Sistig

„Hier“, rufe ich laut aus, „Genau hier!“, und stoße mit dem Zeigefinger mehrmals heftig auf einen Punkt auf der Wanderkarte, „Hier, verdammt.“
Ja, hier. Hier sollte ein Weg sein, aber da ist keiner, nicht einmal ein Wegchen, da ist nur Gegend. Und wieder einmal denke ich, daß die Karte ein Idealbild zeigt, hinter dem die spröde Wirklichkeit nur allzu oft in recht enttäuschender Weise zurückbleibt. Ein paar Zäune, die sich über eine Wiese ziehen; rechts ein Bachbett, da folgt die Wirklichkeit tatsächlich der Karte; etwas weiter weg Gestrüpp. Baumgruppen auf einem Hügel. Und jede Menge jener Weglosigkeit, für die es keine rechte Bezeichnung gibt, so eine Mischung aus Welk und Wüst, aus Dorn und Dickicht, Stein, Keim und Schlamm. Auch nicht das zugewachsene Überbleibsel eines seit Jahren nicht mehr benutzten Pfades ist zu sehen. Wenn es hier (hier!) mal so etwas wie einen Weg gegeben hat, dann muß das nicht Jahre, dann muß das Jahrzehnte her sein, nicht einmal die sonst für Wegmündungen typische Einbuchtung zeigt sich am Straßenrand. Gegenüber, richtig, da ist was, da führt ein Weg an einem Gehölzrand hoch, und laut Karte müßte dessen Verlängerung geradewegs … Ja, genau. Aber da ist nichts.
Ich sehe mich um. Oben auf dem Hügelkamm, den ich gerade herabkomme, kann ich die beiden Wanderinnen ausmachen, die ich vor einer halben Stunde an einem Parkplatz überholt habe. Wenn ich der Landstraße weiter folge, komme ich in den nächsten Ort, einen Weiler namens Sistig. Das wäre ein Umweg, und ich müßte durch den Ort laufen, was eigentlich immer unerfreulich ist, nicht nur bei Ortschaften, die Sistig heißen. Wenn ich zurückgehe bis zur letzten Kreuzung und dann einen Parallelweg nehme, latsche ich auf ausgetretenen Pfaden. Und dann mag ich heute niemandem begegnen und mich auf keinen Fall von den beiden überholten Frauen überholen lassen. Außerdem ist Umkehren Mist. Ganz großer Mist ist Umkehren. Nicht einmal die Wanderfreundin L., für die kein Plan der Welt unumstößliche Geltung hat, die ein wahrer Meister ist im Um-, Neu- und Andersplanen, – nicht einmal diese sonst so adaptive L. (das Wort flexibel ist geradezu für sie erfunden worden) geht ohne Not denselben Weg wieder zurück. Bei mir kommt zu diesem Unwillen, den ich vollends mit L. teile, noch hinzu, und hier unterscheiden wir uns diametral, daß ich gegen alles, was nicht nach dem einmal ausgeklügelten Plan läuft, eine vehemente Abneigung hege, wozu sich auch noch eine gewisse Halsstarrigkeit gesellt. In meinen Augen haben Landschaftsmerkmale wie Gehölze, Hecken, Wiesen, Felsen und eben auch Wege gefälligst ewig zu sein. Oder sich wenigstens an die Vorgaben der Karte zu halten. Wo kämen wir denn da hin, wenn die Landschaft einfach machte, was sie wollte? Wozu gibt’s Landschaftsämter? Ich werde stinksauer, wenn sich da was ändert im Gelände, wenn Bäume gefällt, Wiesen aufgeforstet, Hänge abgetragen, Ruderalflächen verbaut, Bäche gestaut oder umgeleitet, Seen trockengelegt werden. Oder eben Wege verschwinden. Und an diesem Tag ist das Maß ohnehin voll, denn das ist nun schon das dritte Mal, daß sich ein auf der Karte ausgewiesener Weg als veritable Wildnis entpuppt.
Das ist mir dann jedes mal, als würde mir der feste Grund unter den Wanderstiefeln weggezogen. Und in gewisser Weise stimmt das ja auch.
Die beiden Wanderinnen streben langsam den Hügel hinunter. In der Nähe jault eine Motorsäge. Über mir verlacht mich ein Eichelhäher.
Und da stehe ich nun mit meiner Säuernis. Umkehren kommt gar nicht in Frage. Ich knirsche mit den Zähnen, mache mit der Faust eine Geste des Unwillens – und sehe mich im nächsten Moment fluchend und gestikulierend einen uralten Zaun entlang mitten durchs Gelände stapfen, geradewegs hinein in Wüst und Welk. Und vor allem in Dickicht und Dorn.
Das wollen wir doch mal sehen!
Was wir sehen, zehn Minuten später, ist indes: Hier geht es nicht weiter. Denn zu dem ersten Zaun hat sich ein zweiter gesellt, und der läuft nicht längs, der läuft quer und versperrt mir den Weg. Ich klettere fluchend über den Stacheldraht und frage mich, was wohl andere Wanderkarten für diese Stelle ausweisen.
