Frühprotokoll. Sommerzeit

 
Mit den Vögeln wach werden. Hausrotschwanz, Singdrossel, Amsel. Im Traum fliegen den Dingen wieder die Namen zu, Wolke, Weißdorn, Rauch, Kiesel, Weide, Gras. Der Tag ist wie ein kühler Ärmel, in den man fröstelnd schlüpft.

Hellere Wege. Was auch immer unter dem Winterlaub lauerte, ist jetzt fort. Die Sonne dreht eine Rose ins Schloß. Die Räume häuten sich und kehren die Fleischseite nach außen.

Als schwebten Fledermäuse langsam zu Boden, so kehren nach der nächtlichen Jagd die Bücherstapel zurück zum Tag. Der Fenstergriff, eine schwirrende Libelle, schwebt über den Schatten des Glases. Unter den Wolken indes breitet bequemer das Land sich aus.

Blinzeln des Rolladens. Die Kirschzweige im Fenster sind wie ein gekritzelter Gruß, den man am Frühstückstisch findet, wenn man zu spät erwacht.

 
Neulich habe ich wieder Eltern beobachtet, die mit ihren Kindern umgingen wie mit Hunden (Aus! Pfui! Melissa, hiiiieeer!).

Dafür trifft man immer wieder Hundehalter, die ihre Tiere behandeln, als wären es Kinder. (Wie oft muß ich dir noch sagen, du sollst herkommen, wenn ich rufe? Laß dich doch nicht so ziehen!)

Manche Leute scheinen da entscheidende Unterschiede nicht begriffen zu haben.

Einverleibungen

 
[…]
Die Räume waren offen, die Zukunft war eine Bibliothek. Man würde nicht alle Bücher lesen können, aber man hatte unendlich Auswahl. Und alle Bücher, die hier versammelt waren, wären der Lektüre wert. Nichts, was man begönne, wäre je vergebens. Es gab keine Zeit zu verlieren. Es gab aber auch keine zu vergeuden. Man konnte nur gewinnen.
So war damals die Zukunft.

Eine Anmutung von Fremdheit

Als wäre das Laufen nicht mehr dieselbe Tätigkeit, als hätte sich, was ich als Laufen bezeichnete, wenn ich es tat, klammheimlich aus der Hülle des so Bezeichneten entfernt. Zu sagen, es ist nicht mehr dasselbe, trifft diese Verwandlung nicht, denn ich weiß nicht mehr, wie es vorher war. Es ist, als sei ein Schleier zwischen mein Laufen heute und mein Laufen vor, sagen wir, zehn Jahren getreten.

Es geht mir noch mit anderen Tätigkeiten so. Sie fühlen sich auf unheimliche Weise fremd an, oder ich selbst als Erlebender und Handelnder fühle mich in ihnen fremd an, als sei meiner Aufmerksamkeit ein weiterer Zuschauer gewachsen, unter dessen Augen und im Bewußtsein seines Zuschauens mir das Vertraute zu etwas sanftmütig Fremdem gerät. Selbst Küsse. Selbst das Liebesspiel. Selbst das Vertrauteste bekommt in diesem Argwohn die Anmutung von etwas Fremdartigem. Bin ich sicher, daß ich immer schon so umarmt, so geküßt habe? Ich weiß, was ich tue, ich fühle, was ich vermeintlich immer gefühlt habe. Aber plötzlich schiebt sich der zarte Schleier einer Unsicherheit zwischen mich und das Erleben. Es ist, als probierte ich den Geschmack von Dingen, die ich seit sehr langer Zeit entbehrt habe. Das merkwürdige aber ist, ich habe nichts entbehrt, es gibt ein Kontinuum ohne Brüche. Ich habe nie mit dem Laufen aufgehört, und auch mit der Liebe nicht, zum Glück.

Es ist etwas ungeheuer Plausibles in den Dingen, die wiederkehren. Plausibel und überraschend zugleich. Wenn überhaupt etwas, dann sind es die Gerüche und Geräusche der Jahreszeiten, die Textur eines bestimmten Frühlings- oder Herbstmorgens, die Dichte der Luft, die Transparenz des Raums, der Glocken, die darin schlagen, das geringste Gewicht des Lichts auf einer Anemone, die jenseits jeden Zweifels wahr sind, uralt und unveränderlich jung in ihrem Wiederauftreten. Spürt man, wie man alt wird, an ihrem Jungbleiben? Die Jahreszeiten werden nicht mit uns alt, mit niemandem.

