Unangenehm aufgefallen

Ich ging in den Trump Tower, ein neuer Wolkenkratzer an der Fifth Avenue. Allmählich macht sich der Immobilienspekulant Donald Trump in ganz New York breit. Über die ganze Stadt verteilt baut er Wolkenkratzer, die seinen Namen tragen. Ich ging also in den Trump Tower und sah mich um. Eine so geschmacklose Eingangshalle habe ich noch nie gesehen. Alles war aus Messing und Chrom und aus rotweiß geschecktem Marmor, der wie das Zeug aussah, um das man einen großen Bogen macht, wenn man es auf dem Gehsteig liegen sieht. Hier war alles voll davon — der Boden, die Wände, die Decke. Mir war, als befände ich mich im Magen von jemandem, der gerade eine Pizza verspeist hat. “Unglaublich”, staunte ich und ging weiter.

Bill Bryson. Straßen der Erinnerung. Reisen durch das vergessene Amerika München: Ullstein 2000. S. 198f. Aus d. Engl. v. Claudia Holzförster

Emma


Emma ließ das Buch sinken, blinzelte und rieb sich die Augen. Nicht schon wieder, dachte sie. Sie lauschte einen Moment, dann beugte sie sich wieder über ihr Buch. Vielleicht ließe er sie ja noch den Satz zu Ende lesen. Weiterlesen …

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Beantragung eines Lehrerwechsels durch Frau Γι., W.s Mutter. Mögen sie glücklich werden mit einem anderen! Ich glaube es nicht. Abgesehen davon: schade. Ich mochte das Mädel, auch wenn es mit Latein auf dem Kriegsfuß steht und sich bis zuletzt standhaft weigerte, meine Eintrichterungen im Kopf zu behalten oder meine Ratschläge zu beherzigen. Ich werde die Stunden vermissen, und erst recht vermisse ich W. Wie ich sie ja fast alle vermisse, die irgendwann mal mit mir in ein Lateinbuch geschaut haben. Es ist nur natürlich, daß das Vermissen in den seltensten Fällen in beide Richtungen geht; aber so ist des Lehrers Leben nunmal. Dem liegt ja die Jugend stets mehr am Herzen, als der Jugend der Lehrer am Herzen liegt. Wir kümmern uns, wir machen uns Sorgen, wir wünschen den Erfolg der jungen Menschen, wir bangen und fiebern und leiden mit und freuen uns, wenn etwas gelingt. Und dann spazieren diese Menschen am letzten Schultag aus unserem Leben, um ihr eigenes zu beginnen, und wir, wir sind ja schon längst in dem unseren, und es ist eben, wie es ist, so erfolgreich oder erfolglos, wie es halt wurde. Ihre Geschichte beginnt, in der wir eine kurze Gastrolle spielen durften; unsere eigene, es fühlt sich in solchen Abschieden an, als wäre sie schon lange zu Ende.

Eine andere Sache ist der Mißerfolg, natürlich. Und daß ich raushören kann: „Mit dir hat es keinen Spaß gemacht.“ — Da hilft leider auch nicht die Einsicht, daß es darum, um Spaß nämlich, gar nicht geht. Daß Spaß beim Nachhilfeunterricht ein recht steiler Anspruch vom Schüler an den Lehrer ist. Und wenn ich es genau bedenke, so ist die Forderung, das Lernen müsse selbst und allein für sich schon Spaß bereiten, generell ein steiler Anspruch — an Lehrer, an Institutionen, an Methoden, an Lehrmittel. Dabei ist überhaupt nicht einzusehen, warum das Lernen Spaß machen sollte. Der Zweck des Lernens liegt in der Regel außerhalb seiner selbst. Der Zweck des Lernens ist nicht das Lernen selbst, sondern die erworbene Fähigkeit, und was sich mit dieser ins Werk setzen läßt. Ich lerne schreiben, damit ich, was unter günstigen Umständen Spaß macht, Gedanken schriftlich niederlegen kann, nicht weil schon das Kritzeln lauter Reihen mit a und e unterhaltsam wäre. Ich lerne stricken, damit ich einen Pullover herstellen kann, nicht weil die mühsame Aneignung von Maschen und Mustern schon Spaß machte. Wenn es bereits Spaß macht, dann ist das allenfalls eine nette Zugabe. Lernen ist kein Selbstzweck, andernfalls hieße es nicht lernen. Lernen hat immer ein Ziel, sonst ist es keines. Mag sein, dieses Ziel wird besser und schneller erreicht, wenn das Lernen Spaß macht, vielleicht ist aber auch das Gegenteil der Fall. Spaß muß Lernen im Grunde nur dann machen, wenn der Zweck des Lernens nicht einsichtig ist. Mit Spaß locken muß ich nur, wenn das Lernziel selbst nicht lockt. Lerne daraus jeder, dies auf unser Schulsystem anzuwenden und seine Schlüsse daraus zu ziehen.

