Also sag ich jetzt dazu halt auch noch was.
Sofaosphia spricht über einen Artikel in der Süddeutschen, darin die Autorin Meredith Haaf im Draufgängertum einer Pippi Langstrumpf oder einer Ronja (Räubertochter) eine „Abwertung des Weiblichen“ sehen will. Außer Frage steht, daß beide Figuren von ihrer Anlage her rundweg positive Gestalten sind und sich stark zur Identifikation durch den Leser eignen. Da heutzutage ja leider solche Fragen auch außerhalb von literaturtheoretischen Seminaren behandelt werden, weil sie insofern gesellschaftliche Relevanz erlangt haben, als man an der Frage nach in diesen Figuren vorgelebten Rollenvorbildern ganz hervorragend ideologische Gesinnungsfragen abarbeiten kann, geraten also jetzt Pippi und Ronja und andere, bislang noch als „starke Frauen“ betitelte und positiv beurteilte Figuren auf den kritischen Prüfstand und werden, jetzt halt auch die noch, durch den Genderfleischwolf gedreht. Solange, bis nichts mehr unangetastet bleibt und wir die Literatur dichtmachen können.
Vor Jahren schon war ich über die Meinung einer Kollegin bestürzt, die mir auseinandersetzte, Astrid Lindgrens Bücher seien ganz schlechte Literatur, weil darin, sie führte als Beispiel die Figur der Eva-Lotte aus der Kalle-Blomquist-Trilogie an, ein überkommenes Frauenbild transportiert werde. Für moderne Kinder ungeeignet. Am meisten bestürzte mich dabei das Ansinnen, einen geliebten, bislang rundweg von Literaturkritikern, Eltern, Pädagogen und selbstverständlich den Kindern hochgelobten Klassiker durch etwas derart Dämliches wie gendertheroretische Erwägungen angekratzt zu sehen. Schon allein das Ansinnen, etwas derart Literaturfernes wie Geschlechterdebatten an Bücher heranzutragen, erschien mir ungeheuerlich. Es waren die mittleren neunziger Jahre, und ich war ahnungslos. Heute könnte ich, scheint es angesichts eines Textes wie des von Meredith Haaf verfaßten, nicht einmal mit dem Verweis auf Pippi und Ronja kontern. Obwohl beide alles andere als überkommene Frauenbilder transportieren.
Was Enid Blytons Fünf Freunde betrifft, so hat Haaf völlig recht. Die Figur von George, eigentlich Georgina, die lieber ein Junge wäre, alles mag und macht, was Jungs mögen und machen, entsprechend unerschrocken, draufgängerisch und wild ist, kann man, insofern dieses Verhalten innerhalb der narrativen Welt der Fünf Freunde Respekt und Anerkennung findet und Georgina selbst ihre Strategie als gelingend bewertet, als durchweg positiven Charakterzug der Figur sehen. Allein, eine Abwertung des Weiblichen ist schwerlich auszumachen. Das zweite Mädchen der Partie, Anne, ist wohl das, was Haaf ein „normales“ Mädchen nennen würde. Sie ist fürs Häusliche zuständig, kümmert sich ums Essen, und daß der Tisch gedeckt ist, und, machen es die abenteuerlichen Umstände einmal erforderlich, daß man unter freiem Himmel schlafen muß, ist sie es, die dafür sorgt, daß es im Rahmen der begrenzten Möglichkeiten am Schlafplatz behaglich zugeht. Mir ist jedoch keine Passage erinnerlich, wo diese „Weiblichkeit“ Annes von den anderen Protagonisten gescholten, geschmäht, geringgeschätzt oder auch nur belächelt würde: Anne ist mit allem, was sie ist und kann und mag, ein vollwertiges, geschätztes Mitglied des Freundeskreises, und es ist keine Rede davon, sie außen vor zu lassen, wenn es mal etwas rauher zugeht. Freilich sind die Rollen stereotyp verteilt, das Ungefährliche und Harmlose fällt Anne zu, der Abenteuergeist den anderen dreien; eine Abwertung findet indes nur in den Augen von Meredith Haaf und ähnlich gesinnten heutigen Lesern statt, die diese Bücher in ihrem modernen, durch die Feminismusbrille getönten Blick zu deuten belieben. Es fällt nun auf, daß es der Anforderungen an einen Charakter offenbar nie genug ist: Denn wäre Anne wie George angelegt, wäre sie als eine weitere Ronja- oder Pippi-Figur nicht weniger der Kritik würdig.
