Das Bedürfnis, einfach abzuhauen. Tür ins Schloß fallen lassen, den Schlüssel in den Briefkasten werfen, auf der Straße kleiner werden und verschwinden. Einfach nicht mehr wiederkommen. (Sollen sich die Dinge bitteschön von alleine regeln. Meistens tun sie das ja sowieso. Aber für diesen zumeist langwierigen und schmerzlichen Prozeß brauchen sie doch eigentlich nicht mich als Zeugen, im Gegenteil, die Dinge regeln sich am besten von alleine, wenn eine Weile niemand hinschaut.) Ich sehe mir dabei zu, wie ich um die Häuserecke biege und fort bin, fort für lange. Vielleicht für immer. Wahrscheinlich für immer. Einmal hätte ich es fast gemacht, in einer Stadt am Beginn des Jahrtausends, in der ich es nicht mehr aushielt. Ich hatte sozusagen die Tasche schon gepackt, mich nach einem Ticket erkundigt, halb entschlossen, abzureisen, während die, deretwegen ich mich dort aufhielt, auf der Arbeit wäre. Und dann habe ich es doch wieder ausgehalten. Die Stadt, die Wohnung, die Frau, mit der ich lebte, mein Leben. Es wäre ein leichtes gewesen, einfach in den Bus zu steigen und weg zu sein. Ich war jung genug, frei genug, mutig genug. Warum habe ich es nicht getan? Vielleicht, weil meine Motive zu klar gewesen wären, zu durchsichtig, sie hätte mich verstanden und durchschaut, das wollte ich noch weniger, als in der Stadt bleiben. Vor kurzem las ich ein Buch, Weit über das Land von Peter Stamm; darin geht es genau darum, ums Verschwinden. Jemand spaziert einfach aus der geordneten Welt heraus, dem geordneten Leben, das er sich geschaffen, vielleicht aber auch nur geschehen gelassen hat. Ein Mann und eine Frau, ein Paar, wohlhabende Eltern zweier kleiner Kinder, sitzen, von einer Urlaubsreise heimgekehrt, an einem späten Sommerabend zusammen im Garten und trinken Wein. Es ist ein Abend wie viele andere, nichts ist passiert, es hat keinen Streit gegeben, keine Mißstimmung, der Urlaub ist schön gewesen, sie haben es gut, nichts bereitet auf das vor, was gleich passiert. Während die Frau kurz nach den Kindern schaut, stellt der Mann das Weinglas ab, steht auf und verläßt den Garten; er geht los, über den Gartenweg, zur Straße und weg, um nicht mehr wiederzukommen. Nichts davon ist geplant; wir lernen seine Motive nicht kennen; er kehrt erst Jahrzehnte später zurück, aber ob das überhaupt eine Heimkehr ist, bleibt offen. — Nachdem ich es gelesen hatte, war ich sehr melancholisch, und ich weiß nicht, was mir größere Traurigkeit machte: nicht selbst auch schon verschwunden zu sein; oder die Aussicht, es vielleicht eines Tages wirklich zu tun. Nur, und das ist eine weitere enttäuschende Erkenntnis über mich selbst: Menschen, die zu so einem Schritt ins Freie imstande sind, schwafeln nicht oder schreiben Blogeinträge übers Verschwinden — sie haben es schon getan und sind längst weg.
Ein Thema, das ich mir sehr gut von Peter Stamm erzählt vorstellen kann.
Gedanken, die ich auch schon oft zu denken angefangen habe. Allerdings nicht ohne Vorbereitungen (ohne wäre mir zu unheimlich). Aber diesen Wunsch danach, einen Schnitt zu machen und damit gleichsam aus dem alten Leben zu verschwinden, sich zu häuten, den kenne ich sehr gut. In jeder Lebensphase hatte ich ihn immer mal wieder.
Was hindert uns daran?
Gerade das hat mich an dem Roman so beeindruckt. Der spontane Entschluß, ohne Hin und Her, ohne Gründe, ohne Vorbereitung. Man fragt sich, ob es überhaupt ein Entschluß ist. Es wirkt eher wie etwas, das dem Protagonisten passiert.
Ach, Sie sprechen mir aus der Seele. (Aber ich bin zu alt, und woanders – das habe ich auf schmerzhafte Weise gelernt – ist es auch nicht besser.)
Ich denke, es geht bei dieser Sehnsucht nach dem Verschwinden nicht um einen besseren Ort anderswo oder ein besseres Leben. Es ist eine Sehnsucht nach dem Fort, nicht nach dem Hin.
Wer hätte nicht vom leichten Reisen geträumt? Und ja, es geht nicht ums Irgendwohin. Es geht um den Weg. (Und die Anker wiegen schwer, aber sie sind auch gut.)