Laufen, nicht denken

 
Endlich wieder großer Revierablauf. Hufebahn, Golfplatz, am großen Zehnt links, Eiserner Mann, durch den Wald durch richtung Hausertshausen, vor der Motte in Sichtweite des Schlosses links, dann gegen den rosigen Ostwind ankämpfend (am Hochsitz klapperts) am Waldrand entlang bis kurz vor Sümpfikon, an der Wasserleitung abgebogen, durch den inzwischen sonnigen Wald in Gegenrichtung der ersten Joggertrupps und vor einem Traktor fliehend über die Tennisanlagen zurück nach Quellstätten. Siebenundzwanzig Kilometer. Durchatmen, Eis von der Mütze klopfen, Tee trinken. Vorsichtiger Optimismus. Nicht zuviel nachdenken! Vielleicht geht es jetzt mal aufwärts hier.

Rumms!

Es ist nicht das erste Mal, daß ich davon aus dem Schlaf gerissen werde. Aber noch nie war es so schlimm, so katastrophenartig beängstigend, was sich da ein Stockwerk über mir abspielte, wie vor ein paar Tagen.
Was mich weckte, war ein Knall, ein dumpfes Aufprallgeräusch mit einem harten, häßlichen Kern, als würde etwas Schweres, Massives umgeworfen, ein Tisch etwa, ach was, ein Schrank. Dazu das Geschrei. Ein Gebrüll, überkippende Stimmen, Laß mich in Ruhe, Halt die Klappe, zwei Stimmen, eine männliche, eine weibliche, aber man versteht nur ihn, er ist lauter, er brüllt sie nieder, Brüll mich nicht an, brüllt er, bis sie nur noch schluchzen kann, und beiden Stimmen, seinem Gebrüll, ihrem Geheul, nichts Menschliches mehr innewohnt, und vielleicht ist es das, die Fratze in Menschengestalt, oder das Menschliche in der Fratze, diese Entstellung der Normalität, was so furchtbar, so ohne Maß grauenhaft ist, daß ich am ganzen Körper erstarre und mir der Puls rast. Und während sich die Stimmen, das Gebrüll, jetzt auch harte Polterschritte quer durchs obere Stockwerk in einen abgelegenen Teil der Wohnung entfernen, frage ich mich nicht zum ersten Mal, ob jetzt nicht endlich das Ausmaß erreicht ist, wo man vernünftigerweise die Polizei holen sollte.
Eine Tür fällt ins Schloß. Ein letzter Knall, dann herrscht Stille, und man denkt, jetzt ist es zu Ende, zu Ende, alles.
Und dann geht es weiter, geht es einfach immer weiter, bis zum nächsten Rumms ein paar Wochen später.

Eine Bahn später

Als zöge die Sonne das Gebirge aus der Schlucht herauf. Ein Vorgang voll großartigen Lärms, doch in der weiten Entfernung lautlos. Gräben füllen sich mit Licht, Eis kracht unter dem Druck des Himmels, über der Ebene steht der Rauch still, als trüge er all das Blau auf seinen abgeflachten Spitzen.

Die Rückseite vom Dunst sind Waldränder. Wie wenn man einer Photographie die Folie abzieht, die Farben frisch und noch nicht ausgehärtet, das Feuchte von Kiefern und Moos.

Fahrende Lieblingsorte. Besondere Plätze in der Straßenbahn oder im Bus, meist irgendwo am Rand, ganz hinten im Bus, vorne (gegen Fahrtrichtung), hinten (in Fahrtrichtung) in der Straßenbahn. Plätze, von denen sich alles im Blick halten läßt, selbst wenn man übers Buch gebeugt ist, wie ich meistens. Der leise Unwille, wenn so ein Platz schon besetzt ist; als hätte einem einer was weggenommen, das einem eigentlich selbst zugestanden hätte.

Der besondere Ort des Waldrands. Überblick auch hier. Anschnitt des Lichts, Schichtung der Luft, eine Art höhere Ordnung, ins Sichtbare gerückt. Einer meiner Lieblingsorte: ein Waldrand mit Kiefern, der Grund zwischen den Stümpfen vor langer Zeit gefällter, wie in silbrigen Fels verwandelter Bäume nadelbedeckt, trocken wie Bürsten, eine Lichtung zum Schauen, ein umgehauener Stamm zum Sitzen. Diesen Ort gibt es nicht mehr, der Wald hat ihn sich einverleibt, das Licht durch eine Ordnung von Schatten ersetzt. Farn wächst hüfthoch, wo ich einmal einen Nachmittag verträumt habe. Das ist so lange her, daß ich gar nicht mehr weiß, wann das war. Was einmal jener Ort war, Farne jetzt, merkwürdige Bodenschwellen wie Gräber, mannshohe Doldenblütler, frisch aufgeschossene art- und gattungslose Bäume, liefert keinen Anhaltspunkt. Selten habe ich mich so sehr von der Zeit im Stich gelassen gefühlt wie an dem Tag, als ich nach langem Suchen begriff, daß ich die Stelle längst wiedergefunden hatte. Ich hatte sie nicht erkannt. Die Wege hatten mich immer daran vorbeibugsiert, geh weiter, gibt hier nichts zu sehen, das ist nicht mehr deine Zeit, das ist nicht mehr dein Leben.