Bei späterer Befragung der einen oder anderen Karte jüngeren Datums ergibt sich: Auf allen ist der Weg, wie er in einem sanften Bogen immer etwa fünfzig Meter Abstand zum Bach haltend nach Norden zur nächsten Straße führt, als „unbefestigter Pfad“ eingezeichnet, und auch das Internet bestätigt seine Existenz – wenn auch die Satellitenaufnahmen keinen guten Wegzustand erkennen lassen. Bei gedruckten Karten könnte man zwar vermuten, daß jede neue Auflage die Geoinformationen aus der Vorgänger-Ausgabe übernimmt, da eine gründliche Neuvermessung viel zu teuer wäre. So kommt es auch, daß eine unweit von hier gelegene mehrere Hektar große waldfreie Fläche noch in Karten neueren Erscheinungsdatums als bewaldet dargestellt wird. Dabei läßt der Zustand der verbliebenen Stümpfe sowie die Höhe der nachgewachsenen Vegetation erkennen, daß der Einschlag viele Jahre her sein muß. Aber wie eine Internetkarte, die ihre Pflege fleißigen Nutzern und Geländegängern verdankt, mithin kaum mehr als Tage oder Monate, auf keinen Fall Jahrzehnte hinter der Aktualität zurückbleiben dürfte, hier noch einen Weg ausweisen kann, das ist mir ein Rätsel.
Während ich vor dichtem Schlehengestrüpp haltmache, umkehre, über zwei weitere Zäune klettere, bis zum Knöchel im Sumpf versinke, unter einem dritten Stacheldraht durchkrieche, begleitet mich der ungute Verdacht, daß vielleicht keine zwanzig Meter neben dieser vermatschten, versumpften, dornigen, zugewachsenen Weglosigkeit ein hübscher freundlicher Pfad entlangführt, den zu entdecken ich nur zu dämlich gewesen bin. Und mich verfolgt der Gedanke an den wütenden Bauern, dem ich gleich begegnen werde, und der mich anherrschen wird, was ich hier zu suchen habe. Den Weg, werde ich ungerührt erwidern, nehme ich mir vor, und ihm meine Karte unter die Kartoffelnase halten. Hier! Hier!!
Aber da ist gottlob kein Bauer. Nur Schlehen, Weiden und Brombeeren. Spuren von Rindviechern im Schlamm, das größte Rindvieh bist du selber, denke ich mir und gleite gleich noch einmal auf dem schlüpfrigen Grund aus. Einmal kracht es hinter mir von brechenden Zeigen und galoppierenden Hufen. Zu sehen ist nichts. Kein Rind, kein Reh. Nur Gebüsch, Gesträuch, Gestrüpp, das mit jedem weiteren Schritt mehr zusammenzurücken scheint. Ein gelbes Brombeerblatt streckt mir die kreiselnde Zunge raus. Ein Erdloch glotzt mich böse an. Ein Dorn zeigt auf mich, als würde er zielen. Und die ganze Zeit über das nervtötende Kreischen der Motorsäge.
Rüber zum Bach, rein in den Sumpf, wieder ein Stück trockenen Grund erreichen, vors Gebüsch, hinters Gebüsch, durchs Gebüsch hindurch, und einmal noch einen Stacheldraht überwinden, dann sehe ich voraus tatsächlich ein Stückchen Asphalt. Darauf schieben drei alte Herrschaften gemeinsam einen Rollator den Berg hinauf. Wo ein Rollator, da ein Weg, denkt man sich. Die Säge jault und jault, auf der Nachbarweide grasen Pferde, im letzten Moment wäre ich noch fast an einem fußangelartig ausgelegten Stück Draht hängengeblieben, gerade rechtzeitig hebe ich den Stiefel, stapfe mit Riesenschritten die letzten paar Meter und ziehe mich auf den Weg wie ein Schiffbrüchiger ans rettende Ufer. Die Herrschaften sehen argwöhnisch zu mir rüber, wo der wohl seinen Rollator gelassen hat, dann starten sie ihren eigenen neu und setzen ihren Weg fort. Ich sehe mich um: Vor mir ein Wegansatz, ein Wegstumpf aus Asphalt, der aussieht, als stochere jemand mit einem abgebrochenen Blindenstock im Feld. Vielleicht, ja vielleicht ist hier mal ein Durchkommen gewesen. Aber jetzt nicht mehr. Schon lange nicht mehr. So lange nicht mehr, daß es unbegreiflich ist, wie so etwas noch auf irgendeiner Karte, die jünger ist als ein Vierteljahrhundert, verzeichnet sein kann. Diese Karte ist eine einzige dreiste Behauptung. Ich packe das nutzlose Ding weg und stopfe mir ein Stück Schokolade in den Mund.
Dann trete ich mir seufzend die Erdklumpen von den Stiefeln, zupfe mir die Dornen aus der Jacke, rücke meine Mütze gerade, und nachdem ich dem Rollator noch mal zugewinkt habe, gehe ich meinerseits meiner Wege, entschlossen, fortan auf der Straße zu bleiben.
Immerhin mußte ich nicht nach Sistig rein.