Im Bus

Der junge Mann, Schüler noch, sicher unter achtzehn, der seiner gleichaltrigen Freundin im Bus die Schuhe bindet, ihre Beine über seine gelegt, hingebungsvoll, achtsam, sorgfältig, gründlich, mit geübter Hand wie ein Schuhverkäufer, als wäre er genau dafür in die Lehre gegangen. Ein Experte. Wie er die Riemen erst lockert, bis zu den Zehen hinunter, um dann die Schnürung von Grund auf neu zu straffen, hat sein planvolles Vorgehen absolut nichts Anzügliches. Die keusche Zärtlichkeit, die dabei mitschwingt, liegt nicht im Vollzug selbst; sie wird spürbar (ich kann die Augen nicht lassen von den beiden) in der Selbstverständlichkeit, mit der sie ihn bittet, mit der er sich ans Werk macht. Es ist klar, er tut das öfter, sie haben darin ein Ritual. Ihr die Schuhe zu schnüren, gehört zu seinen Aufgaben, einfach, weil er es am besten kann. (Er hat eine besondere Technik, die Schleife zu knüpfen, indem er nämlich aus jedem Ende ein Auge abgreift und in diese Schlaufen einen Knoten legt. Am Ende ist der auf Slip gelegte Kreuzknoten perfekt, so wie er richtig geht.) Es ist einer der Wege dieses ganz ganz jungen Paares, einander nahe zu sein und zu beschenken: Sie ihn, indem sie ihn um den Dienst bittet; er ihr, indem er ihrer Aufforderung mit souveräner und beiläufiger Professionalität nachkommt, umso liebevoller, je selbstverständlicher.

weg

Das Bedürfnis, einfach abzuhauen. Tür ins Schloß fallen lassen, den Schlüssel in den Briefkasten werfen, auf der Straße kleiner werden und verschwinden. Einfach nicht mehr wiederkommen. (Sollen sich die Dinge bitteschön von alleine regeln. Meistens tun sie das ja sowieso. Aber für diesen zumeist langwierigen und schmerzlichen Prozeß brauchen sie doch eigentlich nicht mich als Zeugen, im Gegenteil, die Dinge regeln sich am besten von alleine, wenn eine Weile niemand hinschaut.) Ich sehe mir dabei zu, wie ich um die Häuserecke biege und fort bin, fort für lange. Vielleicht für immer. Wahrscheinlich für immer. Einmal hätte ich es fast gemacht, in einer Stadt am Beginn des Jahrtausends, in der ich es nicht mehr aushielt. Ich hatte sozusagen die Tasche schon gepackt, mich nach einem Ticket erkundigt, halb entschlossen, abzureisen, während die, deretwegen ich mich dort aufhielt, auf der Arbeit wäre. Und dann habe ich es doch wieder ausgehalten. Die Stadt, die Wohnung, die Frau, mit der ich lebte, mein Leben. Es wäre ein leichtes gewesen, einfach in den Bus zu steigen und weg zu sein. Ich war jung genug, frei genug, mutig genug. Warum habe ich es nicht getan? Vielleicht, weil meine Motive zu klar gewesen wären, zu durchsichtig, sie hätte mich verstanden und durchschaut, das wollte ich noch weniger, als in der Stadt bleiben. Vor kurzem las ich ein Buch, Weit über das Land von Peter Stamm; darin geht es genau darum, ums Verschwinden. Jemand spaziert einfach aus der geordneten Welt heraus, dem geordneten Leben, das er sich geschaffen, vielleicht aber auch nur geschehen gelassen hat. Ein Mann und eine Frau, ein Paar, wohlhabende Eltern zweier kleiner Kinder, sitzen, von einer Urlaubsreise heimgekehrt, an einem späten Sommerabend zusammen im Garten und trinken Wein. Es ist ein Abend wie viele andere, nichts ist passiert, es hat keinen Streit gegeben, keine Mißstimmung, der Urlaub ist schön gewesen, sie haben es gut, nichts bereitet auf das vor, was gleich passiert. Während die Frau kurz nach den Kindern schaut, stellt der Mann das Weinglas ab, steht auf und verläßt den Garten; er geht los, über den Gartenweg, zur Straße und weg, um nicht mehr wiederzukommen. Nichts davon ist geplant; wir lernen seine Motive nicht kennen; er kehrt erst Jahrzehnte später zurück, aber ob das überhaupt eine Heimkehr ist, bleibt offen. — Nachdem ich es gelesen hatte, war ich sehr melancholisch, und ich weiß nicht, was mir größere Traurigkeit machte: nicht selbst auch schon verschwunden zu sein; oder die Aussicht, es vielleicht eines Tages wirklich zu tun. Nur, und das ist eine weitere enttäuschende Erkenntnis über mich selbst: Menschen, die zu so einem Schritt ins Freie imstande sind, schwafeln nicht oder schreiben Blogeinträge übers Verschwinden — sie haben es schon getan und sind längst weg.