Ganz woanders, aus dem Fenster der Bahn zu betrachten, liegen jetzt die Waldränder oben an einem Hügelscheitel in der Sonne wie Gesichter, die sich der Wärme zuwenden. Die Schatten gehen nach hinten raus. Alle Wege sind kurz da hinauf, leicht zu beschreiten, mit Baumreihen als Stütze für den Blick, Alleen, entlang von steifgefrorenen Zehen.

Und natürlich Straßen. Ich wohne in einem Nest von Straßen, die mich eigentlich nur widerwillig dulden, was habe ich schon mit ihnen zu schaffen? Straßen, Kreuzungen, Verkehrsschilder, Warnhinweise. Werbetafeln, die ich als Fußgänger nur von der Rückseite sehen muß. Die Straßen und ich: Ich werde es sein, der als erster nachgibt, davongeht oder verschwindet, eines Tages nicht mehr da sein wird, die Straßen, sie werden mich überleben. Aber die Waldränder werden die Straßen überleben, denke ich, und schaue da hinauf, Wiese, Ackerrand, Weg, dann die roten, säulenartigen Stangen der Kiefern, wie der Tempel eines urwüchsigen, längst verschwundenen Volks, man könnte dort schön wandern und wäre vor allem Unheil sicher, in der Hand vergessener Götter, die aber ein besseres Gedächtnis haben als die Menschen. Man wäre ein winziges Körnchen, geborgen in Schichten und Schichten aus Zeit.

Mir schräg gegenüber sitzt eine elegant gekleidete Frau. Hohe, braune Schaftstiefel, Strumpfhose, Rock. Sie liest in einem E-Book-Reader. Sie lächelt still vor sich hin. Vielleicht sitzt sie auf ihrem Lieblingsplatz. Das Lächeln ist glücklich, amüsiert, gelassen. Unerreichbar für jede Beobachtung. Sie hat die Beine übereinander geschlagen, die schwebende Stiefelspitze wippt rhythmisch. Ein beringter Finger tippt auf den Schirm, blättert vor und zurück, das Lächeln verändert sich nicht, bleibt heiter und gelöst, wie von einer etruskischen Statue, die, ganz im Irdischen verwurzelt, dennoch von nichts Irdischem mehr überrascht werden kann.

Die Orte von der Rückseite erreichen, vom Bühnen- und Lieferanteneingang, wo die Beleuchtung schlecht ist und die Rohre verlaufen. Durch einen niedrigen Gang gehen, eine Tür aufstoßen, sagen, ich bin da.

Die Ebene löst sich vom Rauch.

Drüben sinken die Berge zurück in den Mittag.

Kaffee

Der erste Kaffee am Morgen, seit Jahren geliebtes Ritual. Der geschützte Raum am Saum zwischen Tag und Nacht, wo beides noch gleich möglich ist, Dunkelheit und Licht, alle Wege offen, Schlaf oder Wachsein, Traum oder Wirklichkeit ununterscheidbar. Das Schweigen von der Straße her. Die leisen Stimmen aus dem Radio. Das in sanftes Lampenlicht getauchte Zimmer, tröstlich in seiner Vertrautheit, als habe es mit seinen Möbeln und Büchern und Zetteln und Krims und Krams auf mein Wachwerden gewartet. Und der bittere, je nach Lage der Dinge verheißungsvolle oder beruhigende oder lockende oder anfeuernde Duft aus der Tasse, der schwarze Geschmack mit dem irden-warmen Abgang, bald: dieses innere Leuchten, das nur eine gute Dosis Methyltheobromins hervorrufen kann, die gute Laune, Göttergedanken: Was wäre ich ohne Kaffee? Ein Normalsterblicher, der morgens aufstehen muß.

Die erste Tasse Kaffee, die beste des Tages. So heiß, so dampfend, so schwarz gelingt keine zu einer anderen Tageszeit, ausgenommen höchstens spät nachts. Aber wer, der seines Verstandes mächtig, würde nachts Kaffee trinken? Die Nacht ist zum Schlafen da, der Morgen, na ja, zum Kaffee. Der Kaffee ist ja überhaupt der Grund für den Morgen. Irgendwo habe ich gelesen, dem Trinker schmeckt das letzte Bier der Nacht am besten. Das stimmt doch nicht! Es ist das erste Bier, das am besten schmeckt, und es ist der erste Kaffee des Tages, der unvergleichlich besser ist als jeder andere.