Mitnotiert (26.3.2018, Heimerzheim–Brenig): einen Augenwinkel voll Huflattich; zwei Bachstelzen, so geschwind und unter den Augen wie ein Kartentrick; eine Lerche zieht sich an einer Drachenschnur aus Schall herauf; graubraunes Moos, rostende Benzinkanister gleich gestrandeten U-Booten, das schielende Auge von Wodkaflaschen, mehrfach überschriebene Dokumente von Plastiktüten, Fruchtgummiverpackungen, Kondombriefchen; Schilf und Binsen reiben die Finger gegeneinander, wo die Bauern ihre Schnurrbärte verloren haben; eine umgestürzte Weide treibt aus und streckt leuchtende Kätzchen über den schwarzen Waldboden, als begutachte eine eitle Frau ihre manikürten Nägel; Agrarwüsten bis zum Horizont, dort die finsteren Reihen von Waldrändern, gleich herannahenden Armeen; Leitern von Licht, Dunst und Staub über der Ebene, wo die Erde Verbindung zu Wolkenstationen aufnimmt, zu einem verlorenen Halt im Himmel.

Wie vergessener Schmuck in einer verschlossenen Schublade im dunkelsten Zimmer eines langsam verfallenden Hauses: so verstummen die Eulenrufe im Wald.

Mit schwarzen Schnäbeln hackt der Wind nach dem Schnee. Im Feld toben die Steine, wühlen sich durch den Acker, kratzen Narben in den Grund, jagen einander die höchstrangigen Stellen ab. Unter einem Himmel aus Eis schwimmt die Sonne im kahlen Pappelstrom davon.

Spuren und Nähte, Geflicktes und Wiederaufgebrochenes, aus den Wiesensäumen quillt die Füllung ans sumpfige Licht. Weiden knirschen mit den Zähnen. Schatten haben Schaum im Mundwinkel.

Wissenden Blicks wie Mumien kochen die Brombeeren Sonnenuntergänge ein in ihren hellen Grabkammern aus Wind.

Soll das nun heißen, Deutschland braucht den Islam? Oder, ohne den Islam würde Deutschland was fehlen? Oder, der Islam soll in Deutschland heimisch werden? Oder einfach konstatierend, daß er das bereits ist? Im letzten Fall müßte man sich nicht mehr das Maul verreißen, denn Behauptungen von Tatsachen lassen sich überprüfen, fertig.

Weiterhin: Was ist mit Deutschland überhaupt gemeint? Seine geographischen Grenzen? Seine Kultur und Sprache (aber welche Kultur ist das genau, und welche Dialekte, Soziolekte, Jargons und Slangs will man dazurechnen?) Oder ist Deutschland die Summe der Deutschen? Was es nicht leichter macht, denn was sind das überhaupt, die Deutschen?

Man könnte nun sagen, mit gehört zu ist gemeint, wie man landläufig sagt, Peter gehört doch auch mit zum Gartenverein, geäußert gegenüber Leuten, die Peter aus dem Verein raushaben wollen. Aber so einfach ist das nicht. Ein Nationalstaat ist kein Gartenverein, weswegen auch Gleichnisse der Art Die müssen sich hier wie Gäste benehmen barer Unsinn sind. Familien können Gäste haben, Freundeskreise, Vereine, Singgruppen können Gäste haben. Staaten können das nicht. Die Wortwahl zieht ungültige Parallelen und operiert im Großen mit Begriffen aus der Welt des Kleinen. Das kann nicht gutgehen.

Der Islam gehört nicht zu Deutschland. Das Christentum gehört nicht zu Deutschland. Die Anbetung des großen Spaghettimonsters gehört nicht zu Deutschland. Trekkies gehören nicht zu Deutschland. Helene-Fischer-Fans gehören nicht zu Deutschland. Ja, nicht einmal die Deutschen gehören zu Deutschland. Sie sind halt nunmal da. So wie Juden, Zeugen Jehovas, Buddhisten, Shintoisten, Sannyasin, Veganer und Ufologen einfach da sind.

Kurz gesagt: Der Satz: Der Islam gehört (nicht) zu Deutschland ist derart verkehrt, daß er nicht einmal falsch ist.

Statt über gehört zu und gehört nicht zu zu schwafeln, sollte man lieber einen Blick ins Grundgesetz werfen. Darin heißt es, Artikel 3, Absatz (3):

Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.

Und weiter, Artikel 4, Absatz (2):

Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet.

Und damit ist eigentlich schon alles gesagt.

Etwas anderes gehört sich nämlich nicht.

Eins der schwärzeren Szenarien für die Folgen der anthropogenen Erderwärmung ist einigen Experten zufolge, daß der Golfsstrom eines Tages versiegen und ganz Nord- und Mitteleuropa in ein Eiszeitalter gestürzt werden könnte.
Anderen Experten zufolge ist dieses Ereignis im Frühjahr 2018 bereits eingetreten.

Ich denke gerade, daß mich alles an Wirklichkeit, das sich nicht vollständig aus Büchern entnehmen läßt, im Grunde überfordert. Den unvermittelbaren, weil unbuchstabierbaren, Rest, den phantasiere ich mir lieber dazu, als ihn am eigenen Leib zu erfahren. Wenn Bücher schon gefährlich sind, wie sehr ist es erst die Realität?

Noch einmal zusammen aufwachen, zusammengefaßt von der späten Nacht zu einer einzigen schlaftrunkenen Seele. Das Dunkel weicht nicht von unter den Lidern, da kann man die Augen aufsperren wie man will. Es ist ein kostbarer Moment, und niemand weiß, wie lange er eigentlich dauert. Vielleicht dauert er auch gar nicht. Trotzdem erinnert man sich später daran. An den Schlafsproß, aus dem man hervorwuchs als zwei, an den noch fühlbaren Keim, fühlbar wie die Wärme in einer schon zurückgeschlagenen Decke, in dem man noch eines gewesen ist. Eben erst. Schon wach genug, um zu verstehen; nicht wach genug, um sich wieder zu verlieren. Wach genug, um zu wünschen, man wäre wieder da, woraus man sich gleich (ich mache das Radio aus, oder bist du es, die zuerst aus dem Bett sich wälzt? Wer greift nach der Brille? Wessen Hand ist es, die den Lichtschalter betätigt?) trennen muß. Wie schön war es, mich mit Deinen Lippen zu küssen. Das ist der Moment, wo Tastsinn und Ertastetes auseinanderfallen, wo Haut sich von Haut löst und einander vermißt, wo ein Faden ins Licht reißt, wo die Schlafblume sich selbst bestäubt –

