Man kann in einem Wasserglas ertrinken, von einer einzelnen Weinbeere einen Rausch bekommen, oder sich im eigenen Vorgarten verlaufen. Etwas Ähnliches wie letzteres ist mir einmal an einem eisigen Wintermorgen passiert. Es dämmerte gerade erst, war aber noch nicht hell, als ich in vielen Schichten Funktionskleidung und mit der Stirnlampe bewaffnet den Villehang hinauflief. Infolge der Klarheit der Luft und der Reflektionskraft der niedrigen Wolken, die das vom Süden Kölns aufstrahlende Zivilisationslicht zurückwarfen und über die Ebene streuten, war die Landschaft bereits in Einzelheiten zu erkennen: der abfallende Weg, links eine Wiese, rechts die gesperrte Kiesgrube mit dem Waldsaum, drüben der Talhang, an seinem Grund die Lichter vom Brenig, dahinter die dunkle, vereinzelt von Lichtreihen gegliederte Fläche der Kölner Bucht. Aber schon schien, ohne geradezu die Sicht ganz aufzuhalten, diese dunkle Klarheit vor dem Tageslicht, diese Transparenz des Raums an Zusammenhalt zu verlieren und labil zu werden wie frisch geronnener Quark. Wind kam auf, wehte von Nordosten heran, wo die Dämmerung auf einem Bein zu balancieren, dann torkelnd auseinanderzufallen schien, der Himmel wie zerrissenes, dann eingestampftes Altpapier, blaurote Fransen und Fetzen, schwefelgelbes, mit Maschinenöl verklebtes Konfetti, viel eingeblutete Druckerschwärze in kompakten, schmierigen Knäueln. Und dann noch mehr Wind, bald Sturm, der die Spalten erst aufreißt, dann zusammenpreßt, dann die Bruchkanten verwindet. Und aus der gequetschten dann wieder gedehnten, aus der mißhandelten, spuckenden Masse ergießt sich ein Strom von Blindheit über die Hänge und in die Täler, stülpt sich etwas, das nicht einmal schwarz ist, über die Baumkronen und Zaunpfosten, das die Wege auffüllt, die Wiesen stöhnen läßt, sich als dumpfer Pfropf auf Mund und Ohren legt. Dann beginnt, was zuerst als Aufhellung bemerkbar wird, sich dann aber zu einem milchig-weißen Schirm verdichtet, der noch die Dunkelheit selbst verdünnt und schließlich in sich auflöst. Es war, als bewegte ich mich in einem dreidimensionalen Fernseher, der den Sender verloren hat. Im Licht der Stirnlampe leuchteten die Schneeflocken so hell wie ein Feuerwerk, während im Augenwinkel ein graues Seufzen unablässig in die Knie ging. Die Lichter der Ebene waren verschwunden, ebenso wie der Kirchturm im Brenig drüben, die Kohlfelder, die Pferdeweiden, der Waldrand; die Welt hatte sich in eine einzige tobende, kochende, wirbelnde Taubheit verwandelt, und zu meinen Füßen war der Grund auf ein Areal von zwei Metern Umkreis geschrumpft, war eine Insel geworden, auf der ich weiterlief, die ich mit mir schleifte, die nur dank meinen Schritten existierte. Stückchen vom Wegrain wurden sichtbar, Grasbüschel, eine vereiste Pfütze, deren Oberfläche sich schnell mit Schnee überzog, ein Zaunpfosten, ein Stück Stacheldraht, aber zu welchem Grundstück gehörte der? Das blendende Licht der Flocken nervte so sehr, daß ich die Lampe ausmachte, aber jetzt war es fast völlig dunkel, und in dieser Finsternis fiel weiter der Schnee. Als hätte das Licht zuvor die Geräusche gedämpft, wurde jetzt das Fallen hörbar, flüsterte und raschelte die Finsternis ringsum. Flocken setzten sich auf die Jackenärmel, die Schuhspitzen waren überkrustet, meine Mütze zierte eine Haube aus Eis. Ich wußte, daß ich die nächste Abzweigung links abbiegen mußte, bog ab, wurde unsicher. Und dann passierte es, von einem Moment auf den andern. Ich