Und tatsächlich! Flutlicht auf dem Weg, ein unbewegliches Scheinwerferpaar, irgendwo in nicht zu bestimmender Entfernung auf dem dämmrigen Waldweg. Ein drittes Licht schwebt über den zweien, schwankt, erlischt, leuchtet wieder auf. Natürlich, ein Holzernter. Was sonst. Das mußte ja einmal passieren. Nun, nach wochenlangen Ausweichmanövern durch den angstvoll nach Maschinengeräuschen abgelauschten Wald, ist es nun endlich soweit, und ich gerate mitten hinein. Was hab ich es satt! Zerpflügte Wege, Lichtspektakel, Gejaule von Motorsägen, Gerassel von Kettenfahrzeugen, große Areale Walds niedergemäht, manche Orte bis zur Unkenntlichkeit zerbombt, zersägt, versumpft, verschandelt. Seit Oktober geht das jetzt so. Das ist kein Wald, das ist eine Fabrik.
Natürlich stoßen hier komplett inkompatible Auffassungen, was ein Wald sei und welchem Zweck (oder ob überhaupt einem) er diene, aufeinander. Für mich ist der Wald ein Refugium, eine Oase des Normalen und Natürlichen in einer Wüste des Uneigentlichen, ein Stück Heimat inmitten von Entfremdung. Was ich von ihm verstehen kann, will ich verstehen, seine Geheimnisse wünsche ich mir unangetastet von mir oder anderen. Seine Stille tut mir gut, seine Räume, sein großer, ruhiger Atem beschwichtigen mich. Wälder waren immer da, ob ich sie aufsuchte, an sie dachte, mich nach ihnen sehnte, oder nicht. Von frühester Kindheit an bin ich im Wald gewesen. Ich habe vom Wald gegessen, ich habe im Wald geschlafen, ich habe im Wald geliebt. Ich weiß nur sehr wenig über den Wald, aber das wenige genügt mir. Mir genügt, daß sich der Wald selbst genügt. Er braucht mich nicht, und das ist gut.
Für sie aber, die hier Holz ernten, ist der Wald etwas ganz anderes, nämlich eine Plantage, eine Investition, eine Fabrik, ein Wirtschaftsfaktor.
„Um den Herausforderungen des Klimawandels zu begegnen …“, lese ich in einer Broschüre, die von den Forstämtern NRW herausgegeben wird und dazu ersonnen wurde, mir und anderen besorgten Spaziergängern den Holzeinschlag schmackhaft zu machen. Die Antwort, die mir bei solchen und ähnlichen Sätzen in immer gleicher Form auf die Zunge springt ist: Ach, und warum gibt es den Klimawandel? In meinen Augen ist der Klimawandel keine gute Begründung für irgendwas. Er ist eine Folge von Mißständen, die ihrerseits angeprangert und schnellstmöglich ausgemerzt werden müssen. Schon die Wortwahl nervt. Der Klimawandel – oder, um es beim Namen zu nennen, die anthropogene Erderwärmung – ist alles mögliche, nur gewiß eins nicht: eine Herausforderung. Herausforderungen gibt’s beim Sport. Die anthropogene Erderwärmung aber ist eine Katastrophe. Und mit Umstellung aufs Heizen mit Holzpellets, das sich allerorten wachsender Beliebtheit erfreut und eine Hauptursache für den vermehrten Holzeinschlag darstellen dürfte, ist diese Katastrophe gewiß nicht abzuwenden.
Leider habe ich viele Minuten, bis ich die Lichtquelle erreiche, Minuten, in denen mir durch den Kopf geht, was ich den Arbeitern an den Kopf werfen werde, Lassen Sie den Wald in Ruhe, Hauen Sie ab, Ich hab’s Oberkante Unterlippe mit dem Scheiß, Sind Sie mal langsam fertig? Der Wald ist nicht für Sie da, Gehen Sie woanders spielen. Natürlich werde ich von alledem nicht eine einzige Silbe äußern. Ich werde an dem Fahrzeug vorbeischleichen, ducken, schlucken, schlucken, wie ich noch immer alles geschluckt habe. Na bitte, geht doch.