– und erwacht. Einen Moment war es, als riefe der Schlaf uns zurück. Kaum wahrnehmbarer Vogelklang, der sich entfernt. Ein Tasten im Dunkel, zueinander hin. Doch in dieser Bewegung wird unser Zweisein als ihre Voraussetzung offenbar, und kaum daß das Radio angesprungen ist, fallen wir an der Saumnaht der Nacht auseinander. Ich kenne dich nicht mehr. Es sind nur meine Lippen, die die deinen küssen. Meine Hände halten, was von Fremd als Haut und Wärme nur zu ihnen strahlt. Das Radio dudelt. Im Haus geht eine Tür. Wie mühsam es ist, wieder zwei zu sein. Wie anstrengend, getrenntes Ich und Du zu sein, Hier und Dort, ein halbwaches Blinzeln mit einer halben Seele. Jedes mit seiner Hälfte aus Körper und Zeit, Zeit und Tag, Tag und Blick. Zwei, die sich getrennt zurechtfinden müssen, in Einzelheit auf dem Einzelnen von Dein und Mein. Unsere Träume, wir müssen sie einander wieder Wort für Wort buchstabieren. Was uns hielt, das trennt uns nun.

Und da springst du auch schon ins Bad, nackt, und nackt stehe ich am Herd und koche Kaffee, und beide Nacktheiten sind dort, wo sie sind, völlig fehl am Platz, sind roh wie Wurzeln, die man aus der Erde riß, und der Skandal, das ist dieser Morgen, dieses schamlose Auge, das uns so früh schon findet, unbeirrt.

Da habe ich neulich beim Buchhändler meines Vertrauens eine Gedichtsammlung eines obskuren spätmittelalterlichen Poeten per E-Mail zur Bestellung gegeben, auf dessen Namen ich auf einer Website gestoßen bin, deren Autor sich seit einiger Zeit mit der Übertragung der Gedichte besagten Dichters befaßt; ein paar Tage später bekomme ich zusammen mit der Auskunft, das Buch sei eingetroffen, den Hinweis, Herr Soundso, dessen Übersetzung eines großen Romans der abendländischen Literatur man auch im Sortiment habe, sei übrigens seit einiger Zeit mit Übersetzungen des namentlichen Dichters befaßt. – Und dazu schickt mir mein Buchhändler den Link eben der Seite, wo ich von dem Dichter zuallererst gelesen habe.
„Aber vermutlich wissen Sie das alles längst“, fügt mein Buchhändler in seiner Mail noch hinzu.

Die Welt ist klein, heißt es immer. Wenn das stimmt, dann sind bestimmte Bücherwelten ein Dorf.

Diggi

Morgens aufstehen müssen gehört ja generell nicht zu den beliebtesten Beschäftigung, selbst bei mir nicht, aber vom Wecker, na, nicht einfach nur geweckt, sondern durch die Nachrichten förmlich aus dem Bett geschubst zu werden, macht die Prozedur noch einmal unbeliebter. Gänzlich verhaßt wird die Sache aber durch eine moderne Masche des Radiosenders, die Nachrichten gern mal mit einem O-Tone beginnen zu lassen, als säßen wir hier im Kino. Da überschlägt sich dann etwa ein Sportreporter vor Begeisterung über die jüngste Goldmedaille im Teebeutelweitwurf; oder ein Herr Trump knödelt seine neueste Eingebung beim Stuhlgang in die Mikrophone; oder, so geschehen gestern, eine designierte Ministerin für Digitales verkündet in fränkischem Akzent, was die FDP schon beim letzten Wahlkampf sich nicht zu schade war als „Programm“ auszugeben: Digital first, Bedenken second.

Da kann man auch gleich im Bett bleiben, wenn man so etwas schon zu früher Stunde um die Ohren gehauen kriegt. Cui bono? Digitalisierung für wen? Ich höre schon wieder meinen Lieblingssatz im Hintergrund leise mitsummen: Um den Herausforderungen der Digitalisierung besser begegnen zu können … Da wird so getan, als sei die Digitalisierung eine Naturkatastrophe, die unaufhaltsam über uns hinwegrollen wird. Da kann man sich nur noch wappnen. Nix zu machen. Zieht euch warm an.

Die Digitalisierung, die Globalisierung und so manche andere -isierung, sie alle sind Menschenwerk und von Menschen gewollt. Nicht von mir. Von Ihnen vielleicht auch nicht. Aber von genau denen, die sich was davon versprechen. Und die Macht haben, es durchzusetzen. Und wie bei jeder -isierung sollte man auch bei der Digitalisierung ganz genau hinschauen und diejenigen identifizieren, die sich etwas davon versprechen – und auch klarstellen, was man sich dort davon verspricht. (Im allgemeinen ist das nicht schwierig: Geld und Macht, natürlich)

Es gäbe sicher eine Menge zu tun für Frau Bär. Zum Beispiel den flächendeckenden Ausbau eines schnellen Internets; oder die Einzementierung der Netzneutralität. Oder gesetzliche Vorgaben für einen strengen Datenschutz. Worauf es aber eher hinauslaufen wird, darüber kann man hier und hier zu ersten Vermutungen gelangen. Mir jedenfalls graut vor dem Tag, ab dem ich meine Behördengänge nur noch mit Smartphone erledigen kann.