Das Klemmlämpchen am Bett taucht das Zimmer in mildes Licht. Ich stelle die dampfende Tasse (gestrichener Löffel Zucker, keine Milch) auf den Nachttisch, schlüpfe zurück in die noch warmen Decken, lege mir den Rechner auf die Knie. Es ist fünf oder sechs, ich bin als erster wach, ich bin allein in meiner Kapsel, die beiden Straßen, vorne und hinten ums Eck, schlafen noch. Stille ist manchmal nur zu erreichen, indem ich wach bin, wenn es kein andrer ist. Nur von fern, überbracht von freundlichen Stimmen, dringt die Welt durchs Nadelöhr des Radios an mein Ohr, jederzeit auf Abstand zu halten, filterbar, ausblendbar, beherrschbar. Ich nehme den ersten, brühheißen Schluck und beginne zu arbeiten.

Nicht beherrschbar: die Zeit. Aber in dieser Hülle aus Licht, in dieser Kapsel aus Schweigen, in der man wie unter einer tiefen See am Meeresgrund ruht, in dieser vom Kaffee, vom Ritual herausgehobenen Stunde, in der solche Gedanken möglich sind, die mir zu keiner andern Stunde einfielen: läßt sich die Zeit umgehen, indem man ihr durch die Wiederholung ein Schnippchen schlägt und diese Stunde oder zwei herauslöst aus dem verbundenen Strom, so daß sie jeden Morgen als die gleiche Abmessung, die gleiche Aussparung von Ewigkeit wiederkehrt. Wiederkehrt, sich, erneuert und erfrischt, wiederschenkt, dieselbe, die nicht vergeht. Ich fange das Gestern, das Vorgestern an genau demselben Punkt heute wieder an, knüpfe wieder an den Faden an, kehre heim auf eine Insel, in der, so lange ich will, immer dieselbe Stunde bleibt, fünf oder sechs, am Saum zwischen Tag und Nacht.

Vorurteil

An der Supermarktkasse schaut die Kassenkraft in den Einkaufswagen, bittet den Kunden, die darin befindliche Tasche ein bißchen anzuheben, öffnet kurz den Eierkarton.
Ein Kind, das von einer Wespe gestochen worden ist, läuft vor einer Schwebfliege davon.
Eine Versicherungsgesellschaft schließt aufgrund einer vorhergegangenen Psychotherapie einen Neukunden aus.
Ein Fahrkartenkontrolleur verlangt von jedem Fahrgast die Fahrkarte zu sehen.
Bei einer Autoversicherung zahlen Frauen einen geringeren Beitrag als Männer.
Ein Briefträger, der von einem Hund gebissen worden ist, macht fortan um Hunde einen großen Bogen.

Was ist allen diesen Fällen gemeinsam? Die Übergeneralisierung. Einige Kunden sind Diebe, einige Fahrgäste haben keinen Fahrschein – also werden alle Kunden, wird jeder Fahrgast kontrolliert. Eine kleine Maßnahme, die für den Preis, daß alle unter Verdacht gestellt werden, garantiert, daß auch alle relevanten Fälle abgedeckt sind. Nur wenige Psychotherapiepatienten entwickeln Störungen, die eine Versicherungsgesellschaft teuer kommen, aber wenn die Gesellschaft nach diesem Kriterium aussortiert, sind neben ein paar unauffälligen Patienten auf jeden Fall auch die teuren Fälle draußen. Nicht jedes gelbschwarz gestreifte Insekt verteilt schmerzhafte Stiche, aber wenn ich alle so gefärbten Tiere meide, werde ich garantiert nicht gestochen (jedenfalls nicht von gelbschwarz gestreiften Insekten). Das gleiche gilt für Hunde: Die wenigsten Hunde beißen, aber wenn ich alle meide, meide ich auch die bissigen. Manche Frauen fahren wie der Leibhaftige, und manche Männer vorbildlich – trotzdem tendieren Frauen zur Vorsicht und Männer zum Draufgängertum, weswegen es für eine Versicherung sinnvoll sein kann, alle Frauen und alle Männer in einen Topf zu werfen. Lieber ein paar vorsichtige Männer zu hoch eingestuft und einige wenige Frauen zu niedrig, als umgekehrt die Tendenz ignoriert. Wer alle relevanten Fälle abdecken will, muß mit Schrot schießen.