Ein Kran, der vier Baumstämme auf einmal packen kann, schwebt bedrohlich in der Höhe, schwankt ruckartig, entläßt die Stämme mit Gepolter auf die Ladefläche des zwanzig Meter langen Schwerlasters. Eine einsame Person steht an einem Schaltpult, vertieft in die schwarze Magie der grollenden und heulenden Maschine. Den Rücken zu mir, den Blick zur nächsten Ladung erhoben, die gerade in die Höhe schwebt, sieht er mich nicht, sieht er nichts außer Hebeln, Stämmen, Stahlkrallen. Und hinter den Krallen, hinter dem schwebenden Licht, Dunkelheit. Und irgendwo da in der Dunkelheit, ein Läufer. Ich. Niemand paßt auf, niemand warnt vor Passanten. Was ist, wenn die Kralle nicht ordentlich zugepackt hat und ein Stamm herausrutscht? Mir auf den Schädel, in die Rippen, aufs Bein? Innerlich kochend, mache ich einen großen Umweg durch Unterholz. Der Laster füllt den Waldweg in voller Breite aus, da ist kein Vorbeikommen. Ich muß über den Böschungsgraben, durch Strauchwerk, über den Graben zurück auf den Weg. Wahrscheinlich hat mich niemand auch nur bemerkt. Geschweige denn auf mich aufgepaßt.
Diese Ernteungeheuer sind mir Symbol für gleich mehrere Mißstände der schönen neuen Welt, bespielen mehr als nur einen einzelnen neuralgischen Punkt, vereinen gleich mehrere Ärgernisse in sich. Da wäre zum einen: motorisierte Fahrzeuge, gleich welcher Art, sind mir ein Greuel. Zum zweiten: motorisierte Fahrzeuge im Wald sind mir erst recht ein Greuel. Weiter: durch Fahr- und insbesondere fahrbare Arbeitszeuge gehen die Wege kaputt, bis man nicht einmal mehr darauf stehen mag. Weiter: unsere Wälder sind zu bloßen Holzplantagen verkommen. Es gibt keine Natur mehr. Die sogenannte Natur ist eingezäunt, unter Schutz gestellt, als Streichelzoo isoliert; oder sie ist bewirtschaftet. gegängelt, gezähmt, diszipliniert, auf Ertrag gezüchtet. Nicht jede Ansammlung von Bäumen ist schon ein Wald. Mein Laufrevier ist ganz gewiß keiner. Schon seit Jahrhunderten nicht mehr. Mich macht das traurig und wütend.
Denn: das alles ist kein isoliertes Phänomen. Alles hängt mit allem zusammen. Daß ich nachher meine Lebenszeit verkaufen muß, um essen zu können, daß die Städte unbewohnbare, aber dafür befahrbare Werbeprospekte sind, daß der DHL-Bote von seinem sogenannten Mindestlohn nicht leben kann, daß Menschen viel Geld für eine zerrissene Jeans ausgeben, während anderswo Arbeiterinnen für ein paar Cent pro Stunde in 10-Stunden-Schichten sechs Tage die Woche Löcher in Jeans schneiden, daß Neukaufen billiger ist als Reparatur, daß Banken gerettet und Obdachlose ihrem Schicksal überlassen werden, daß es Plastikmüllberge und Massentierhaltung aber keine Milchmänner mehr gibt, daß die Wandertaube ausgerottet und das Payback-System erfunden wurde – das alles und noch viel, viel mehr hängt auch mit diesem verabscheuungswürdigen, Bäume fressenden, grollenden und stinkenden Ungeheuer zusammen, das ich jetzt endlich hinter mir lasse, während ich meine Runde beschließe.
Unbeeindruckt von all dem geht die Sonne auf.
[Turdus philomelos, Fringilla coelebs, Dendrocopos maior]