Insofern ist jedes Erlebnis eines Frühlings, diese plötzliche Haupterhebung, daß man in der Frühe aus dem Haus tritt und sich wie gesalbt fühlen darf von der über Nacht geheiligten Luft, der Verweis auf alle Frühlinge, die man zuvor erlebt hat, und dadurch, daß so ein Morgen als etwas Bekanntes, als etwas, das man schon einmal erlebt hat, in Erscheinung tritt, und zwar als ganz genau dieselbe Erscheinung, gibt sie mir das Bewußtsein meines Alterns ein. Ich erinnere mich ja. Der Frühling ist neu und unverändert. Aber indem ich mich erinnere, daß genau der gleiche Frühling schon einmal war, ja, indem er mir überhaupt als etwas Bekanntes begegnen kann, fühle ich meine eigene Bewegung durch die Zeit.

Vielleicht ist es ein verändertes Bewußtsein von den Dingen, für die Dinge, für mein selbst in der Begegnung mit den Dingen. Eine Schärfung, nicht der Wahrnehmung selbst, sondern der Selbstwahrnehmung. Ein Argwohn gegenüber dem allzu Selbstverständlichen. Noch ist mein Laufen selbstverständlich, das Musikhören, das Betrachten einer Waldlandschaft, der Geruch geschlagenen Holzes, Stuhlgang, das Gefühl von feuchter Kiefernborke, Fieber, ein Weinrausch; aber es ist nicht mehr selbstverständlich, daß es selbstverständlich ist; daß es selbstverständlich so ist. Plötzlich könnte es auch anders sein. Plötzlich könnte es früher ganz anders gewesen sein als jetzt. Ich erinnere mich; aber die Erinnerung enthält nur Bilder, die zu allem passen, was ich jetzt erlebe. Die Erinnerung enthält ja nur Dinge, die man nicht mehr erleben kann, man kann nur die Erinnerung erleben. Nie kann ich in einen Lauf von vor fünfzehn Jahren zurückkehren, oder in eine vergangene Liebesnacht. Das Schöne an einem Frühlingsmorgen aber ist vielleicht, daß er selbst keinerlei Erinnerung hat an all die anderen Frühlinge vor ihm, die nur wir in ihm wiederfinden.

… nicht halten, wollen wir …

Zwei Runden zu je 21 km durch den Königsforst gedreht. Zweimal der Tunnel, zweimal der Weiher, zweimal das Weglein mit den verrottenden Baumstämmen, zweimal die Kreuzung mit dem Pferdeweg, zweimal die tote Kröte. Und ich weiß jetzt, im Königsforst gibt es Feuersalamander. Nun ja, es gibt dort mindestens einen Feuersalamander. Um ganz genau zu sein, es gibt dort mindestens einen zertretenen Feuersalamander. Aber an dem bin ich nur einmal vorbeigekommen.

Bei der Beschreibung großer Erschöpfung ist oft von einem Tunnelblick die Rede. Was in diesen Tunnel gerät, stelle ich mir vor, wird eigentümlich fokussiert, unwillkürlich, drängt sich als Sekundenerscheinung auf, verschwindet gleich wieder, bleibt aber haltbar und in der Detailschärfe überreich im Gedächtnis haften. Etwa die tote, silbriggrau schimmernde Kröte auf dem Waldweg. Der dicke Hals, die vergleichsweise grazilen Beinchen mit den noch viel grazileren Schwimmfüßchen, die gelbliche Haut unterm Maul, der Eindruck von kalter Starre. Das Tier lag auf dem Rücken, die Glieder flach ausgestreckt am Grund. Bei der zweiten Runde war es etwas von der Stelle, wo ich es zuerst gesehen hatte, entfernt und lag etwas zur Seite gedreht, als walte in dem toten Leib noch ein unheimlicher, störrischer Wille.

Man könnte denken, es ist eine noch größere Herausforderung an die psychische Moral, wenn man schon 42 km laufen muß, dies auch noch in zwei gleichen Runden zu tun, so daß man nach 21 km genau weiß, jetzt exakt der gleiche Rundkurs nochmal, nochmal der Tunnel, nochmal der Weiher, die Bäume, die Kröte. Tatsächlich aber ist das gar nicht so verkehrt, denn die zweite Runde taktet sich dadurch, daß man sie schon kennt, in Abschnitte, die das Vorankommen belegen, durchgestandene Strecke wegstreichen und zum Weitermachen motivieren. Wenn man das Gelände nicht schon sehr gut kennt, sieht man, zumal bei einem Waldlauf, auf der zweiten Runde Dinge, die man bei der ersten nicht bemerkt hat. Anderes wiederum entgeht einem beim zweiten Mal: in Wirklichkeit nämlich kann ich mich nicht daran erinnern, am Weiher zweimal vorbeigekommen zu sein. Ein weiteres Merkmal der Erschöpfung und der Konzentration aufs Weitermachen: Man kann etwas so Auffälliges wie einen kleinen See tatsächlich übersehen. Erstaunlicherweise ist mir die zweite Runde zeitlich kürzer vorgekommen, obwohl ich bestimmt langsamer gelaufen bin.

