Urheberrechtsreform

Nehmen wir Wasser. Oder Kleidung. Oder Nahrung: Den Kaffee, den ich trinke, kann mein Bruder nicht mehr trinken, die Schokolade, die mein Bruder aufißt, kann ich nicht mehr essen. Der Mantel, den der Hl. Martin trägt, kann nicht zugleich der Bettler tragen, weswegen, sollen beide nicht frieren, das gute Stück geteilt werden muß. Ähnliches gilt für Wohnraum, für Platz auf der Autobahn oder den Sitz in der Straßenbahn. Es gilt für die Säge, den Spaten, das Feld, das Smartphone. Es gilt für alles, was stofflich, räumlich oder handhabend konsumierbar ist, besessen werden und zur Neige gehen kann.
Es gilt nicht für Ideen. Es gilt nicht für Erfindungen. Es gilt im Zeitalter der verlustfreien Reproduzierbarkeit nicht für Filme, nicht für Musik, nicht für Texte. Beliebig viele Menschen können zur gleichen Zeit denselben Text lesen, ohne daß der Text sich in irgendeinem Sinn dabei verbrauchte oder seine Integrität einbüßte, wie es etwa bei Schokolade, Kaffee oder eben Mänteln der Fall ist.
Bis zum Beginn des Zeitalters der Digitalisierung war es möglich, diesen Umstand zu verschleiern, indem man solche nicht-rivalisierenden Güter künstlich verknappte: Wer einen Film sehen wollte, mußte ins Kino gehen und Eintritt bezahlen; wer ein Buch lesen wollte, mußte sich ein Exemplar kaufen; wer ein Bild anschauen wollte, mußte entweder ins Museum gehen, einen Kunstdruck erwerben oder einen Bildband erwerben. Es war sehr einfach, Filme, Bilder, Musik und Kunstgegenstände zu verknappen, alles, was man tun mußte, war, diese beliebig oft anschaubaren, anhörbaren, lesbaren Dinge unter Verschluß zu halten und nur gegen Entrichtung eines entsprechenden Obolus’ herauszugeben. Was dennoch durchrutschte, auf dem Wege des Verleihs innerhalb des Bekanntenkreises zum Beispiel, galt wohl zurecht als geringfügig. (Ich kann mich allerdings noch an die Aufkleber Kopieren? Nein, danke! in den 80er Jahren erinnern, mit denen Notenmaterial aus der Musikbibliothek gekennzeichnet war.)
Wie lächerlich es ist, eine Idee, einen Einfall oder eben einen Text zu verknappen, ihn als rivalisierendes Gut, mithin wie Schokolade zu behandeln – als könnte er zu Ende gehen, wenn zu viele Leute ihn lesen –, wird erst deutlich, seit Musik, Bilder und Texte erstens verlustfrei kopiert, besonders aber, seit sie verlustfrei über beliebig große Entfernungen mit beliebig vielen Menschen geteilt werden können. Dabei ist keineswegs einzusehen, wo die Grenze zwischen einem sehr großen Freundeskreis, in dem jede CD einmal die Runde macht, ja, wo es vielleicht Absprachen gibt, wer welche CD besorgt, damit jeder mal mit einem Kauf dran ist, und der Öffentlichkeit eines Tauschrings im Netz zu ziehen ist. Der einzige Unterschied liegt darin, daß der Tauschring für Ermittler sichtbar ist (und die Betreiber der Plattform kommerzielle Interessen haben). Aber auch ohne kommerzielle Interessen wäre ein Tauschring nach bestehendem Recht illegal, sofern sogenanntes urheberrechtlich geschütztes Material getauscht, also seiner Natur gemäß vervielfältigt und verbreitet wird.
Manchmal denke ich in diesem Zusammenhang ans Rad. Ans Rad? Ja, ans Rad. Oder nehmen wir die Pflugschar. Das Joch. Die Eisenverhüttung. Den Webrahmen. Den Steigbügel. Den Bogen. Die Fruchtfolge. Die Odyssee. Hätte der Erfinder des Rades die Verwertung seiner Erfindung mit einer Gebühr belegt, würden wir uns vielleicht heute noch um Rechte zanken und nicht um ein allgemeines Tempolimit(1) auf Autobahnen. Und Vergil hätte nach heutigem Recht die Aeneis nicht schreiben dürfen. Verknappung immaterieller, nicht-rivalisierender Güter ist ein bißchen wie die Verknappung von Wind oder Regenwasser: unmöglich. Der Unterschied ist: Kunstwerke, Erfindungen, Romane oder Filme fallen nicht vom Himmel. Ihre Abfassung, Entwicklung, Ausarbeitung kosten Mühe und Zeit; ihre Imaginierung setzt Freiheit und Unabhängigkeit von den Sorgen des Materiellen voraus. Wer einen Roman geschrieben hat, hat in dieser Zeit kein Haus gebaut, keinen Strom verlegt, keinen Alten gepflegt, keine Kinder unterrichtet. Trotzdem muß er von etwas leben, und wenn wir Romane haben wollen, müssen wir die entlohnen, die uns mit dem Stoff versorgen.
Und freilich folgt aus der Unmöglichkeit einer Eigentumsdurchsetzung nicht, daß kein Eigentumsrecht besteht. Dennoch ist offenkundig, daß die bestehende Handhabung der künstlichen Verknappung nicht-rivalisierender Güter im Zeitalter der Digitalisierung nicht länger haltbar ist. Über kurz oder lang wird da etwas Neues kommen, um Urheber angemessen zu entlohnen. Die Frage ist nur, was? Die geplante, morgen dem EU-Parlament zur Abstimmung vorgelegte Urheberrechtsreform (die, nebenbei, keine Reform ist, sondern darauf abzielt, prädigitales Recht im Digitalen durchzusetzen) ist eine typisch konservative Antwort: Alles bleibt beim Alten, und nur die Instrumentarien, mit denen dieses Alte festgeschrieben wird, werden an die Erfordernisse der digitalen Welt angepaßt. Damit wird ein bißchen das Internet zum Kinosaal. Das ist, um auf den Vergleich mit dem Regenwasser zurückzukommen, wie eine Maschine zur Kontrolle des Niederschlags, oder das Verbot privater Zisternen. Dabei gäbe es viel spannendere Lösungen, etwa eine Pauschalentlohnung für freischaffende Autoren und Kreative. Eine Internetsteuer, etwa auf dem Wege der Besteuerung von Hardware, ähnlich der Rundfunksteuer. Oder eine Besteuerung von Tonträgern und Büchern. So könnte der sogenannte Schaden, der Urhebern (bzw. deren Rechteverwertern) durch Raubkopien entsteht, durch Ausschüttungen, die sich an Zugriffszahlen orientieren, aufgewogen werden.
Wahrscheinlich wird morgen die sogenannte Urheberrechtsreform angenommen werden. Welche Auswirkungen das auf das Internet und unseren Umgang damit haben wird, ist nicht abzusehen. Abzusehen ist nur, daß dies nicht das Ende der Debatte ist. Sondern erst deren Anfang.

