Daß die Sehenswürdigkeit, um deretwillen wir siebzehn Kilometer gewandert waren, aussah wie ein Stück billiger Korktapete in einem schäbigen, schlecht sitzenden Holzrahmen, paßte zu dem Ort, an welchem diese Darbietung stattfindet. Hinter der einzigen Tür des Gebäudes gelegen, die nicht abgeschlossen war, machte das Kämmerchen so sehr den Eindruck einer beinahe privaten Andachtskapelle, und zwar einer von denen, die sich nicht entscheiden können, ob sie Wohnzimmer oder Sakralraum sind, daß ich, kaum wirklich mit einem Fuß drinnen, unter dem peinlichen Gefühl, in etwas Privates eingedrungen zu sein, den Raum hastig wieder verließ und mir das, was wir doch suchten, entging, obgleich ich es gut sichtbar vor Augen hatte. Aber sichtbar heißt eben nicht, daß man es auch sieht. Freilich hatten wir auch keine Korktapete im Holzrahmen erwartet. Sondern eine Grabplatte. Die aus dem Kalksinter der römischen Wasserleitung geschnittene Grabplatte der Hl. Liuthildis, die hier, im Weiler Lüftelberg, so wußte es das Internet, in der Kirche St. Petrus anzustaunen sei. Wären nicht die beiden alten Frauen gewesen, denen wir begegneten, als wir die Kirche auf der Suche nach weiteren Eingängen umrundeten, wir wären im Bewußtsein, die Platte nicht gesehen zu haben, wieder abgezogen. Dabei hatten wir sie bereits gesehen, wir wußten es nur nicht. Ob die Kirche offen sei, fragten wir die Frauen. Nein, das nicht, erwiderten die, aber es gebe hier etwas Interessantes zu sehen, die Grabplatte der Hl. Liuthildis, die in so einem Nebenraum untergebracht sei, “Schauen Sie sich das mal an, das ist sehenswert.”
In dem Raum steht rückwärtig ein Altar mit einer gräßlichen Steinplatte aus rosa Grabmarmor, darauf ein kleiner Schrein mit einem Vorhang aus kunstsilbernem Gewebe, das aussieht wie von der NASA für Weltraumspaziergänge entwickelt. Rechts fällt die winterliche Nachmittagssonne durch ein Fensterchen, dessen bleigefaßte Scheiben mit Baumarkt-Glasmalereifolie beklebt sind. Zwei kleine Blumensträuße verbreiten einen düsteren Trauerhallenduft. Dennoch erwartet man, gleich eine Kaffeemaschine blubbern zu hören. Wären die Blumen und der scheußliche Altarmarmor nicht, könnte man es fast gemütlich finden. Und immer noch sah ich nicht, was ich sehen sollte, suchte, von der Bezeichnung Grabplatte verleitet, nach etwas Waagerechtem, wollte gar den Altarmarmor für das Gesuchte halten, als schließlich meine Wanderbegleitung, der das Sehen mehr liegt als mir, mich auf das Ausstellungsstück hinwies. An der Wand links hängt, wie ein Klimt-Druck, das gerahmte Prachtstück, die Grabplatte, und leider ist daran einzig ihre kuriose Herkunft beeindruckend. Etwa 180 Jahre lang war Wasser durch die Gefälleleitung geflossen, die die Römer zur Wasserversorgung der Colonia Claudia Ara Agrippinensium, des heutigen Köln, aus den Quellgebieten der Eifel bei Nettersheim durchs Gebirge und Börde in einem durchschnittlichen Gefälle von 4 % bis in die durstige Stadt geführt haben. Das Wasser war kalkhaltig, wie es die Römer bevorzugten, und in den über hundert Jahren, die die Leitung in Gebrauch war, lagerten sich mit der Zeit mehrere Zentimeter starke Kalksinterschichten in der Leitung ab. Schneidet man diese Ablagerungen an, sieht man eine Musterung, Jahresringen nicht unähnlich, die Auskunft über den unterschiedlich schnellen Grad der Ablagerung gibt. Poliert macht das einen hübschen, marmorartigen Effekt, der den mittelalterlichen Baumeistern auch nicht entging, die, gleichmütig gegenüber der technischen Großleistung der Römer und den eigentlichen Zweck der Leitung verkennend, diese in erster Linie als Steinbruch betrachteten, dessen wertvollsten Schatz die Kalksinterablagerungen darstellten. Mit diesem Kalk wurde rege Handel getrieben: Teile daraus lassen sich bis in dänischen Kirchen nachweisen. Es ist schade, daß die Grabplatte aus dem ursprünglichen Kontext des Grabes herausgenommen worden ist. Die Art und Weise, wie der Stein nun in der Kirche St. Petrus zu Lüftelberg bei Meckenheim ausgestellt ist, wird seiner merkwürdigen Herkunft nicht im mindesten gerecht. Die Platte hätte mehr verdient, als wie ein Stück Korktapete behandelt und in einer Art Kaffeeküche aufgehängt zu werden.
Wir bedankten uns bei den Frauen, umrundeten die Kirche, an deren Südseite ein paar alte Gräber liegen, warfen einen Blick über die den Kirchhof einhegende Steinmauer (deren Steine womöglich wie bei so vielen anderen alten Gebäuden der Gegend vor Jahrhunderten aus der Wasserleitung gebrochen worden waren) und entdeckten eine Streuobstwiese, auf der eine Schafherde das Gras kurzhielt. Ich dachte an die Zeit, die es gedauert hat, bis die Kalkschichten in einer römischen Wasserleitung der mittleren Kaiserzeit so dick geworden waren, daß sie Jahrhunderte später das Interesse der mittelalterlichen Steinmetzen hatten wecken können. Wieviel Zeit von dem Tag an, da die Franken eingefallen waren, Köln verwüstet hatten und die Wasserleitung außer Gebrauch kam, bis zu jenem anderen Tag vergangen war, da der erste Mensch auf den Gedanken verfiel, den Sinter zu Steinmetzarbeiten zu verwenden; wie viele Jahrhunderte seitdem dieses Stück Kalk in einer Kirche die Gebeine einer Heiligen bedeckte. Von ein paar Kalziumkarbonatmolekülen, die an irgendeinem Wintertag im zweiten nachchristlichen Jahrhundert ausgefällt wurden, bis zu dem Tag, an dem dieser Teil der Leitung ausgesägt worden war, und weiter bis zu dem Moment, da meine Wanderbegleitung und ich davor standen und ich dachte, daß es sicher keine gute Idee sei, die Platte zu berühren, da der Handschweiß sauer ist und den Kalk auflösen kann, sind es viele Kaiser und noch mehr Könige gewesen, wurden Kriege geführt und ganze Völker vernichtet, stürzten Reiche, während neue auf den Trümmern entstanden, wurde Amerika entdeckt und die Schokolade, das Penicillin und die drahtlose Telegraphie erfunden, betraten Menschen den Mond, flogen Sonden zum Jupiter: eine ganz schöne Strecke Wegs. Draußen weideten die Schafe. Nicht dieselben wie zur Zeit der Römer, aber, dachte ich, im Grunde hatte sich für die Menschen seitdem alles, für diese Tiere aber so gut wie nichts verändert. (20.1.2019)
Oh, der Teil mit der Kaffeemaschine gefällt mir. Und die Schafe. Ich habe ein Herz für schräge Heiligkeiten; das muß ich mir vielleicht doch mal anschauen. Zumindest werde ich es auf Anhieb finden. .)
Vielleicht schaffen Sie’s ja, in die eigentliche Kirche einzudringen. Berichten Sie uns doch, wie sie’s fanden.