(Und noch etwas anderes ist in Parenthese an dieser Stelle zu erkennen: Die Unmöglichkeit des Individuellen vor den Augen einer geschlechterbewegten Leserschaft. Man darf nämlich eigentlich heute eine weibliche Hauptfigur nicht mehr mit Attributen wie Schutzbedürftigkeit, Schwäche, Ängstlichkeit, Häuslichkeit etc. versehen, weil in der Auffassung gewisser Teile des Lesepublikums sofort der Typus gegenüber dem Individuum überwiegen würde. Es ist in den Augen feministischer Leser nicht Anne, die ängstlich und häuslich und wenig draufgängerisch ist. Es ist das rollenkonforme Mädchen Anne, das ängstlich und häuslich und wenig draufgängerisch ist. Ein Anzeichen dafür, daß Rollenfestschreibungen in einer Gesellschaft als überwunden gelten, wäre daher paradoxerweise nicht die Feststellung, daß in Literatur und Film keine rollenkonformen Frauen- oder Männerfiguren mehr vorkommen, sondern daß im Gegenteil Männer- und Frauen (wieder, nach heutigen Maßstäben) rollenkonform darstellbar sind. Jegliches Verhalten würde dann nämlich nur noch als individuelle Eigenschaft, nicht als Instantiierung der Rolle aufgefaßt werden. Wenn wir eine rollenlose Gesellschaft tatsächlich anstreben, so meine Empfehlung, müßten wir bei der Deutung literarischer Figuren jetzt schon davon Abstand nehmen, sie als Rolleninstantiierungen zu lesen, andernfalls Rollen niemals überwunden werden können. Klammer zu.)
Frau Haafs Argumentation muß drei Voraussetzungen machen. Erstens, es gibt typisch männliches, es gibt typisch weibliches Verhalten, wobei abenteuerlustiges, „wildes“ Verhalten männlich ist; zweitens, Pippi und Ronja zeigen beide typisch männliches Verhalten. Drittens: ein vom Typischen abweichendes Verhalten zu zeigen, wertet das Typische ab. Nur aufgrund dieser Voraussetzung können die beiden Protagonistinnen Pippi und Ronja ihre an typisch weibliches Verhalten geknüpften Rollenerwartungen zurückweisen. Schon diese beiden Voraussetzungen scheinen mir zu allem, was sonst aus feministischen Kreisen verlautet, in schroffem Widerspruch zu stehen. Wenn andererseits meine Kollegin recht hatte, dann steht Eva-Lotte, worüber man aus dem Text heraus durchaus geteilter Meinung sein kann, für ein eher rollenbestätigendes Verhalten. Ganz ähnliche Auffassungen von einer weiteren Lindgren-Figur äußert die Autorin der Süddeutschen übrigens auch selbst, wenn sie behauptet, Lovis, Ronjas Mutter, tue in dem Buch kaum etwas anderes, als ihrem Mann Mattis zu „assistieren“. Das stimmt schlichtweg nicht, die Autorin scheint das Buch nicht gelesen zu haben. Lovis ist das vernünftige, besonnene, ja, weise Korrektiv zum aufbrausenden, störrischen, emotionalen Mattis. Lovis ist diejenige, die sich Alternativen zur bestehenden Ordnung der Dinge vorstellen kann (etwa, daß man sich mit dem verfeindeten Clan in der anderen Burghälfte einigt; oder daß sich die Jungen einen Dreck um die Werte und Normen der Älteren scheren); Mattis muß das erst mühsam lernen. Aber das ist hier nicht der Punkt. Der Punkt