wußte nicht mehr, wo ich war. Das Wissen über die Mikrogeographie dieser paar Quadratkilometer, in denen ich unzählige Male, bei Sonnenschein, bei Regen, bei Dunkelheit in der einen wie in der anderen Richtung unterwegs gewesen war, dieses Wissen war ebenso ausgestrichen worden wie die Kölner Bucht, der Waldsaum, das nächste Tal, der nächste Apfelbaum, die nächste Straße. Etwas, das wie eine Ansammlung von Müllsäcken aussah, aber einmal eine Hecke gewesen sein mußte, tauchte auf, der Albdruck eines Kamels, das sich als Baum entpuppte, dann kippte die Topographie wieder in die stürmische Leere eines Felds, wo sie hinter zuckenden Schemen verschwand. Ich drehte mich um mich selbst, überall das gleiche Bild. Wenn ich die Lampe wieder anmachte, schloß sich sofort ein leuchtender Ring Flocken um mich, der auch noch die letzte Tiefe vernichtete, als hätte man einen Laternenschirm über mich gestülpt. Es gibt Formen der Unsicherheit, Unkenntnis und Orientierungslosigkeit, die sich zu einem Gefühl existentieller Bedrohung auswachsen können. Dieser schneegefüllte, tiefenlose Nullraum erinnerte mich an den Film The Cube, es fühlte sich an, als hätte mich jemand, während ich schlief, in eine völlig fremde, völlig absurde Umgebung verpflanzt. Gleich bekäme ich vielleicht einen geriffelten Stahlboden unter die Füße, und wenn der Schneefall nachließe, fände ich mich mitten Im Pazifik im leeren Laderaum eines verlassenen Frachtschiffs wieder. Oder etwas in der Art: So völlig ausgelöscht war jedes Merkmal von Landschaft oder auch nur von Entfernung und Raum, ich hätte mich genauso gut in der Arktis befinden können: hier noch ein Schatten von fliehenden Hunden im wirbelnden Schnee, dann völlig allein, in Gesellschaft nur mit dem Wind, der mir vergeblich die Lösung für dieses Orientierungsproblem in die Ohren brüllt.
Minutenlang prasselte links von mir eine Hecke, als stünde sie in eisigen Flammen. Wo gab es in der Arktis Hecken? Ich spürte, daß ich Asphalt unter den Füßen hatte, aber in welche Richtung lief ich überhaupt? Was war das überhaupt für ein Weg? Ein Wegweiser tauchte auf und zeigte mir, daß ich immerhin in die richtige Richtung lief: Hier weiter, und ich wäre in zwanzig Minuten zu Hause. Aber wo ich mich befand, konnte mir der Wegweiser auch nicht sagen. Ich mußte einen mir bis dahin verborgen gebliebenen Weg entdeckt haben. Toll!
Und dann, ebenso plötzlich wie die Verwirrung eingesetzt hatte, trat Wiedererkennen ein, und sofort war alles klar. Zwar fielen die Flocken nach wie vor, betrug die Sichtweite immer noch kaum zwei Meter, aber eine Wegbiegung rechts wurde plötzlich wieder diese Wegbiegung, und eine Hecke links wurde die Hecke, etwas, das im Grund aller Wahrnehmung so fest verankert ist, daß man es erst bemerkt, wenn es fehlt; und wie wenn man in einem Vexierbild endlich das verborgene zweite Bild erkennen kann, so völlig klar, daß man sich wundert, wie man es bisher nicht hat sehen können, verschwand die unbekannte Landschaft vor meinen Augen und wurde augenblicklich durch die vertrauten Umrisse meiner Laufrunde ersetzt: durch die Interpretation dieser Umrisse, denn zu erkennen war immer noch kaum etwas. Da ich aber wieder wußte, wo ich war und was ich erwarten durfte, fügte sich, was sichtbar war, in den von meiner Erfahrung wieder bereitgestellten Rahmen. Insofern findet vielleicht jedes Verirren nicht in der Topographie statt, sondern im Kopf.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert