Fast vom Vogelgesang aufgeweckt worden; diesmal war es noch der Wecker, der dem Amselmännchen zuvorkam; morgen wird es vielleicht schon umgekehrt sein. Um sechs ist es jetzt schon dämmrig, setzt das Fensterkreuz ein Tageszeichen an die Wand. Seit Sonntag die dünne Decke; ein bißchen schade ist es um das Federbett, in dem die leichte Daune zu fühlbarer Schwere sich sammelt; doch solche Üppigkeit war schon während der Frostnächte zu warm. Winter, in denen man ohne Daune nicht mehr auskäme, die gibt es wohl endgültig nicht mehr.
Es sei denn, man schliefe im Zelt. Bei der letzten Übernachtung im Wald, Anfang November in der Hocheifel, kam nachts der Frost und raubte den Schlaf. Ich sehe ein, daß ich für zukünftige Winterwanderungen einen wärmeren Schlafsack brauche. Komfortbereich bis minus fünf Grad, das sollte es schon sein. In den Tallagen der Mittelgebirge kann schon mal recht schattig werden im Winter.
Neulich bei einem großen Supplier für Draußensachen in der CCAA Schlafsäcke befühlt. Glänzendes Polyester-Außenmaterial, Mumienform, man hat gleich die schummrige Enge im Innern von Expeditionszelten vor Augen, einen Reinhold oder einen Peter, während draußen der Orkan ums Lager VI kreischt. Von einem solchen Abenteuer, scheint es, trennen einen nur 400 Euro. In der gesteppten Hülle ein Nichts von Daune, man glaubt nicht, daß das wärmen soll, Grenzbereich bis minus 16, nunja, Grenzbereich, das bedeutet wohl, daß man nicht sofort erfriert, sondern erst nach ein paar Stunden. Zum Glück kommt jetzt erst mal der Sommer, sonst hätte ich mir das gute Stück wahrscheinlich gleich gekauft.
Eigentlich waren wir aber wegen einer ganz anderen Sache da. Der junge Mann plant nämlich eine Weltreise, und dazu braucht er Stock und Hut, oder vielmehr: Schuhe und Rucksack; und ein paar weitere Kleinigkeiten. Eine Hängematte hat er sich gekauft; und einen mit Holz zu befeuernden Kocher; weil: Holz gibt’s ja überall, aber Benzin nicht, von Gas zu schweigen. „Und wenn ich dann mal irgendwo im Urwald …“ – Der junge Mann ist in seinem ganzen Leben nicht über das IJsselmeer hinausgekommen. Den Plan, ohne Schlafsack loszuziehen hat ihm seine Mutter zum Glück vehement ausgeredet. Im übrigen lasse ich ihm seine Träume; er muß selbst herausfinden, was funktioniert und was nicht.