Es ist ein Meisterstück der Suggestion, die Zukunft als etwas aussehen zu lassen, das nicht gestaltbar ist, etwas, auf das man nur noch reagieren, das aber niemand ändern oder in andere Bahnen lenken kann. Die Zukunft beginnt heute, und sie beginnt bei jedem einzelnen. Sie wird verwirklicht mit jeder Kaufentscheidung, mit jedem Suchbegriff, mit jedem Download, mit jedem Blick aufs Schächtelchen. Sie beginnt mit einer Frage:

Will ich das überhaupt? Sollte ich nicht einfach mal den Wecker aus dem Fenster werfen und ausschlafen?

Das Rad der Zeit nicht zurückdrehen, aber es nun selbst in die Hand nehmen, lese ich hier, und genau das scheint es mir zu sein.

Fensterkreuz

Im Traum in zwei Frauen verliebt gewesen. Den darin liegenden Zwiestreit als nur vermeintlichen Widerspruch entlarvt, indem ich die beiden Gefühle als ein einziges auffaßte und auch als ein einziges annahm, statt es nach der einen oder anderen Seite ebenso vermeintlich eindeutig machen zu wollen, wie es ja gar nicht zweideutig war, galt es doch in klarer Weise und völlig unzweideutig beiden Frauen (jeder für sich). Ein Gefühl, träumte ich weiter, ist ein Gefühl ist ein Gefühl; es kann nicht mit sich selbst in Widerspruch geraten; es kann nicht einmal zwei sein. Nur seine Deutungen können das, seine lebens- und liebespraktischen Konsequenzen.

Fensterkreuz

Fast vom Vogelgesang aufgeweckt worden; diesmal war es noch der Wecker, der dem Amselmännchen zuvorkam; morgen wird es vielleicht schon umgekehrt sein. Um sechs ist es jetzt schon dämmrig, setzt das Fensterkreuz ein Tageszeichen an die Wand. Seit Sonntag die dünne Decke; ein bißchen schade ist es um das Federbett, in dem die leichte Daune zu fühlbarer Schwere sich sammelt; doch solche Üppigkeit war schon während der Frostnächte zu warm. Winter, in denen man ohne Daune nicht mehr auskäme, die gibt es wohl endgültig nicht mehr.

Es sei denn, man schliefe im Zelt. Bei der letzten Übernachtung im Wald, Anfang November in der Hocheifel, kam nachts der Frost und raubte den Schlaf. Ich sehe ein, daß ich für zukünftige Winterwanderungen einen wärmeren Schlafsack brauche. Komfortbereich bis minus fünf Grad, das sollte es schon sein. In den Tallagen der Mittelgebirge kann schon mal recht schattig werden im Winter.

Neulich bei einem großen Supplier für Draußensachen in der CCAA Schlafsäcke befühlt. Glänzendes Polyester-Außenmaterial, Mumienform, man hat gleich die schummrige Enge im Innern von Expeditionszelten vor Augen, einen Reinhold oder einen Peter, während draußen der Orkan ums Lager VI kreischt. Von einem solchen Abenteuer, scheint es, trennen einen nur 400 Euro. In der gesteppten Hülle ein Nichts von Daune, man glaubt nicht, daß das wärmen soll, Grenzbereich bis minus 16, nunja, Grenzbereich, das bedeutet wohl, daß man nicht sofort erfriert, sondern erst nach ein paar Stunden. Zum Glück kommt jetzt erst mal der Sommer, sonst hätte ich mir das gute Stück wahrscheinlich gleich gekauft.

Eigentlich waren wir aber wegen einer ganz anderen Sache da. Der junge Mann plant nämlich eine Weltreise, und dazu braucht er Stock und Hut, oder vielmehr: Schuhe und Rucksack; und ein paar weitere Kleinigkeiten. Eine Hängematte hat er sich gekauft; und einen mit Holz zu befeuernden Kocher; weil: Holz gibt’s ja überall, aber Benzin nicht, von Gas zu schweigen. „Und wenn ich dann mal irgendwo im Urwald …“ – Der junge Mann ist in seinem ganzen Leben nicht über das IJsselmeer hinausgekommen. Den Plan, ohne Schlafsack loszuziehen hat ihm seine Mutter zum Glück vehement ausgeredet. Im übrigen lasse ich ihm seine Träume; er muß selbst herausfinden, was funktioniert und was nicht.