ist, daß Haafs beiden Vorwürfe – die vermeintlich jungenhafte Pippi werte Weiblichkeit ab, und Lovis sei die Folie, von der sich Männlichkeit positiv abhebe – einander widersprechen. Denn um als Folie fungieren zu können, müssen Lovis’ Verhalten und Agieren weiblich sein, sagen wir, typisch weiblich. Offensichtlich ist das aber nicht, was Haaf als normalweiblich vorschwebt. Ich fasse zusammen: Pippi ist nicht weiblich genug, Eva-Lotte und Lovis zu weiblich. Ist eine Figur typisch weiblich, wertet sie das Weibliche nicht etwa auf, sondern bestätigt ein Klischee. Ist sie es nicht, wertet sie das Weibliche ab. Wie man’s macht, scheint es, ist es verkehrt. Merken Sie was, liebe Leserinnen und Leser? Double-bind! Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht naß. Man darf sich fragen, mit was für einer Art von Figurenzeichnung die Kritiker von dieser oder jener Richtung zufrieden wären? (Und was ist das überhaupt für ein Umgang mit Literatur, der, statt auf die genuin literarischen Meriten zu achten, Texte darauf befragt, ob man in ihnen nicht die eine oder andere Abwertung herauslesen kann? Was würde Frau Haaf zu einem Meisterwerk wie Javier Marías’ Dein Gesicht morgen sagen? Sie müßte es rundweg ablehnen. Aus außerliterarischen Gründen. Klammer zu.)
(Zwischenfrage: Wäre es dann auch eine Abwertung von Männlichkeit, wenn in einem Kinderbuch ein Junge sich wie ein „normales Mädchen“ verhält? Dreimal dürfen Sie raten. Das ist wieder eins dieser schönen Beispiele, wo, um Instanzen von Frauenfeindlichkeit ausfindig machen zu können, Frauenfeindlichkeit schon vorausgesetzt werden muß. Klammer zu.)
Hören wir hierzu Meredith Haaf: „Wilde, interessante Kinderbuch-Mädchen wollen mit dem, was Mädchen normalerweise so machen, wenig zu tun haben.“ Das mag sein, wirft aber zwei Fragen auf. Erstens, ist das, was normale Mädchen so machen, geeignet, eine spannende Geschichte herzugeben? Zweitens, ist das, was normale Jungs so machen, geeignet, eine spannende Geschichte herzugeben? Was Mädchen oder Jungen normalerweise so machen, davon will kein Kind lesen, das wissen die auch so. Literatur, egal ob für Kinder oder für Erwachsene, ist kein Abbild der Realität, sondern eine Alternative zu ihr. Eine spannendere Alternative, auch wenn uns diese Alternative etwas über die Realität mitteilen kann. Glaubt denn Frau Haaf allen ernstes, daß normale Jungs sich in der Realität als Detektive betätigen oder als Astronauten Raumstationen vor dem Verglühen retten? Verbrecher jagen oder eine Raumstation retten sind aber Tätigkeiten, die, weit entfernt, etwas mit dem Alltag von Jungen oder Mädchen zu tun zu haben, sich nun mal für eine spannende Geschichte hergeben. Da ist es ganz gleich, ob es ein Junge oder ein Mädchen ist, der oder die den Verbrecher jagt oder die Raumstation rettet. Das hat nichts mit männlichem oder weiblichem Verhalten zu tun (welcher typische Junge jagt in der Realität Verbrecher?), sondern ist eine Frage des (geeigneten oder weniger geeigneten) Stoffs.
