Die Welt ist nicht so bescheuert

Neulich habe ich angesichts des ZEIT-Artikels über Trans- und Bisexualität gedacht, daß viele Aufreger, die mich eine Menge Nerven kosten, nur scheinbar weit verbreitete Phänomene sind. Weit verbreitet sind sie vor allem an einem Ort: im Netz. Wäre ich nicht ständig dort (oder gar nicht mehr), dann wäre nicht einmal die gendergerechte Sprache mehr als ein diffuses Gerücht von sehr weit her. Die meisten Texte, die mir außerhalb des Netzes begegnen, von der Zeitung übers Radio bis zur Belletristik, sind noch von keiner Moralmode geknechtet und weithin ungegendert. Von anderen Möglichkeiten als entweder Mann oder Weib zu sein, hätte ich zwar gehört, der Streit um gemeinsame Toiletten für Frauen und Männer würde mich aber nicht weiter jucken. Vom Kampfbegriff der kulturellen Aneignung (cultural appropriation – wenn Sie’s nicht kennen, seien Sie froh, Sie haben nichts Wesentliches verpaßt) hätte ich vielleicht einmal kurz im Radio vernommen, dürfte aber ansonsten ohne schlechtes Gewissen (oder schlechte Laune) Jazz hören oder Dvořaks Symphonie aus der neuen Welt. Die neuesten Ernährungsverrücktheiten sieht man zwar leider im Supermarkt – kann sie dort aber einfacher ignorieren, als wenn sie mir der Feedreader auf den Bildschirm bläst. Das Netz tut mir nicht gut, auch in diesem Punkt nicht. Da argumentiert wieder einer für das große Binnen-i? Muß ich lesen! Da fällt wieder einmal jemand der Statistik des Durchschnittseinkommens von Frauen und Männern zum Opfer? Gleich mal anklicken! Da klagt wieder einer sexistische Werbung an? Will ich sehen! Da behauptet einer, wer sich die Replica eines Moai in den Vorgarten stelle, beweise nicht nur schlechten Geschmack, sondern mache sich des Kulturraubs schuldig? Muß ich mehr darüber wissen! Undsoweiter. Der Theorie von der Filterblase zum Trotz gibt es einen Drang im Menschen, der ihn unwiderstehlich zu gerade den Dingen zieht, die ihm befremdlich scheinen und ihm ein Ärger sind, gerade zu den Dingen, über die er sich am meisten aufzuregen geneigt ist. Als gäbe es dabei irgendeinen Genuß. Eine Bestätigung: Die Welt ist wirklich so bescheuert wie ich immer dachte, da habt ihr’s! Im Netz aber ergibt sich ein schiefes Bild. Da alles gleich schnell und gleich leicht verfügbar ist, scheint die Welt von ärgerlichen Erscheinungen nur so zu wimmeln, Erscheinungen, die bei näherem Betrachten, nämlich offline, so marginal sind, daß sie praktisch verschwinden. Ich muß lernen, besser auszuwählen, womit ich mich im Netz befassen will. Warum mußte ich jetzt beispielsweise diesem dämlichen vong auf die Spur gehen? Eine überflüssige Auskunft, nicht einmal amüsant war’s. Was hat das mir jetzt gebracht? Oder daß ich weiß, was lolcats sind? Ich wollte, ich könnte dieses Wissen einfach wieder aus meinem Kopf streichen. Weil es ärgerlich ist und überflüssig, und weil ich schlechte Laune bekomme, wenn ich nur daran denke. Aber der Mensch fühlt sich nicht nur zu Ärgerlichem hingezogen – er merkt es sich leider auch besser.