Mitnotiert: Dämmerung

Schon ist es jetzt um sechs noch dunkel, bald wird man wieder die Lampe brauchen. Die Luft hat eine glatte Konsistenz, kalt auf den bloßen Armen und Beinen, kalt und fest wie Wasser, eine Kälte, die angenehm ist, sachlich, höflich, und mir meine Körperwärme läßt. Der Sonnenaufgang ist noch mindestens eine Stunde entfernt, die Börde ist mit Lichtern gefüllt, um die Berge jenseits der Sieg liegt ein dämmriger Kranz fahlroten Lichts. Schieferblaue Schleierwolken hängen am Horizont. Der Morgen ist still wie am Tag der Abreise. Die Koffer stehen gepackt im Hausflur, die Zimmer sind leer, die Türen abgeschlossen, dahinter tritt der Staub sein Amt an. Man schweigt, weil es nichts mehr zu sagen gibt, jedes weitere Wort gehört schon der kommenden Welt an. Es kann losgehen. Nur das Taxi ist noch nicht da.

Es wird alles immer absurder, und dieses Gefühl wird umso deutlicher und klarer, je weiter ich mich von der Börde entferne, von diesem mit Lichtern und Signalen angefüllten, brausenden, heulenden Kessel, den Straßen, Schienen und Stromleitungen zerschneiden, von dieser vermeintlich ordentlichen Welt. Vorhin war vom Verladehof des Paketzustelldienstes so ein glucksendes Piepen zu hören gewesen – das Signal eines Laserscanners, der das Erlebnis einer Apperzeption gehabt hat – und sofort gehen bei mir wieder die Alarmgeräte los, stellt sich das System auf Abwehr ein. Es ist zuviel Typisches an diesen Dingen, immer mehr solcher Wahrnehmungen geraten mir zum Symbol für etwas, das ich nur als zunehmende Verdrängung des Menschlichen durch das Maschinelle wahrnehmen kann. Für Kafka war es vielleicht das Klappern einer Schreibmaschine in einer Amtsstube. Für mich ist es das Kollern eines lautgebenden Laserscanners. Das Geräusch einer wachsenden, ausufernden Unmenschlichkeit, das durch keine Behauptung des Menschlichen – der Blumenstrauß im Büro, der Kaffee in der Kantine, eine Kinderzeichnung auf dem Schreibtisch, oder einfach nur der Geruch warmgelaufener Socken oder eines alten T-Shirts – gemildert wird. Wir sind Überbleibsel, und über unsere Gerüche und Gelüste, kann man sich schon mal ausmalen, werden demnächst – bald – Sensoren wachen und sie in etwas zutiefst Unmenschliches verwandeln.

Kritik am sogenannten Fortschritt, wo sie selbst sich nicht noch fortschrittlicher gibt, hat immer etwas Wohlfeiles an sich. Es ist leicht, etwas zu kritisieren, von dem man noch nicht wissen kann, wie es sich auswirkt; und es ist leicht, auf die positiven Aspekte des Bestehenden zu verweisen, weil sie bekannt und sichtbar sind. Das Bekannte ist leicht gegen das Unbekannte auszuspielen. Nur allzu oft in der Geschichte hat Kritik am Fortschritt, von Platon bis Spengler, dann aber im Rückblick etwas Weltfremdes und Verschrobenes bekommen. Dann heißt es leicht, hätte man damals auf den maschinellen Webrahmen verzichtet, würden wir heute noch, etc. Das Neue zu verteufeln fällt zwar leicht, solange das Alte noch normal ist. Aber das bedeutet nicht, daß Plato oder Spengler oder die Kritiker des maschinellen Webens nicht recht gehabt hätten, es bedeutet nicht, daß ihre Kritik nicht wohlbegründet gewesen wäre. Am maschinellen Webrahmen sind schließlich Menschen regelrecht verhungert. Die Kritik ist nur, da niemand sich darum geschert hat, irgendwann irrelevant geworden. Insofern ist die Kritik an der Fortschrittskritik selbst wohlfeil. Aber man wird über uns lachen, das steht fest. Man wird uns ewiggestrig nennen oder schlimmeres. Aber wenn ich ehrlich bin, ist mir das Gestern lieb, und vor dem Morgen, so wie es sich derzeit abzeichnet, graut es mir, zum ersten Mal in meinem Leben.

All das ist jetzt da unten, bleibt hinter mir zurück, während ich den Weg am Schützenhaus vorbei einschlage. Winters hört man hier immer ein Käuzchen. Oben die Pferde, zuckende Schweife im grasigen Frühlicht. Dahinter der Waldsaum mit den betenden Föhren. Sehnsuchtswelten, deren Sog für mich darin besteht, daß sie nicht gemacht, sondern geworden sind, daß sie nicht nur älter sind als Laserscanner, sondern älter noch als der Mensch selbst. Ich gehöre beiden Welten nicht an, weder der Welt der Laserscanner, noch der alten Welt des Gewordenen. Die einzige Welt, der ich angehöre, ist ein Ort aus Wörtern und Bedeutungen. So ein Lauf durch den Wald beschert die Illusion einer Daseinsalternative. Tatsächlich laufe ich durch diesen Wald wie ein Neanderthaler durch eine Automobilausstellung laufen würde. Ich verstehe nichts von den Dingen, die hier vor sich gehen, noch viel weniger – in High-Tech-Textilien gehüllt und mit GPS-Stopuhr am Handgelenk – kann ich mich als Teil dieser Vorgänge begreifen. Tatsache ist, daß ich mich überhaupt nicht begreife, nirgends, auf keine Weise, außer als ein Wesen, das Worte macht und Bedeutungen verknüpft. Aber ohne Welt, auf die ein Ausdruck verweisen kann, gibt es auch keine Zeichen, keine Bedeutungen. Es gibt keinen Ausweg aus der Welt, auch nicht im Wort.