So ein Supplier von Draußensachen hat von jeher auf mich eine merkwürdige Faszination ausgeübt. Die stabilen Messer, der High-Tech-Zeltstoff, die Ultra-Lightweight-Kaffeekanne, die noch leichtere Isomatte, dazu Packleinen und -taschen, Rucksäcke für den Einsatz von Antarktika bis nach Labrador, Schlafsäcke, Stiefel, Zeltschlafanzug, Kocher, Anzünder, Schleifstein, Gaskartuschen, Buschmesser, Bananenschachteln, Stiefelwärmer, Funktionsschnürsenkel, Outdoorzahnbürsten und frostfeste Zahnpasta, Zecken-Repellent und Läusekamm, Klappspaten und Drainagefolie, Pinkelhilfe und Menstruationsbecher für Frauen, solar betriebene Rasierer für Männer, und das alles so leicht, daß man meint, die Einzelgewichte müßten sich ja zwangsläufig gegenseitig aufheben. Wenn man so ein Zelt aufgebaut sieht, in den gemütlichen Innenraum späht, das Päckchen zusammengefaltet in der Hand wiegt, dann denkt man sich wirklich, na, damit ist das Wandern und Draußenschlafen ein Kinderspiel. Mit so einem Zelt hast du doch quasi dein Wohnzimmer mit dabei. Und genau das ist der Plan: die Natur, die kalte, windige, klamme, regnerische oder brennend-heiße Natur, in der es von stechenden und saugenden Tieren nur so wimmelt, Schuhe nachts nicht richtig trocknen, Füße Blasen kriegen, Sand in Ohren, Nase und Poritze eindringt, Wind nachts im Kragen fingert, die Hände steif und die Füße eisig sind, und wo es im Zelt nicht nach feinem Damenparfum, sondern nach verschwitzten Wandersocken riecht – diese Natur ein für allemal so in den Griff zu kriegen, daß die Freuden des Wanderns (eindrucksvoll und durchaus verlockend dargestellt auf entsprechenden Werbeplakaten: ein einsames Zelt auf einer Klippe vor phänomenaler Weitsicht hinunter in ein menschenleeres Fjäll im Sonnenuntergang, davor leichtbekleidete, schöne Menschen mit Teebecher in der Hand, die aussehen, als wüßten sie gar nicht, wie frieren geht, während sich die Abendsonne in der leuchtenden Augen spiegelt und das Zelt Abenteuer ganz anderer Art verheißt, für die es auf dem Fjäll weit und breit keine Zeugen gibt) – daß solche Freuden des Wanderns ein für allemal ohne die Mißlichkeiten wie stinkende Unterwäsche, Nässe und schlaflose Kälte zu haben sind. Das ist das Versprechen. Das andere Versprechen, und damit machen Handelsketten wie die in der CCAA ihr eigentliches Geld, ist an all die gerichtet, die ihre himalayataugliche wind- und wasserdichte Ultraproof-Daunenjacke mit dem neuen QZX-1-breathable-active-System (von 1500 auf 900 heruntergesetzt, ein Schnäppchen!) für nicht mehr als den Gassigang mit dem Zwergpinscher brauchen. Das Versprechen lautet: Mit dieser wasserdichten Ultraproof-Daunenjacke mit dem neuen QZX-1-breathable-active-System bist auch du, Helmut Wackenröder aus der Rechnungsabteilung, und du Erna Schümpel-Lindholz aus der Abteilung Einkauf, ein Abenteurer. Und sei’s auch nur für die Strecke bis zum Zigarettenautomaten.
Während der junge Mann Rucksäcke ausprobiert und sich von der Fachkraft beraten läßt, erlaube ich mir einen Moment der Reflexion und versetze mich in seine Lage. Ich versuche, mir vorzustellen, wie das jetzt wäre, mir eine solche Reise vorgenommen zu haben, und fühle eine immense Erleichterung darüber, daß ich das nicht mehr muß: Abenteuer bestehen. Fast habe ich Mitleid mit dem jungen Mann. Was für eine Last, jung zu sein! Wohl weiß ich, daß sich das einmal anders anfühlte, aber ich weiß es nur im Kopf, nicht mit dem Herzen. Ich kann die Erregung nicht mehr nachfühlen, kann mich an die Gewißheit eigener Stärke nicht mehr erinnern, und auch nicht an die Freude, die darin lag, aufzubrechen. Nur die Angst, nicht zu wissen, wo man am nächsten Tag schlafen wird, die ist präsent, die weiß ich noch, und nichts könnte weniger verlockend sein.„Bloß keine Herausforderungen!“ ist mir neulich am Telephon herausgeplatzt, und über meine eigene Heftigkeit habe ich selber gestaunt.
Meine Abenteuer finden auf dem Schreibtisch statt, das ist mir Herausforderung genug. Und mit diesem Stichwort wälze ich mich endlich aus dem Bett, es ist doch schon hell!, setze den Wasserkessel aufs Feuer und schalte den Rechner an. An die Arbeit, an die Arbeit, weiter im Text!