschheit — klimagünstig, ressourcenschonend, wassersparsam — die Eiweißquelle der Zukunft darstellen.

In der Annahme und der Hoffnung, das ungewohnte Nahrungsmittel könnte irgendwas mit Fleisch zu tun haben (etwa nach Huhn schmecken oder wenigstens nach Garnele), habe ich also beherzt zugebissen und die Maden geknuspert. Nun. Gewöhnungsbedürftig ist es nicht, im Gegenteil. Es ist sogar ein bißchen zu gewöhnlich. Eine Antiklimax. Die Konsistenz ist knurpsig, vergleichbar mit der von geröstetem Leinsamen, der Geschmack … erinnert an Pilze, Schopftintlinge, begleitet von einer Getreidenote. Immerhin, zwei Eßlöffel der haferkorngroßen Tierchen machen sich, mit Knoblauch in Öl geröstet und in einer Tasse Reis mitgekocht, geschmacklich und konsistenziell als gewisser aromatischer Kauwiderstand schon bemerkbar. Es braucht aber eine Weile, ehe ich darauf komme, woran mich der Geschmack am ehesten erinnert: an Wildreis nämlich. Nicht nur der Geschmack, auch die Knurpsigkeit der Maden ähneln Zizania aquatica am meisten.

Alphitobius diaperinus mit Reis und Brocholi

Und das war’s auch schon. Das Nahrungsmittel der Zukunft? Mag ja sein, aber eine klimagünstige Fleischalternative ist das höchstens in einem industriell verarbeiteten Burger, und dann, na ja, kann man auch gleich chemisch modifiziertes Erbsprotein aus dem Labor zu sich nehmen. So groß ist der Eiweißmangel nun nicht, daß man unbedingt zu diesen Tierchen greifen müßte; und wenn ich Weildreis schmecken will, kann ich auch Wildreis essen. Mal ganz davon abgesehen, daß Wildreis vielleicht für ein zwanzigstel des Betrags zu haben ist, den man für diese invertebrate …. Delikatesse hinblättern muß.