Ein Lauf durch die Morgenfrühe nach nächtlichem Starkregen. Im Licht der Straßenlaterne sieht es aus, als wäre Schnee gefallen, so dicht ist der parkende Wagen der Nachbarin von Blütenblättern bedeckt. In der Wohnung die muffige Luft von gestern, draußen riecht der Morgen nach Marzipan und Zimt. Blau aufschießende Luft, die Uhren schlafen, in Gräben dämmert es naß. Himmelsdome lassen Türme fallen, in der aufziehenden Dämmerung lösen sich die Wolken aus dem Gerüst der Dunkelheit und stürzen hinab zu den Lichtern der Ebene. Eingebettet in die Masse der noch trägen Luft, wie Kerne in süßschwarzem Fruchtfleisch, die Rufe der Vögel.

Das Licht nur eine Ahnung, eine Schwebung in der Luft, ein Sog am Horizont hinter den in sich versunkenen Häuserzeilen. Die wenigen Fahrzeuge im Ort haben die Zielstrebigkeit von Boten, die schon mehr wissen.

Leuchtstreifen, die das Bewußtsein der Nacht durchkreuzen. Lebendiger Lack auf den stillen Kühlerhauben. Tulpen, deren Farbe Gedächtnisse sind, im innersten ruhend. Bögen von Baumwipfeln, als steindunkle Masse gegen den Himmel geschweift. Das Paradoxe dieser hellwachen Dunkelheit, in der nichts schläft, in der ich, meine Schritte, mein Leib, mein mühsam konstruiertes Bewußtsein, das schwächste, das unaufmerksamste Element bin.

Nichts an dieser Nachtwelt ist mühsam, nur ich bin es. Ein Wesen, das sich auflehnen muß, um überhaupt existieren zu können. Andauernder Gegenwind, Sog des Nichtseins, Hintergrund endgültigen Schlafes. Jeder Atemzug buchstäbliches Arbeiten gegen die Auslöschung. Und wie das Herz dagegen anpocht, nicht nicht zu sein. Ringsum, in den Büschen, den verschachtelten Dunkelheiten, den lauernden Wegen, den wachenden Baumstämmen ist alles gegeben und alles ohne Grund. Nur ich brauche einen Grund, hier zu sein, eine Begründung, oder vielleicht eine Entschuldigung für mein verbissenes Sein.

Plötzlich Sommer, schmachtende Pfützen, Mückendurst, auf dem Asphalt stehen die Falter in Flammen. Straff wie ein Segel der Himmel, die Sonne eine Walze, die das Feld plattdrückt. Schnapsidee, bei so einem Wetter laufen zu gehen, der halbe Liter Wasser, den ich dabeihabe, verdunstet mir gleich wieder über die gerötete Haut. Schatten sind kurz und kostbar, der Waldrand geizt mit ihnen.

Erde und Wind, verschüttetes Wasser und die fettlöslichen Farben der Rapspflanzen. Staub hängt sich ans Heck eines Traktors, Geruch aus der Kindheit, das Trockene von Ackergift, erstickend und bitter; jetzt löst es melancholische Heimatgefühle aus. Noch mehr Kindheit: Endlich fällt mir ein, woran mich der süßliche Duft des Rapses erinnert. Es sind die Wachsmalkreiden der Kinderzeit. Ein Geruch, der Schminke und Lippenstift benachbart ist. Letzteren deute ich immer als Mundgeruch. Zum Glück war ich nie in Versuchung, einen Lippenstiftmund zu küssen.

Einjähriges Silberblatt, Buschwindröschen, Scharbockskraut, Lerchensporn, Wiesenschaumkraut. Flieder. Kurz vorm Blühen: die Knoblauchsrauke. Vom Bergahorn fallen schon die Blüten ab.

Nach Hause kommen, im schwarzen Hausflur schwitzt das Auge minutenlang Farbe aus. Dicht gedrängt vorm Glas die Lamellen des Fensterladens. In der kühlsten Ecke liegen die Schuhe und hecheln, hecheln. Auf Nachbars Wiese schnarcht ein Rasenmäher.

[Beethoven, Klaviersonate Nr. 16, G-Dur]

Gesetzt, ich nähme mir vor, sämtliche Bücher, die ich in meinem Leben bis zum heutigen 16. April 2018 gelesen habe, in absteigender Reihenfolge noch einmal zu lesen, von meinen jüngsten Knausgård-Lektüren über Carrère, Stasiuk, Pinker, Ortheil, Fermor, Lindsay, Fontane, Macfarlane der letzten Zeit über Klein, Wallace, Lewitscharoff, Bolaño, Büscher, Hermann, Murakami, Sateli, Karystiani, Terzakis, Ransmayr, Sebald, Byatt und all die anderen der letzten Jahre, durch den Wust schließlich an Fach- und Studienliteratur, ferner Foster, Norfolk, Eco, Hardy, Kundera, Auster, Murdoch meiner Studienjahre und weiter hinunter, über die Mann-Phase bis zu den Science-Fiction-Romanen meiner Jugend (Lem, Strugatzki) und den Abenteuergeschichten (Blyton) der Kindheit – dann würde, wird man wohl annehmen dürfen, meine verbleibende Lebenszeit nicht mehr ausreichen, um es ganz bis zur ABC-Fibel hinunter zu schaffen.

