Wach mit Bach. Nein, so wollte ich diesen Tag und diese Notate eigentlich nicht beginnen. Ich bin erstaunt, was für ein fleißiger Wiederverwerter der Großmeister des Barock gewesen ist. Nach ein paar Takten des Stücks, Solo-Orgel, deren ununterbrochene 16tel-Kette von gelegentlichen Trompeten- und Streichereinwürfen unterstützt wird, und die Verfremdung ist so groß, daß ich bis weit über die Hälfte der Spielzeit brauche, um herauszufinden, woher ich das Stück kenne. Da gibt es nämlich eine Sonate für Violine solo (Partita E-Dur, BWV 1006), die ich aber zuerst in einer Bearbeitung für Laute (BWV 1006a), vorgetragen auf einer Gitarre (von Sharon Isbin, 2002), kennengelernt habe; und was die Orgel hier vorträgt, klingt ganz verdächtig nach genau diesem Stück, von dem sich später herausstellt, daß es die einleitende Sinfonia zur Kantate Wir danken dir, Gott, wir danken dir (BWV 29) ist.
In jenem Sommer warb ich mit halbem Herzen um eine Frau, die mir T. C. Boyles Wassermusik zur Lektüre empfahl, und mit dem anderen halben Herzen fuhr ich nach der südlichen Stadt B. und besuchte dort meine Freundin. Ein in seiner seltsamen Teilung ganz und gar heiler Sommer. Es war gut, aussichtslos um jene Frau zu werben, und es war gut, halbherzig meine Freundin zu besuchen. Aus dem einen wurde nichts, das andere löste sich auf; was blieb, war die wunderschöne Musik und die bittersüße Erinnerung, die sie mir in der Version für Laute bis heute vermittelt. Es ist nicht immer schlimm, aussichtslos zu werben. Manchmal tut man es um des Werbens willen. Es ist auch nicht schlimm, wenn Dinge aufhören, die ihre schöne Zeit gehabt haben. Man kann nichts zwingen. Etwas zu wollen ist aber manchmal schon das schönste, was man haben kann. Eine Zuwendung und Richtung, die dem Dasein einen Sinn verleiht, und sei es auch nur ein vorübergehender. Es ist manchmal gut, ja zu sagen, auch wenn man keine Antwort bekommt. Wenn ich die Musik höre, denke ich unwillkürlich an eine hochgewachsene Pappel in einem Schwimmbad, an das meeresartige Rauschen der Blätter und das Steigen und Fallen des silbrigen Windes in der Krone. Fast grolle ich dem Meister, daß er das Stück etwas effekthascherisch in seiner Kantate verwurstet hat, denn so, mit den Trompeten und den Streichern, die wie anfeuernde Rufe dazwischenfunken, hat das Stück einen ganz anderen Charakter, ist die ganze strenge Melancholie verflogen.
Zeiten und Zeitpunkte. Momente und der richtige Moment. Es gibt für alles den rechten Moment, aber nicht nicht den rechten Moment für alles. Diese richtigen Momente können einer den andern ausschließen oder einander bedingen. Eine Kette von Ereignissen und Entscheidungen führt auf meiner Seite der Geschichte in jenen Sommer hinauf; eine andere Kette auf der Seite von O., in die ich damals mit halbem Herzen verliebt war, bis zu jenem Moment, da wir uns einmal im Treppenhaus eines Unigebäudes begegneten und eine Stunde blieben und Kaffee tranken. Ich, auf der Treppe sitzend, Sie, auf der Fensterbank hockend, rauchend, ich sehe ihre Silhouette immer noch vor mir. Sie sagte mir, daß sie nicht gerne reise. Ihr Haar, Strähnen hatten sich aus dem Knoten gelöst, leuchtete wuschelig im Gegenlicht um ihren verschatteten Kopf. Ich behauptete, daß ich schon immer gern unterwegs gewesen sei; was nicht stimmte, nur wußte ich es da noch nicht. Sie war verpartnert, ich war verpartnert, beide in Fernbeziehungen, ideal eigentlich, aber in dieser Geschichte war es nicht hilfreich. Und wer weiß. Wahrscheinlich hätte ich nicht den Mut für eine Affäre gehabt, damals noch nicht. O. strahlte eine Matter-of-Fact-Leidenschaft aus. Ich nehme mir, was ich will, aber es gibt klare Grenzen für das, was ich will. Das meiste will ich nämlich nicht. Man konnte nicht von Reserviertheit sprechen, nur von Entschiedenheit, eine Entschiedenheit, die indes nicht mit Begriffen von Moral faßbar war. Ebenso wie sie nicht gern reiste, lehnte sie Tschaikowski vehement ab und jubelte Mozart ebenso vehement zu. Wenn ihr etwas nicht gefiel. gefiel es ihr absolut nicht, wobei sie eine begeisterte Schimpferin war. Einmal hatte jemand für unseren Literaturkreis den Vorschlag gemacht, Saramagos Stadt der Blinden zu lesen. O. fing das Buch an, es genügten ihr ein paar Seiten, um es in Bausch und Bogen zurückzuweisen. So etwas lese sie nicht, das sei ekelhaft. Wenn wir beschlössen, uns dieses Buch vorzunehmen, steige sie aus. — Wir lasen dann was anderes. O. war ganz oder gar nicht, aber nicht, weil das ihre Devise gewesen wäre, sondern weil sie eben so war. Ich dagegen habe damals wie heute Devisen gebraucht, um überhaupt etwas oder jemand zu sein.
Wach bin ich unterdessen auch mit Bach nicht geworden, und jemand zu sein fällt an einem so trüben Tag besonders schwer. Am liebsten wäre man einfach niemand. Man wäre der Nieselregen, unterschiede sich nicht von den Wolken, wäre die traurige Amsel selbst und der Anblick der Amsel zugleich. Man hätte Hände aus Wind und Zehen aus Regenpfützen und eine Stirn aus weichen, kühlen Ackerschollen.
Acht Uhr und noch immer nicht richtig hell. Mit Mühe löse ich den Blick von den stattlichen Pappeln, in deren silbrigem Springbrunnensäulen er sich zuletzt verloren hat, und kehre aus dem Sommer längst vergangener Tage in dieses heutige Winterzimmer zurück, wo man wohl oder übel seinen Tag beginnen muß, und wo im Radio der Moderator gerade das nächste Stück ansagt, etwas Heiteres, Beschwingtes und durch und durch Zuversichtliches, einen Sinfoniesatz von Mozart.