Und man fragt sich, welche Attribute Pippi zu einer Figur gemacht hätten, die vor dem kritischen Auge der Süddeutschen-Autorin bestanden und Weiblichkeit nicht abgewertet hätte? Was wäre es, ich phantasiere mal, für ein Buch, in dem Pippi und Annika die Windeln einer (im Buch nicht vorkommenden) kleineren Schwestern auswaschen, Kuchenrezepte austauschen, über Thomas’ toxische Männlichkeit palavern würden, und sonst nichts Aufregenderes passierte? Ich weiß nicht, ob eine solche Anlage von Pippis Figur Meredith Haaf zufriedenstellen würde. Ich weiß nur, daß es ein äußerst ödes Buch geworden wäre. Schon anhand meines Beispiels wird klar, daß man sich sofort in Stereotypen bewegt, will man etwas vermeintlich Normales darstellen. Was normale Mädchen und Jungs machen, ist, wie gesagt, uninteressant. Was Piraten, Indianer, Raumfahrer, Entdecker tun, ist interessant, egal, ob das Männer oder Frauen sind. Freilich, wenn andererseits die ganzen Piraten und Entdecker stets Jungen wären, würde sofort (und zu recht) der Vorwurf laut, daß Mädchen in der Kinderliteratur gar nicht oder nur als schmückendes Beiwerk vorkämen. Natürlich könnte man jetzt den Schluß ziehen, daß spannende Literatur genuin männlich sei. Bitte, dann ist das eben so. Man widerlege mich mit einem spannenden, gleichwohl normalweiblichen Tätigkeitsfeld. Meredith Haaf jedenfalls bleibt ein Beispiel, was denn spannende, sich als Erzählstoff empfehlende Mädchentätigkeiten sind, in ihrem Artikel schuldig.
Man kann eine Rolle entweder bestätigen oder ablehnen. Oder man kann versuchen, allen Rollenvorgaben (oder keiner) zu entsprechen. Für Geschlechterrollen bedeutet das, entweder ist man ein typisches Mädchen (oder ein typischer Junge), oder kein typisches Mädchen (oder kein typischer Junge), oder beides, oder beides nicht. Nur aus der ersten und den letzten beiden Strategien dürften sich dann im Haafschen Sinne untadelige Protagonisten und Protagonistinnen rekrutieren lassen, solche nämlich, für die der Vorwurf einer Abwertung des jeweils anderen Typischen gegenstandslos wäre: Also Mädchen, die entweder typische Mädchen (Aufwertung des Weiblichen) oder sowohl typische Mädchen als auch jungenhaft wären (Auflehnung gegen Rollenfestlegungen), und umgekehrt für Jungen. Oder eben Jungen und Mädchen, die so angelegt wären, daß sie sich allen Geschlechtsstereotypen entziehen. Es ist eine interessante Frage, was letztere wohl für Wesen wären. Meine Vermutung ist, daß es unmöglich ist, eine solche Figur anzulegen, weil der Leser jedes Verhalten einzuordnen versucht. Da eine narrative Figur aber menschliche Gefühle und Motivationen haben muß, um überhaupt Figur zu sein (selbst wenn es sich um ein Schaf oder eine Katze handelt), müßten ihre Handlungen, Vorlieben, Ziele und Strategien eben auch menschlich – und damit männlich oder weiblich sein. Egal, was sie täten, wie sie handelten, selbst wenn ihr Geschlecht nicht genannt, selbst wenn für sie fiktive Pronomen, Artikel und Flexionen verwendet würden – als Leser wird man immer Muster menschlichen, und damit männlichen oder weiblichen Verhaltens zu entdecken geneigt sein. Und das gelingt auch dann, wenn es der Absicht des Autors zuwiderläuft. Es gelingt so, wie es immer gelingt, Tierfiguren oder Gegenstände in Wolken