Eine Stunde gewonnen, wieder in die Dunkelheit des Jahresanfangs zurückgelangt, mit Käuzchenrufen und den Schatten von Rehen, die ihre Augen übers Feld tragen wie Schulkinder die Katzenaugen am Schulranzen. Wieder scheint mir am Übungsgelände der Polizei ein Scheinwerfer entgegen, wieder brauche ich eine Schrecksekunde um zu begreifen, daß es meine Lampe ist, die sich in einer Glasfront spiegelt. Die Nacht verzweigt sich, Gänge gehen ab ins Unterholz, wo mich das Dunkel so früh noch nicht erwartet hat, immerhin eine ganze Stunde früher als im März.

Aber man gewöhnt sich. Schon nach ein paar Tagen ist fünf Uhr wieder fünf Uhr, auch wenn es eigentlich vier Uhr ist. Wie seltsam muß das den Tieren vorkommen, wenn der ganze Werktagszirkus plötzlich eine Stunde früher losgeht.

Zirkus: Kaum sind die Feiertage vorbei, setzte umgehend eine Geschäftigkeit ein, in der Geste des Nach- und Aufholens, als hätte man irgendwas versäumt, während nicht gearbeitet wurde, tausend Laptops, Kameras, Smartphones, Sommerschuhe, Handtaschen, Autos zu wenig ausgeliefert. Das muß umgehend aufgeholt werden, vorwärtsch Marsch! – Das höre ich dann morgens um kurz nach fünf oder vier, wenn die Reifen über die benachbarte Ortsdurchfahrt brausen.

Noch hat mich das alles nicht am Wickel, aber wer weiß, wie lange das noch geht? Am Feldrand stehen und den Rehen nachsehen, bis sich ihre Schatten in Schatten aufgelöst haben und nur noch die Vorstellung ihres wachsamen Blicks mich trifft. Zeit haben, den Tag zu empfangen wie ein persönliches Geschenk, und ist das nicht so, ist nicht jeder Tag mein eigener Tag, gehört er nicht mir und niemandem sonst? Wäre es nicht so, würde jemand anders ihn leben. Aber ich lebe ihn, also ist es meiner. Wie gut es die Rehe haben, daß ihnen das niemand streitig macht. Sie gehören niemandem. Selbst wenn man sie schießt und ißt, gehören sie niemandem. Sie sind so frei wie es Menschen nie sein werden, und je mehr Zirkus sie um ihre Freiheit machen, desto weniger sind sie’s.

Lampe aus, der Weg ist wach. Aus dem Wald schlüpfen und sich an der Grabenbruchkante entlanghangeln. Unten die Ebene, in der noch die Lichter brennen, funkelnd und wachsam, als gälte es, auch noch den Schlaf zu durchleuchten. Die einzige Freiheit des Menschen ist der Schlaf. Aber auch dem rückt man von allen Seiten zu Leibe. Eine aufrührerische Frechheit ist es zumal, daß man sollte träumen können, was immer man wollte.

Und ein Schleifen dröhnt heraus, ein Schleifen und Schleifen, als wäre eine gewaltige Maschine angesprungen, um das Rad der Zukunft immer weiter zu beschleunigen.

Drei Greifvögel, einander umkreisend: Mal werden sie so schmal, daß sie in den Falten des Lichts zu verschwinden scheinen, dann tauchen sie wieder auf aus dem Blau wie Messer aus einem Tuch. Unten branden die Äcker an den Himmel, treiben eine leere Viehtränke bis zum Horizont. Dort steht sie auf einem wackligen Schatten. Vertäute Inseln liegen im Fluß, die der Strom zu Tropfen aus Jade schleift. Man muß sehr still sein und warten, dann hört man, wie Gelächter abseits der Wege leise zerplatzt, gleich einem Bonbon unter der Zunge des trägen Nachmittags. Kühl von Schatten fallen unterdessen die Küsse durchs Laub, verschwiegen wie Fledermäuse, während ein bemoostes Mäuerchen den Grund für sein Grübeln längst vergessen hat. Eine Stunde zieht die andere empor, aufs Treppchen, auf den Pavillon, zu den Balustraden des Tags, der Strom macht Pause, die Hügel sind Linien, die beim Zeichnen einschliefen, du hast Butterblumen unterm Kinn, die Viehtränke ist umgefallen, und oben, ganz oben kreisen weiter die drei Vögel, beweglich und stationär wie Bojen in starker Strömung.