So ein Supplier von Draußensachen hat von jeher auf mich eine merkwürdige Faszination ausgeübt. Die stabilen Messer, der High-Tech-Zeltstoff, die Ultra-Lightweight-Kaffeekanne, die noch leichtere Isomatte, dazu Packleinen und -taschen, Rucksäcke für den Einsatz von Antarktika bis nach Labrador, Schlafsäcke, Stiefel, Zeltschlafanzug, Kocher, Anzünder, Schleifstein, Gaskartuschen, Buschmesser, Bananenschachteln, Stiefelwärmer, Funktionsschnürsenkel, Outdoorzahnbürsten und frostfeste Zahnpasta, Zecken-Repellent und Läusekamm, Klappspaten und Drainagefolie, Pinkelhilfe und Menstruationsbecher für Frauen, solar betriebene Rasierer für Männer, und das alles so leicht, daß man meint, die Einzelgewichte müßten sich ja zwangsläufig gegenseitig aufheben. Wenn man so ein Zelt aufgebaut sieht, in den gemütlichen Innenraum späht, das Päckchen zusammengefaltet in der Hand wiegt, dann denkt man sich wirklich, na, damit ist das Wandern und Draußenschlafen ein Kinderspiel. Mit so einem Zelt hast du doch quasi dein Wohnzimmer mit dabei. Und genau das ist der Plan: die Natur, die kalte, windige, klamme, regnerische oder brennend-heiße Natur, in der es von stechenden und saugenden Tieren nur so wimmelt, Schuhe nachts nicht richtig trocknen, Füße Blasen kriegen, Sand in Ohren, Nase und Poritze eindringt, Wind nachts im Kragen fingert, die Hände steif und die Füße eisig sind, und wo es im Zelt nicht nach feinem Damenparfum, sondern nach verschwitzten Wandersocken riecht – diese Natur ein für allemal so in den Griff zu kriegen, daß die Freuden des Wanderns (eindrucksvoll und durchaus verlockend dargestellt auf entsprechenden Werbeplakaten: ein einsames Zelt auf einer Klippe vor phänomenaler Weitsicht hinunter in ein menschenleeres Fjäll im Sonnenuntergang, davor leichtbekleidete, schöne Menschen mit Teebecher in der Hand, die aussehen, als wüßten sie gar nicht, wie frieren geht, während sich die Abendsonne in der leuchtenden Augen spiegelt und das Zelt Abenteuer ganz anderer Art verheißt, für die es auf dem Fjäll weit und breit keine Zeugen gibt) – daß solche Freuden des Wanderns ein für allemal ohne die Mißlichkeiten wie stinkende Unterwäsche, Nässe und schlaflose Kälte zu haben sind. Das ist das Versprechen. Das andere Versprechen, und damit machen Handelsketten wie die in der CCAA ihr eigentliches Geld, ist an all die gerichtet, die ihre himalayataugliche wind- und wasserdichte Ultraproof-Daunenjacke mit dem neuen QZX-1-breathable-active-System (von 1500 auf 900 heruntergesetzt, ein Schnäppchen!) für nicht mehr als den Gassigang mit dem Zwergpinscher brauchen. Das Versprechen lautet: Mit dieser wasserdichten Ultraproof-Daunenjacke mit dem neuen QZX-1-breathable-active-System bist auch du, Helmut Wackenröder aus der Rechnungsabteilung, und du Erna Schümpel-Lindholz aus der Abteilung Einkauf, ein Abenteurer. Und sei’s auch nur für die Strecke bis zum Zigarettenautomaten.

Während der junge Mann Rucksäcke ausprobiert und sich von der Fachkraft beraten läßt, erlaube ich mir einen Moment der Reflexion und versetze mich in seine Lage. Ich versuche, mir vorzustellen, wie das jetzt wäre, mir eine solche Reise vorgenommen zu haben, und fühle eine immense Erleichterung darüber, daß ich das nicht mehr muß: Abenteuer bestehen. Fast habe ich Mitleid mit dem jungen Mann. Was für eine Last, jung zu sein! Wohl weiß ich, daß sich das einmal anders anfühlte, aber ich weiß es nur im Kopf, nicht mit dem Herzen. Ich kann die Erregung nicht mehr nachfühlen, kann mich an die Gewißheit eigener Stärke nicht mehr erinnern, und auch nicht an die Freude, die darin lag, aufzubrechen. Nur die Angst, nicht zu wissen, wo man am nächsten Tag schlafen wird, die ist präsent, die weiß ich noch, und nichts könnte weniger verlockend sein.„Bloß keine Herausforderungen!“ ist mir neulich am Telephon herausgeplatzt, und über meine eigene Heftigkeit habe ich selber gestaunt.

Meine Abenteuer finden auf dem Schreibtisch statt, das ist mir Herausforderung genug. Und mit diesem Stichwort wälze ich mich endlich aus dem Bett, es ist doch schon hell!, setze den Wasserkessel aufs Feuer und schalte den Rechner an. An die Arbeit, an die Arbeit, weiter im Text!

Im Märzen der Holzfäller …

Und tatsächlich! Flutlicht auf dem Weg, ein unbewegliches Scheinwerferpaar, irgendwo in nicht zu bestimmender Entfernung auf dem dämmrigen Waldweg. Ein drittes Licht schwebt über den zweien, schwankt, erlischt, leuchtet wieder auf. Natürlich, ein Holzernter. Was sonst. Das mußte ja einmal passieren. Nun, nach wochenlangen Ausweichmanövern durch den angstvoll nach Maschinengeräuschen abgelauschten Wald, ist es nun endlich soweit, und ich gerate mitten hinein. Was hab ich es satt! Zerpflügte Wege, Lichtspektakel, Gejaule von Motorsägen, Gerassel von Kettenfahrzeugen, große Areale Walds niedergemäht, manche Orte bis zur Unkenntlichkeit zerbombt, zersägt, versumpft, verschandelt. Seit Oktober geht das jetzt so. Das ist kein Wald, das ist eine Fabrik.

Natürlich stoßen hier komplett inkompatible Auffassungen, was ein Wald sei und welchem Zweck (oder ob überhaupt einem) er diene, aufeinander. Für mich ist der Wald ein Refugium, eine Oase des Normalen und Natürlichen in einer Wüste des Uneigentlichen, ein Stück Heimat inmitten von Entfremdung. Was ich von ihm verstehen kann, will ich verstehen, seine Geheimnisse wünsche ich mir unangetastet von mir oder anderen. Seine Stille tut mir gut, seine Räume, sein großer, ruhiger Atem beschwichtigen mich. Wälder waren immer da, ob ich sie aufsuchte, an sie dachte, mich nach ihnen sehnte, oder nicht. Von frühester Kindheit an bin ich im Wald gewesen. Ich habe vom Wald gegessen, ich habe im Wald geschlafen, ich habe im Wald geliebt. Ich weiß nur sehr wenig über den Wald, aber das wenige genügt mir. Mir genügt, daß sich der Wald selbst genügt. Er braucht mich nicht, und das ist gut.
Für sie aber, die hier Holz ernten, ist der Wald etwas ganz anderes, nämlich eine Plantage, eine Investition, eine Fabrik, ein Wirtschaftsfaktor.