oder Felsformationen oder Konstellationen hineinzudenken. Sie sind nicht da, aber wir – als Lebewesen, für die Mustererkennung alles bedeutet – sehen sie trotzdem. Ein Roman, der genau das versucht, also Wesen auftreten läßt, die nicht nur nicht typisch männlich oder weiblich, sondern die tatsächlich Zwitter sind, ist Left Hand of Darkness von Ursula LeGuin. Ein Abgesandter einer interstellaren Konföderation wird auf den Planeten Winter geschickt, um mit der dortigen Zivilisation Gespräche über eine Aufnahme des Planeten in die Konföderation zu führen. Die Bewohner dieses Planeten sind, in allen übrigen Merkmalen humanoid, Zwitter, und überdies haben sie einen sehr stark ausgeprägten Östrus. Paarungen finden nur einmal alle paar Wochen statt, zur Brunftzeit („Kemmer“ genannt). Wie beim Menschen passiert das in einem festen Rhythmus von Tagen, der aber individuell zu unterschiedlichen Zeiten kulminiert, also jahreszeitlich unabhängig ist; und anders als beim Menschen gibt es außerhalb des Kemmer weder geschlechtliche Ausprägungen am Organismus noch in den Individuen die geringste Motivation für Sex. In dieser Latenzzeit sind die Organismen an Paarung uninteressierte Zwitter. Nur während des Kemmer bilden die Organismen Geschlechtsmerkmale aus; ob das männliche oder weibliche sind, wissen die Lebewesen vorher nicht, also auch nicht, ob sie beim nächsten Kemmer als Männchen zeugen oder als Weibchen empfangen. Darüber hinaus ist der Sexualtrieb während des Kemmer überwältigend und läßt jede andere Motivation zurücktreten, was interessante Folgen für die Gesellschaft hat. Niemand muß während des Kemmer arbeiten, wer keinen Partner hat, kann entsprechende Lokale aufsuchen, in denen alleinstehende Kemmernde zueinander finden. Einen Kemmernden von der Möglichkeit auszuschließen, sich zu paaren, gilt als Folter. Es gibt keine Unterscheidung in „männliches“ und „weibliches“ Begehren. Sexuelles Begehren ist auch niemals falsch oder unerwünscht, es ist nicht unterdrückbar, und es ist immer symmetrisch, insofern es zwei Kemmernde involviert. Mit diesen Vorgaben hat LeGuin ein ideales Versuchsfeld für allerlei gesellschaftliche Gedankenexperimente geschaffen. Worum es mir hier geht, ist aber, wie die dargestellten Lebewesen in der Imagination des Lesers auftreten. Als Männer? Als Frauen? Oder als das, als was sie intendiert waren, als Zwitter? LeGuin beschreibt eine konsistente, plausible Welt, und sie hält ihre Beschreibung konsequent durch, indem sie dem Leser jegliche Hinweise aufs Geschlecht (außerhalb des Kemmer zumindest) strikt verweigert. Und doch ist es mir so gegangen, daß sich in meine Vorstellung Geschlechtsattribute eingeschlichen haben. Für mich haben die Bewohner eben doch eines, und zwar, interessanterweise, sind das in meiner Imagination alles Frauen. Das ist nur eine persönliche Erfahrung, ich vermute aber, daß Menschen nicht anders können, als das Geschlecht in Lebewesen hineinzudenken, so wie man manchmal gar nicht anders kann, als in einer Wolkenformation einen Blauwal zu erblicken.
Mit anderen Worten: eine geschlechtslose Pippi, einen zwittrigen Harry Potter, kann es schwerlich geben. (Abgesehen davon, daß wir Kinderliteratur sicher nicht auf solche mit Zwitterfiguren beschränkt sehen wollen.)