Gedanken und Bilder. Die Schokolade, die gleich im Rucksack wartet. Das Bier zu Hause. Die Kraniche des Ibycus, woraus vier Verse fehlen, an die man sich einfach nicht mehr erinnert. Schluchzer in der Brust über ein Lieblingsgedicht, Drum, will schon unsrer Sonne Wagen / nicht halten, wollen wir ihn jagen, und zuletzt nur noch, nachhallend im Kopf, jagen, jagen, jagen, während aus drei Kilometern (komm schon, das ist bei dir zu Hause einmal auf den Berg und wieder runter) zweikomma Kilometer und irgendwann siebenhundert schier unüberwindliche Meter werden. Der Gedanke, wehr dich nicht. So ist es jetzt. Du läufst. So ist es jetzt. Du läufst. Es ist, wie es ist.

Oder auch: Wolkenschraffuren. Das Gitterwerk der Zweige als Schatten in einem plötzlich aufscheinenden Sonnenstrahl auf dem Weg. Oder auch: der wippende Pferdeschwanz einer Läuferin ein paar Schritte vor mir; ihr orangrotes Trikot mit dunklen Schweißflecken darauf; eine Pfütze im Tunnel, die das Gegenlicht des Ausgangs spiegelt; eine in den Schlamm getretene Gelpackung, mit ihrem gelben Schimmern der Kröte nicht unähnlich, als bestehe da eine geheime Verbindung; der Lärm unsichtbarer Riesenflugzeuge, wo der Weg die Einflugschneise unterquert. Ein geheimes Leben durchwirkt den Wald, an dem man keinen Anteil hat, ein Leben, das einen kaum beachtet, während man seine Ränder kreuzt, beschäftigt mit sich selbst wie mit einem sehr seltsamen Ding.

 
*Es muß etwas mit dem Gegensatz von Kratzigem und Glattem zu tun haben. Wolle, dem Augenschein nach weich, unter den Fingern rauh; und die warme Glätte von Haut, warm nicht zuletzt durch die rauhe Wolle; diese Dopplung der Empfindungen beim Schlupf unter einen fremden Wollärmel, den man vielleicht vorher außen gestreichelt hat; rauh und neutral gleitet die Wolle am Handrücken vorbei, während unter den Handflächen, verwirrend, weich und verbindlich, die fremde Haut glüht, und beide Empfindungen, in einer einzigen Bewegung zusammengebracht, die einem, vielleicht aufgrund des Mutes, den sie erforderte, erst gar nicht richtig einleuchten mag, so sehr ist das Tasten mit sich selbst beschäftigt und mit der Frage, wie weit es gehen darf, in welche Bezirke zwischen Wolle und Haut – diese beiden gegensätzlichen Taktilia prägen sich ein, rufen beim Anblick eines Wollpullovers an einer Frau unvermeidbar ein Assoziations- und Erinnerungsprogramm auf, in der der Stoff durch den bloßen Anblick erinnerungsweise beinahe spürbar wird. Als kratzte etwas auf der eigenen Netzhaut. So erwarten die Fingerspitzen die ersehnte, spannende Glätte der darunter warmgehaltenen Haut. Und je intensiver dieses Gefühl ausbleibt, desto stärker wird der Drang, hinzuschauen um die Finger mit dem Gesichtssinn für die verlorene Empfindung zu entschädigen, vielleicht.