„Um den Herausforderungen des Klimawandels zu begegnen …“, lese ich in einer Broschüre, die von den Forstämtern NRW herausgegeben wird und dazu ersonnen wurde, mir und anderen besorgten Spaziergängern den Holzeinschlag schmackhaft zu machen. Die Antwort, die mir bei solchen und ähnlichen Sätzen in immer gleicher Form auf die Zunge springt ist: Ach, und warum gibt es den Klimawandel? In meinen Augen ist der Klimawandel keine gute Begründung für irgendwas. Er ist eine Folge von Mißständen, die ihrerseits angeprangert und schnellstmöglich ausgemerzt werden müssen. Schon die Wortwahl nervt. Der Klimawandel – oder, um es beim Namen zu nennen, die anthropogene Erderwärmung – ist alles mögliche, nur gewiß eins nicht: eine Herausforderung. Herausforderungen gibt’s beim Sport. Die anthropogene Erderwärmung aber ist eine Katastrophe. Und mit Umstellung aufs Heizen mit Holzpellets, das sich allerorten wachsender Beliebtheit erfreut und eine Hauptursache für den vermehrten Holzeinschlag darstellen dürfte, ist diese Katastrophe gewiß nicht abzuwenden.

Leider habe ich viele Minuten, bis ich die Lichtquelle erreiche, Minuten, in denen mir durch den Kopf geht, was ich den Arbeitern an den Kopf werfen werde, Lassen Sie den Wald in Ruhe, Hauen Sie ab, Ich hab’s Oberkante Unterlippe mit dem Scheiß, Sind Sie mal langsam fertig? Der Wald ist nicht für Sie da, Gehen Sie woanders spielen. Natürlich werde ich von alledem nicht eine einzige Silbe äußern. Ich werde an dem Fahrzeug vorbeischleichen, ducken, schlucken, schlucken, wie ich noch immer alles geschluckt habe. Na bitte, geht doch.

Ein Kran, der vier Baumstämme auf einmal packen kann, schwebt bedrohlich in der Höhe, schwankt ruckartig, entläßt die Stämme mit Gepolter auf die Ladefläche des zwanzig Meter langen Schwerlasters. Eine einsame Person steht an einem Schaltpult, vertieft in die schwarze Magie der grollenden und heulenden Maschine. Den Rücken zu mir, den Blick zur nächsten Ladung erhoben, die gerade in die Höhe schwebt, sieht er mich nicht, sieht er nichts außer Hebeln, Stämmen, Stahlkrallen. Und hinter den Krallen, hinter dem schwebenden Licht, Dunkelheit. Und irgendwo da in der Dunkelheit, ein Läufer. Ich. Niemand paßt auf, niemand warnt vor Passanten. Was ist, wenn die Kralle nicht ordentlich zugepackt hat und ein Stamm herausrutscht? Mir auf den Schädel, in die Rippen, aufs Bein? Innerlich kochend, mache ich einen großen Umweg durch Unterholz. Der Laster füllt den Waldweg in voller Breite aus, da ist kein Vorbeikommen. Ich muß über den Böschungsgraben, durch Strauchwerk, über den Graben zurück auf den Weg. Wahrscheinlich hat mich niemand auch nur bemerkt. Geschweige denn auf mich aufgepaßt.

Diese Ernteungeheuer sind mir Symbol für gleich mehrere Mißstände der schönen neuen Welt, bespielen mehr als nur einen einzelnen neuralgischen Punkt, vereinen gleich mehrere Ärgernisse in sich. Da wäre zum einen: motorisierte Fahrzeuge, gleich welcher Art, sind mir ein Greuel. Zum zweiten: motorisierte Fahrzeuge im Wald sind mir erst recht ein Greuel. Weiter: durch Fahr- und insbesondere fahrbare Arbeitszeuge gehen die Wege kaputt, bis man nicht einmal mehr darauf stehen mag. Weiter: unsere Wälder sind zu bloßen Holzplantagen verkommen. Es gibt keine Natur mehr. Die sogenannte Natur ist eingezäunt, unter Schutz gestellt, als Streichelzoo isoliert; oder sie ist bewirtschaftet. gegängelt, gezähmt, diszipliniert, auf Ertrag gezüchtet. Nicht jede Ansammlung von Bäumen ist schon ein Wald. Mein Laufrevier ist ganz gewiß keiner. Schon seit Jahrhunderten nicht mehr. Mich macht das traurig und wütend.

Denn: das alles ist kein isoliertes Phänomen. Alles hängt mit allem zusammen. Daß ich nachher meine Lebenszeit verkaufen muß, um essen zu können, daß die Städte unbewohnbare, aber dafür befahrbare Werbeprospekte sind, daß der DHL-Bote von seinem sogenannten Mindestlohn nicht leben kann, daß Menschen viel Geld für eine zerrissene Jeans ausgeben, während anderswo Arbeiterinnen für ein paar Cent pro Stunde in 10-Stunden-Schichten sechs Tage die Woche Löcher in Jeans schneiden, daß Neukaufen billiger ist als Reparatur, daß Banken gerettet und Obdachlose ihrem Schicksal überlassen werden, daß es Plastikmüllberge und Massentierhaltung aber keine Milchmänner mehr gibt, daß die Wandertaube ausgerottet und das Payback-System erfunden wurde – das alles und noch viel, viel mehr hängt auch mit diesem verabscheuungswürdigen, Bäume fressenden, grollenden und stinkenden Ungeheuer zusammen, das ich jetzt endlich hinter mir lasse, während ich meine Runde beschließe.