Nun hat Literatur eben, wenn es gute Literatur sein soll, gerade nicht mit der Bestätigung von Rollen sondern mit der kritischen, verneinenden, ja, scheiternden Auseinandersetzung mit Rollen zu tun. (Das ist eine Eigenschaft von Literatur, keinesfalls von „männlicher“ Literatur, um diesem Einwand hier gleich abzuhelfen.) Werther scheitert daran, daß er mit seiner Empfindsamkeit und Radikalität, mit seinem Liebeswunsch und seinen Sehnsüchten eben keine ihm gemäße Rolle in der Standesgesellschaft findet; Tess (of the d’Urbervilles) scheitert an den rigiden Auffassungen von korrektem weiblichen Verhalten der Gesellschaft, in der sie lebt; Catherine (Linton, geb. Earnshaw) scheitert an ihrer Wildheit und an einer Liebe, die nicht alltagstauglich ist; Effi (Briest) scheitert daran, daß sie sich rollenwidrig verliebt. Die Rolle gibt immer die Gesellschaft vor; interessante Literatur beschäftigt sich damit, wie es ist, die Dinge ein bißchen aufzumischen. Zu lieben, wen man nicht lieben darf; zu wünschen, was man nicht zu wünschen hat; auf Bäume zu klettern, obwohl man in einen hohlen Stamm fallen, im Wald umherzustreunen, obwohl man dabei in ein Nest von Rumpelwichten stürzen kann, den Sohn eines rivalisierenden Clans sich zum Freund erkiesen. Ein solches Aufbegehren – und nichts anderes ist es, was insbesondere Pippi tut – als „Abwertung“ des konformen Verhaltens zu betrachten, ist natürlich möglich, aber darum geht es nicht – sonst ist es keine Kunst, sondern Propaganda. So scheint mir Meredith Haafs Auffassung an allem vorbeizugehen, was Literatur, gute Literatur, im Kern ausmacht. Eine Figur wie Pippi bewertet eben gerade nicht. Das macht allenfalls der Leser. Sie hinterfragt, sie stellt das Etablierte auf den Kopf, sie setzt sich über alles Vorgefaßte respektlos hinweg. Und das wichtigste: Sie bietet keine fix-und-fertige Lösung als Alternative zum Bestehenden an. Das hat sie nicht nötig, es interessiert sie nicht, und das Bestehende wird in diesen Büchern nie systematisch in Zweifel gezogen oder als verbesserungspflichtig dargestellt. Die Welt ist, wie sie ist, und man muß sich eben, so gut man kann, in ihr zurechtfinden. Pippi kritisiert Etablierte nicht – sie ignoriert es einfach, wo es ihr nicht paßt. Wenn das typisch männlich sein soll, wenn das Weiblichkeit abwerten soll – dann weiß ich auch nicht weiter.
(Vielleicht aber ist in diesem Zusammenhang der Hinweis nicht verfehlt, daß es von jeher eine beliebte Strategie von konservativer Seite gewesen ist, Frauenrechtlerinnen lächerlich zu machen, indem man sie als unweiblich diffamierte. Klammer zu.)
Bleiben wir ein bißchen bei dieser Figur. Wer ist Pippi? Wie ist sie? Zunächst einmal ist sie ein Kind, wenn auch ein sehr ungewöhnliches. Ferner ist sie ein Mädchen, aber bis auf die Grammatik hat das keinerlei Konsequenzen. Trotzdem stimmt aber gerade nicht, daß Pippi andererseits typisch männliche Attribute hätte. Sie klettert auf Bäume, vermöbelt einen Kraftprotz im Zirkus, reitet ein Pferd; und sie führt einen Haushalt, backt Pfannkuchen und bewirtet ihre Gäste mit Kaffee. Sie ist stark – nicht wie ein Mann, sondern übermenschlich stark, stärker noch als der Kraftmeier im Zirkus. Trotzdem weiß sie ihre Kraft zu dosieren und wird erst handgreiflich, nachdem andere es geworden sind. Sie besitzt einen Goldschatz und ist reich. Sie hat keine Mutter mehr und einen Vater, der weit weg ist; man kann sagen, sie ist elternlos. So muß sie sich selbst Vater und Mutter sein, wie sie es selbst formuliert, und meistert die Aufgabe mit Bravour. Das bedeutet eine gewisse Einsamkeit; aber es bedeutet auch, sie ist ihr eigener