Daß es immer dunkler wird, merke ich inzwischen nicht mehr beim Loslaufen sondern beim Heimkommen. Sieben Uhr und immer noch dämmrig. Dieselbe Stunde, die im Sommer voller Leben war, fühlt sich jetzt desolat an. Selbst die Mitternacht im Juni, scheint es, ist nicht so finster wie fünf oder sechs Uhr früh Ende September. Von Mittwinter zu schweigen, wo im Grunde selbst der Mittag nur eine kurze Pause zwischen zwei langen Mitternachten ist. Was noch lebt, schenkt sich her, taumelt einer letzten Sonne entgegen, verausgabt die letzten Flügelschläge, gibt sich hin, einer Straßenlaterne, einem Autoscheinwerfer, der Stirnlampe. Als risse für einen Moment die Struktur des Dunkels entzwei, zerschlitzt an einer winzigen Naht von einem sterbenden Falterflügel.
Dann ist es aber nicht die Morgendämmerung, die das erste Licht an den wolkenverhangenen Himmel wirft, sondern der gelbliche Streif im Norden stammt von den Lichtern der Raffinerie in Wesseling. Zurückgeworfen von den tiefhängenden Wolken, sieht das Licht aus, als regne dort Schwefel herab. Ausgerechnet in diesem Moment heult eine Feuerwehrsirene los. Alle Lichter der Ebene scheinen schockstarr stehen zu bleiben. Nur eine Ampel wechselt noch von rot auf grün, aber niemand fährt. Nach ein paar Minuten, die Sirene ist eben verstummt, ertönen die Signalhörner von Einsatzwagen. Das Dunkel verformt die Wahrnehmung. Es scheint, als könnten echte Katastrophen nur in der Morgendämmerung stattfinden.
Losgehen in Dunkelheit, steifbeinig vor Schlafmangel im Schein der Stirnlampe über die Blöcke eines Moränendamms staksen, während voraus, wie dümpelnd in einer See aus Finsternis, sich die Kette der übrigen Lampen den Gletscher hinaufzieht, manchmal hört man das Klappern eines Pickels, das Rieseln von Eis; oder den Reißverschluß des Zeltes aufziehen, hinausleuchten, geblendet vom Widerschein der Lampe auf den Atemwölkchen; es scheint, als müsse jegliche Helligkeit aus dem Zelt in die Nacht ausfließen und für immer entweichen; oder mit dem Fahrrad unter eiskaltem Sternenhimmel über die Feldwege zur Arbeit, links die Kammlinie der Berge, durch den Saum eines schwachen Schimmers vom Himmel abgesetzte Massen, als drängelten sich dahinter Sterne, begierig, nach oben zu kommen. Bei Dunkelheit aufbrechen hat etwas Befreiendes, es ist, als bekäme man endlich etwas zu tun, ein Mittel in die Hand gegen die Dunkelheit; als können man das Licht herbeilaufen. In der Dunkelheit anzukommen ist dagegen niederschmetternd.
Die kolossale Wucht totaler Dunkelheit, wann erfährt man die noch? Die Hand nicht mehr vor Augen sehen – für die meisten von uns ist das eine leere Phrase, die keinerlei Erfahrung aufruft. Das dunkelste, was der städtebewohnende Mensch erlebt, ist der Kinosaal zwischen dem Erlöschen des Lichts und dem Beginn des Films. Und in einer Vorortstraße denkt man, das ist jetzt dunkel, dabei kann man höchstens den Himmel meinen, oder daß halt nacht ist, denn dunkel ist es keineswegs. Und dann verläßt man den Strahlungsbereich der letzten Laterne und biegt auf den Feldweg ein und denkt, na, jetzt ist es aber dunkel. Dunkel ist es aber immer noch nicht. Streulicht schwappt aus den besiedelten und ausgeleuchteten Zonen bis ins Feld, wird von den Wolken zurückgeworfen, pflanzt sich in Dunst fort, mogelt sich an unterschiedlich dichten Luftschichten entlang. Wirklich dunkel wird es erst unterm geschlossenen Kronendach des Waldes.
Seltsam, daß ich nie von Dunkelheit träume. Es gibt Menschen, bei denen brennt tag und nacht Licht, selbst zum Schlafen wird es nicht gelöscht, ein Lämpchen zumindest muß berennen. Ich habe mal einen gekannt, der konnte ohne die bewegten Bilder eines stumm geschalteten Fernsehers nicht schlafen. „Ich brauche immer ein bißchen Leben um mich herum.“ So ein Dauerlicht und noch dazu ein bewegtes, das wäre eine Methode, mich subtil zu foltern. Ich habe mich schon als Kind nie vor der Dunkelheit gefürchtet. Daß unter meinem Bett Monster wohnen könnten, der Gedanke kam mir nicht einmal. Ich mochte auch gerne allein gelassen werden in der Dunkelheit. Niemand mußte an meinem Bett singen, damit ich schliefe, oder um mir die Nacht freundlich zu machen. Auf die Toilette bin ich immer im Dunkeln gegangen. Das ist insofern seltsam, als ich ein furchtbar ängstlicher Mensch bin. Ich habe vor tausenderlei Dingen Angst. Die Dunkelheit gehört nicht dazu.
Dunkelheit ist wie Stille ein Fehlen von Reiz, das für manche Menschen etwas Bedrückendes hat. Beide, Dunkelheit und Stille, befruchten einander aber. Die Dunkelheit gibt die Dinge anders zu schauen; die Stille erweitert den Raum alles Hörbaren. Die Stille gibt dem Raum Substanz; die Dunkelheit der Luft. Die Dunkelheit vermengt die Entfernungen; die Stille macht sie deutlich. Man muß sich einlassen, auf die Dunkelheit wie auf die Stille. Die Dunkelheit macht, daß wir den ganzen Müll plötzlich überscharf sehen, mit dem unsere Augen zugehängt und zugestellt sind; und um die Stille zu hören, muß man erst einmal die Ohren von all dem Geschepper befreien, mit dem sie beständig verstopft sind, weil des Lärmens nirgends ein Ende ist. Wer das nicht erträgt, wer diesen inneren Müll in Ohr und Auge nicht loswird, der überdeckt ihn lieber mit neuem Müll, aus dem Radio, aus Kopfhörern und Laptop-Sounkarten; oder er starrt stundenlang auf einen Bildschirm, der immer schon ein neues Bild auswirft, noch bevor das erste verdaut ist. Stille aber hat etwas Reinigendes, Dunkelheit auch. Sie befreien, sie beruhigen, sie erlösen.
Auf dem Rückweg gibt es eine Stelle, wo einen die Nacht plötzlich aus den Höhen des Villerückens entläßt und mit einem sanften Schubs an den Rand der Ebene befördert, und wenn sich unter einem dann die Lichter spreizen, die Straßenzüge sich strecken, die Autoscheinwerfer hin und her streben, Ampeln bewußtlos ihre Lichter wechseln, Logistikzentren und Gewerbegebiete sich ducken, angestrahlt wie Justizvollzugsanstalten – dann hat sich das Vertraute und das Fremde umgekehrt, und das Gewirr aus Lichtern da unten ist plötzlich kein Ort, an den man heimkehrt, sondern das Land, wo man sein Exil verbringt.
Nicht im Dunkel daheim und nicht im Licht. Ach, ach.
(Ich war übrigens als Kind weit und breit die EInzige, die nicht bloß im Hellen Lust zu Nachtwanderungen hatte. Ich mochte das Neuaufspannen der Sinne; die meisten anderen verließ der Mut, wenn das Licht schwand.)