Unbeeindruckt von all dem geht die Sonne auf.

[Turdus philomelos, Fringilla coelebs, Dendrocopos maior]

Misanthropisches Gebrabbel vom 28. Februar 2018

Man muß sich nur einmal vorstellen, es hätte anstelle des Rauchverbots in Gaststätten und öffentlichen Gebäuden eine blaue Plakette für schadstoffarme Zigaretten gegeben: Und schon geht einem die ganze Absurdität in all ihrer Pracht auf.

Schon jetzt haben wir eine Plakette an der Windschutzscheibe. Hat sich dadurch was geändert? Na sicher doch! Eine unvermindert große Anzahl von Fahrzeugen quält die Innenstädte – nur jetzt mit Grün verziert. Was also würde die blaue Plakette bringen? Die Fahrzeuge, die jetzt für miese Luft sorgen, würden das in Zukunft weiterhin tun, nur eben unter dem Schutz einer blauen Plakette.

Es gibt kein sauberes Auto, vergessen Sie das.

Man könnte manchmal Schaum vor dem Mund kriegen. Als selbst ein harter 12-km-Lauf mein Mütchen nicht zu kühlen verstand, einer liebe Freundin geschrieben, sie möge mich doch bitte mal von der Nummer runterholen, das sei ja schrecklich. Es gibt Tage, da kann mich ein zu lautes Zeitungsgeraschel in der Straßenbahnauf Mordgedanken bringen. Gestern waren es die knurpsenden Kaugeräusche einer Mitpassagierin in einem zwanzig Minuten verspäteten Zug, letzteres ein Umstand, der auch nicht eben zur Aufheiterung beitrug. Sie finden das misanthropisch? Da sollten Sie mich mal erleben, wenn ich richtig schlechte Laune habe.

Ausgebremst, denke ich und fluche in meinen Mantelkragen, ausgebremst. Es ist dieses ständige Auf-Hindernisse-Knallen. Von Dingen, die kaputt gehen, über Geräte, die noch nie wirklich funktioniert haben, über menschliche Schlamperei bis hin zu dem Irrwitz, wie er täglich in den Nachrichten manifest wird. Kaum glaubt man, die innere Ruhe endlich errungen zu haben, trötet einen der nächste dämliche Satz in irgendeinem Nachrichtensender nieder. Oder eine Verspätungsdurchsage der DB, was inhaltlich kaum besser, sprachlich und intonatorisch jedoch viel schlechter ist. Information zu? RB. 48! Von? Wuppertal-Vohlwinkel. Nach? Köln Hbf. Planmäßige Abfahrt? 12:28. Heute zirka fünf Minuten später? Woher soll ich das wissen, das sollten Sie mir sagen! Das Rauchen ist nur in den gekennzeichneten Raucherbereichen gestattet. Achso, in den anderen Raucherbereichen ist es also verboten?

Über solche Schludrigkeiten (laßt die Durchsagen bitte von einem Schauspieler oder einer Schauspielerin einsprechen, liebe Verantwortliche bei der DB!) können mich für Minuten aus meiner mühsam errungenen Konzentration kegeln. Ganz zu schweigen von dem in letzter Zeit überhandnehmenden Gequatsche im Zug. Durchsage folgt auf Durchsage. Der eine Bahnhof wird ab-, der nächste angesagt. Ferner wird wiederholt darauf hingewiesen, in welchem Zug man sitzt, wohin der fährt, woher er kommt, und auf welcher Seite (in Fahrtrichtung) man aus dem Zug fallen kann, wenn man das möchte. Dann wird vor der Videoüberwachungsanlage gewarnt, dann davor, daß die Trittstufen nicht ausgefahren werden, und zu guter letzt soll man beim Aussteigen bitte an sein Gepäck denken. Würde man ja gern. Wenn einen nur die ständigen Durchsagen nicht so konfus machten. (Wie wäre es noch mit Durchsagen zu Sehenswürdigkeiten auf der Strecke? Verehrte Fahrgäste, soeben fahren wir über die Hohenzollernbrücke. Die große, schwarze Kirche in Fahrtrichtung links ist der Kölner Dom. In Fahrt- wie in Gegenfahrtrichtung liegt unter uns der Rhein. Ausstieg bitte in Fahrtrichtung links. Denken Sie beim Aussteigen bitte daran, Ihre persönlichen Gegenstände mitzunehmen. Vielen Dank!

Zuviel Gequatsche in der Welt. Ist es beim Gulliver, wo ein Land beschrieben wird, in dem ein weiser König einmal die Sprache abschaffen wollte und anordnete, statt mit Wörtern auf die Dinge, sollten die Leute die Dinge selbst zeigen? In der damaligen Deutschstunde sagte ein sehr kluges Mädchen, vielleicht würde man sich in einem solchen Königreich besser überlegen, was man sagt und ob es überhaupt wichtig genug ist, es zu sagen. Von dieser jungen Frau, fällt mir eben ein, habe ich heute nacht geträumt. Ich sah sie nur; sagen wollte sie nichts, nicht einmal in meinem Traum.

Denk an was Schönes, riet die Freundin übrigens. Das tue ich. An was, wird hier nicht verraten.

[Antonín Dvořák, Slawische Tänze]