Herr. Pippi ist nicht mutig sondern furchtlos, Autoritäten beeindrucken sie nicht, sie ist so stark und unabhängig, daß nichts sie auf Dauer aus der Ruhe bringen, ängstigen, angreifen, verunsichern kann (auch wenn sie Anwandlungen von Schüchternheit hat). Dennoch ist sie empfindsam, fühlt sich manchmal allein, sehnt sich nach menschlicher Nähe. Mitleid braucht sie dagegen keines. Sie kennt ihre Schwächen und weiß sich zu helfen. Sie ist hilfsbereit und tritt für Schwächere ein. Sie ist unerschrocken, respektlos und bereit, alles, aber alles in Frage zu stellen. Sie ist dabei dezidiert kein Sokrates, der einer bestimmten Agenda folgt und die Leute bekehren will. Pippi hat keine Botschaft. Sie phantasiert unbekümmert das Blaue vom Himmel herunter. Sie ist zufrieden mit dem Leben, das sie führt, und wünscht sich kein anderes. Sie tut, was sie will, geht zu Bett, wann sie will, ißt, was und wieviel sie will. Und trotzdem hat sie ihr Leben im Griff. Kurzum, Pippi ist frei. Pippi ist der freieste Mensch auf Erden. Pippi ist der freie Mensch schlechthin. Und als solcher wirkt sie auf subtile Weise erzieherisch (oder subversiv, je nach Perspektive.) Oder besser, sie wirkt verführerisch. Und sie zeigt Thomas und Annika, sie zeigt den Lesern, wie Freiheit geht. Insofern könnte sie auch modernen Feministinnen noch etwas zu sagen haben.
Pippi ist die Projektion alles dessen, was Kinder gerne wären und wonach sie sich sehnen. Einmal nicht am Gängelband der Eltern gehalten sein! Sich die Nächte um die Ohren schlagen dürfen! Den ekelhaften Spinat zum Fenster hinauskippen! Sich von Eis, Pommes und Kuchen ernähren! Den langweiligen, doofen Erwachsenen mal so richtig zeigen, wo der Hammer hängt! Sich selbst ermächtigen! Pippi ist eine großartige Identifikationsfigur, wer wäre nicht gerne wie sie? Aber sie ist es für Jungs wie für Mädchen gleichermaßen, und daß sie ein Mädchen ist, spielt für die Eignung als Identifikationsfigur keine Rolle.
Denn es gibt doch so viel mehr und so viel interessanteres als Geschlechterrollen. Pippis Identifikationsangebot bevorzugt kein Geschlecht. Das große Thema der drei Pippi-Bücher ist nicht die Rolle von Mädchen und Jungen, und der Text macht diesbezüglich keine Angebote. Thomas und Annika sind beide angepaßt, und sie sind es auf die gleiche Weise: als Kinder, die den spaßfreien Gängelungen und Regeln der Erwachsenen ausgeliefert sind und glauben, das müsse so sein, weil sie nichts anderes kennen. Pippi zeigt ihnen, daß die Welt keineswegs selbstverständlich so ist, wie sie ist. Das große Thema der Pippi-Bücher ist die Freiheit; und das Kindsein; und die Freiheit des Kindseins. Mittels der Pippi-Figur können Kinder ihre Sehnsucht nach Selbstbestimmung ausleben und im Nachvollzug dieser Figur stellvertretend all die tollen Dinge tun, die Mama und Papa niemals erlauben würden, können all das für die Dauer einer lustigen, verrückten Geschichte niederreißen, was in der Realität das Leben als Kind so empörend schwierig macht, Regeln, Grenzen, Verbote, Strafen, kneifende Wollunterwäsche. So hält das Buch die Sehnsucht nach dem ganz anderen wach. Daneben ist es aber auch eine Feier des Kindseins und eine klare Absage an alle Erwachsenenwerte. So wird die Welt der Erwachsenen, in der man arbeiten muß und Hühneraugen bekommt, zum Schluß von Pippi, Thomas und Annika als so wenig erstrebenswert bestimmt, daß sie beschließen, niemals groß zu werden. Als Kind ist man nämlich vielleicht doch in Sachen Freiheit den Erwachsenen ein bißchen voraus, wenn man es genau betrachtet. Eine Figur wie Pippi hilft, diese Freiheiten zu sehen – und Gebrauch von ihnen zu machen.