0 Gedanken zu „Mitnotiert: Dämmerung

  1. Was für ein Text und was für ein Fazit: “Tatsache ist, daß ich mich überhaupt nicht begreife, nirgends, auf keine Weise, außer als ein Wesen, das Worte macht und Bedeutungen verknüpft. Aber ohne Welt, auf die ein Ausdruck verweisen kann, gibt es auch keine Zeichen, keine Bedeutungen. Es gibt keinen Ausweg aus der Welt, auch nicht im Wort.”

    Ich denke über Knoten nach, die verbinden und verhindern, über Bedeutungen und ihre Losigkeit und warum es Wege gibt, die einfach nirgends hinführen. Und warum sie dennoch sind.

        1. Ein Weg wird dadurch ein Weg, daß man ihn als solchen auffaßt und benutzt. Eine Schneise, die Waldarbeiter durch den Wald schlagen, dient vielleicht ganz anderen Zwecken; in dem Moment, wo jemand die Schneise benutzt, um sich darauf fortzubewegen, wird sie ein Weg. Eine Sackgasse endet vielleicht, aber vielleicht ist sie nicht für jeden eine Sackgasse (nicht für den Anwohner beispielsweise). Dann hätte der Weg ein Ziel und endete auch dort. (Wie ein Weg zum Meer. Oder zum Hafen. Oder nach Hause.)
          Gehört zu jedem Weg zwangsläufig ein Ziel?

          1. Wären die Dinge erst durch unsere Definition, was sie sind, was wäre der Berg, würde ich ihn nicht Berg nennen?
            Da der Weg an sich jedoch ein menschliches Konstrukt ist (Tiere haben natürlich auch Wege, aber sie gehen sie statt über sie nachzudenken), ist es wohl so, dass auch eine Sackgasse für die einen ein Weg für die andere keiner ist.
            Und nein, das Ding mit der Weg sei das Ziel habe ich immer angezweifelt und auch ob jeder Weg ein Ziel haben muss. Ziele werden überbewertet, zumal sie ja nicht statisch sind, sondern sich, je näher wir ihnen kommen, desto weiter in die Ferne rücken und von daher eben auch nicht sind, was uns vorgegaukelt wird: Erreichbar.

            (Einfach ein paar Gedanken, weitergesponnen …)

          2. “Wären die Dinge erst durch unsere Definition, was sie sind, was wäre der Berg, würde ich ihn nicht Berg nennen?”

            Genau so ist es! Der Berg wäre immer noch da, aber er wäre eben kein “Berg”. Kennen Sie das Paradoxon vom Sandhaufen? Da geht es um folgende Frage: Zwei Sandkörner sind kein Haufen, drei auch noch nicht, vier auch nicht, usw …. aber eine Million Sandkörner sind einer. Wo ist die Grenze? Ab wievielen Körnern beginnt der Sand, ein Haufen zu sein?

            Man sieht schnell, daß das eine Scheinfrage ist. Die wahre Frage lautet: Wann nennen wir eine Ansammlung von Sandkörnern einen Haufen? Das heißt, der Haufen existiert nur in der Sprache, nicht an sich.

            Viele philosophische Fragen der Art Was ist ein X? lassen sich umwandeln in Was sind die Bedingungen dafür, daß wir etwas als X bezeichnen? Das aber ist keine philosophische Frage mehr, keine Frage nach der Essenz von Dingen, sondern ein Problem der linguistischen Semantik und der Kognitionspsychologie.

            Der Weg ist das Ziel ist eine von diesen selbstgefälligen Phrasen, die ich von Herzen verabscheue. Man macht es sich damit allzu leicht. Ebenso wie: There is no way to happiness. Happiness is the way. Da denke ich immer nur, blablabla! Vormachen bitte!

            Wenn ich laufe oder wandern gehe, habe ich allerdings tatsächlich kein Ziel. Da geht es um das Unterwegssein um seiner selbst willen, darum, eine Strecke mit den Füßen zu durchmessen, und um das, was man dabei erlebt. Meiner Auffassung nach spielt man auch nicht Schach oder Fußball, um zu gewinnen. Sondern um zu spielen.

          3. “Wenn ich laufe oder wandern gehe, habe ich allerdings tatsächlich kein Ziel. Da geht es um das Unterwegssein um seiner selbst willen, darum, eine Strecke mit den Füßen zu durchmessen, und um das, was man dabei erlebt. Meiner Auffassung nach spielt man auch nicht Schach oder Fußball, um zu gewinnen. Sondern um zu spielen.”

            Würde das (mir geht es übrigens ähnlich) denn nicht die These belegen, dass wir eben primär darauf abzielen, den Weg zu gehen, das Ziel eben das Gehen des Weges sei? Das schreibe ich augenzwinkernd, weil ich mich bei so pfannenfertigen Sätzen schon immer schwer damit getan habe, dass ihnen eine gewisse Absolutheit unterstellt wird. Und ja, Selbstgefälligkeit – das passt. Sage ich jetzt mal ganz selbstgefällig … 😉

            Und ich wünsche uns noch viele ziellose Wanderungen um ihrer selbst willen.

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