Ferner: Wollstoff, der sich über Brüsten spannt, ist Haar über Stellen, wo keine Haare zu erwarten sind, ein weiterer Gegensatz, der ein bißchen schwindelerregend ist, wie für einen mittäglichen Faun vielleicht. Ein Verweis auf die Tiernatur des Menschen, insofern als Körperhaar, echtes wie nur aufgelegtes, immer ein Verweis auf die Tiernatur, und mithin auf die Geschlechtlichkeit des Menschen ist. Haar finden wir verwirrend, störend, peinlich, ja, abstoßend, wenn es, jede kulturelle Überformung ignorierend, die Grenzen der zivilisatorischen Zähmung ebenso überschreitet wie den vorgegebenen Bezirk des Bikinis, unkontrollierbar wächst, an den falschen Stellen auftritt, seine Form und Farbe, seine Textur und Länge selbst bestimmt, wuchert, klebt, strähnt, verfilzt und im falschen Moment grau wird – oder gar ganz ausgeht. Das urwüchsige, wild sprießende, unkontrollierbare Haar steht für das Irrationale, für das Triebhafte, für den niederen Instinkt, weswegen wir es nur dulden, wo es frisiert, gekämmt, pomadiert oder in Form gezupft ist. Wenn überhaupt: Dem schärfsten Zwang unterwirft das Haar, wer es rasiert oder ganz ausrupft. Zugleich wird dabei aber auch eine Machtlosigkeit demonstriert. Wer töten muß, der hat die Kontrolle verloren, dem ist die Zähmung nicht geglückt.

Ferner: Haar ist in mehr als einer Hinsicht eine peinliche Erinnerung daran, daß wir Tiere sind: Haardrüsen produzieren Fett und Duftstoffe, Haare halten Schweiß fest, Haare riechen entweder selbst, oder sie sorgen dafür, daß Gerüche sich gut ausbreiten können. Manche Biologen meinen gar, die Verbreitung von Duftstoffen sei die ursprüngliche Funktion des Haars gewesen; erst nachdem es sich für diesen Zweck entwickelt hätte, habe es dann sekundär die Aufgaben übernehmen können, an die man beim Haarkleid zuerst denkt, den Schutz vor Kälte und Nässe. Immerhin haben geschlechtsreife Menschen bis auf den heutigen Tag Reste eines primordialen Fells genau an den Stellen behalten, wo es immer noch riecht und wahrscheinlich auch riechen soll, denn der natürliche Körper- und Drüsengeruch ist nach wie vor, allen Anfeindungen und Kriegserklärungen der Kosmetikindustrie zum Trotz, das stärkste Stimulans, wenn es zur Paarung gehen soll. Scham- und Achselhaar sind Überbleibsel von Fell, da ändert kein Rasierer was dran. Und Wolle, dieses sublimierte Fell, dieser Tierpelz, verweist in seiner Haarigkeit eben genau darauf zurück, durch Gegensätzlichkeit auf das Kahle von Brust, Schultern und Bauch ebenso wie durch Verwandtschaft auf die Stellen knisternden Fells, die er bedeckt.

Ferner: Wolle riecht. Nasse Wolle zumal kann einen strengen, scharfen Geruch annehmen, nach Tier und Geschlechtlichkeit, einen Duft, den ich sehr mag, ebenso wie den Geruch der Tiere selbst, von denen die Wolle stammt.

Ferner: das gezähmte Tier. Gereinigt, entfettet, gekämmt, kardiert, in Farbe getaucht, gestrickt, gewalkt, gewebt, mit Parfum besprüht, mit Weichspüler gewaschen, in menschliche Form gebracht, künstlich um Arme, Schultern, Brüste drapiert. Und doch: ein Regenschauer, und das Tier macht sich sofort bemerkbar. Und in diesem Wollduft verborgen der persönliche Duft der Frau, die den Wollstoff trägt, eins aus dem andern herleitend, wenn beide Düfte tief im innersten Bezirk einander wieder ähnlich werden.

 
Aus der lärmigen Stadt hinunter ins Tal zu den Mühlen und den schwarzen Bächen. Schiefer, zart wie Aquarell, zerbirst unterm Trommelfeuer des Spechts. Aus den Tiefen sickert Farbe zu Tal. Da heißt es hinaus zu den Straßen, den Brücken zwischen Wolken und Wasser, mit zittrigem Stift in die Luft gemalt, hängen sie wie kaum faßbare Gedanken über der Schlucht. Alles hat es eilig, selbst die Bäume machen sich den Platz streitig, bemühen sich, als erste den Hang zu erklimmen. Langsam dreht sich Licht in der schmalen Angel einer Birke. Schwanken wie von Toren, aus denen Moder zum Trocknen ins Freie strömt. Meisen und Spatzen fallen durch die Zweige, Postkarten gleiten in verrostete Briefschlitze, Schatten bohren sich in den Grund, munter tauchen die Schuhe unter den Weg, der Himmel springt von Ast zu Ast, und leise, leise faucht der Wald vor sich hin, wie ein alter Seehund, der heimlich Arien übt.