(1) Wenn Sie auch für ein generelles Tempolimit auf Autobahnen sind, können Sie hier eine Petition mitzeichnen: https://epetitionen.bundestag.de/petitionen/_2019/_01/_09/Petition_89913.nc.html

Aequinoctium

Muffig hängt heraus
das Dunkel zum Lüften im
Fenster des Nachbarn

Vögel am Mittag
als lösten die Schatten sich
ab von den Dingen

Eine Wolke steigt
Wind malt mit weichem Pinsel
Amseln an die Wand

Im Gezweig Sonne
die Fruchtspalten der Meisen
Schnitt durchs Augenlicht

Nachts dein Kleid vor dem
Fenster. Schamhaft im Dunkel
knospen die Kirschen

Das Fenster reckt sich
gähnend vor Licht, an Schuppen
sprießen die Leitern

Näher die Schatten
Kopf jetzt an Kopf, ich tauche
durch deinen Kragen

Meine in deiner
halten die Hände unser
Wachsein wie Anker

Als wären wir zwei
nur ein Wort im Gewölbe
lauschender Ohren

Tüchtig (Ovid Ars II, 703-710)



Conscius, ecce, duos accepit lectus amantes:
     Ad thalami clausas, Musa, resiste fores.
Sponte sua sine te celeberrima verba loquentur,
     Nec manus in lecto laeva iacebit iners.
Invenient digiti, quod agant in partibus illis,
     In quibus occulte spicula tingit Amor.
Fecit in Andromache prius hoc fortissimus Hector,
     Nec solum bellis utilis ille fuit.

Siehe, in Mitwisserschaft beherbergt das Bett unser Pärchen:
     Muse, schließe die Tür, laß nun die beiden allein!
Ohne dich, ganz von selbst lassen Schmeichelreden sich hören,
     wird nicht die linke Hand untätig ruhen im Bett.
Merken werden die Finger, was alles man tun kann an jenen
     Stellen, wo insgeheim Amor die Pfeile benetzt.
So mit Andromache tat’s schon früher der tapfere Hektor,
     tüchtiger Recke im Krieg, tüchtig im Kriege nicht nur.

(Mit Ovid habe ich mich schon mehrfach beschäftigt, zuletzt hier und hier im Zusammenhang mit gewissen Skandälchen.)