Übergeneralisierungen machen die Welt einfacher, aber sie haben einen Preis. Manche Früchte sind giftig, aber wer alle Früchte deswegen meidet, bekommt vielleicht Hunger. Übergeneralisierungen sorgen für Sicherheit, können aber unliebsame Folgen haben, dann nämlich, wenn der Nachteil einer falsch positiven Beurteilung (Frucht ist eßbar, wird aber trotzdem verschmäht) den Vorteil der richtig positiven (Frucht ist giftig und wird verschmäht) überwiegt.

Betrifft die Übergeneralisierung Menschen oder Menschengruppen, wird aus der eigentlich vernünftigen Haltung etwas, das wir nicht so gerne haben, und das man dann Vorurteil nennt. Dabei ist ein Vorurteil lediglich ein aufgrund einer begrenzten, unzureichenden Datenmenge gefaßtes Urteil. Die Datenmengen, mit denen wir es im normalen Umgang mit Fremden und Fremdem, gleich wer oder was es ist, zu tun haben, sind immer begrenzt; und das meiste von dem, was wir im Alltag beurteilen müssen, haben wir noch nie gesehen. Und selbst wenn doch: Können wir sicher sein, daß uns der Geldautomat diesmal nicht bescheißt? Der Schluß von Einzelfällen auf ein allgemeines Gesetz ist, wie wir wissen, sowohl unzulässig als auch notwendig, sonst gäbe es nicht nur keine Geldautomaten, sondern nicht einmal Geld, vom elektrischen Strom zu schweigen. Ohne Vorurteil, ohne Übergeneralisierung, kämen wir nicht weit, blieben wir ständig stecken. Wollten wir jeden Einzelfall von heißen Herdplatten, roten Ampeln, Steckdosen, Chemikalien, Scheißhaufen, brüllenden Fußballfans umfassend prüfen, ehe wir vorsichtigerweise die Finger davon lassen – wir hätten viel zu tun und überlebten möglicherweise nicht lange. Ein einziger Schaden, ein einziger Bericht eines Schadens, genügt, Vorsicht walten zu lassen.
Das positive Gegenstück zum Vorurteil heißt: Vertrauen. Der Mechanismus der Übergeneralisierung ist bei beiden derselbe. Wollten wir jeden Einzelfall prüfen, bevor wir uns ins Auto setzen, Straßenbahn fahren, mit Wildfremden im Kino zusammensitzen oder auch nur den Wasserhahn aufdrehen – wir hätten viel zu tun, brächten uns um ein normales Leben und kämen auf keinen grünen Zweig, weil wir alles noch einmal von vorne aufrollen müßten, was die Menschheit seit ihrem Bestehen bereits ausprobiert hat.

So, und nach dieser langen Vorrede kommen wir zum heißen Kern, zu etwas Häßlichem, leider.
In der Silvesternacht 2016 belästigte Frauen gaben damals an, die Täter hätten „nordafrikanisch“ ausgesehen. Gehen wir mal davon aus, daß wir zweifelsfrei wüßten, was man sich unter „nordafrikanischem Aussehen“ denken muß – dann ergibt sich aus dem eben Gesagten, daß es im Jahr 2017 nur vernünftig gewesen ist, in der gleichen Situation eine Übergeneralisierung anzuwenden und Menschen eines bestimmten Phänotyps zu meiden, bzw., im Falle der Polizei, unter besondere Beobachtung zu nehmen. Ein Schaden soll dadurch abgewendet werden, indem man neben vielen unbescholtenen garantiert alle erwischt, die eventuell Böses im Schilde führen. Die Schwierigkeit besteht darin, aufgrund einer begrenzten Datenlage zu entscheiden, welches Verhalten die Unversehrtheit von Leib und Seele garantiert, wobei man obendrein noch politische Korrektheit obwalten lassen möchte. Auch in dieser Situation gilt: Der Nutzen der Verallgemeinerung muß gegen den Schaden abgewogen werden. Der Supermarkt verliert vielleicht Kunden, wenn die sich unter einem Generalverdacht des Diebstahls gestellt fühlen; wer ein paar als typisch empfundene Körpermerkmale zum Raster für den Generalverdacht sexueller Übergriffigkeit heranzieht, setzt sich dem Vorwurf des Rassismus aus. Der Schluß von irrelevanten Merkmalen wie der Hautfarbe auf relevante Merkmale wie Intelligenz, Aggressionspotential oder eben sexuelle Gewaltbereitschaft – das ist der Kern des Rassismus. Insofern hinkt der Vergleich mit dem Öffnen des Eierkartons im Supermarkt, weil dort wirklich alle Kunden verdächtigt werden, nicht nur diejenigen mit irgendeinem an sich irrelevanten aber als relevant empfundenen Merkmal. (Obwohl: Vielleicht verzichtet die Kassenkraft bei einem Anzugsträger auf die Kontrolle, schaut aber bei einem Menschen, der offensichtlich die Nächte im Freien verbringt, etwas genauer hin.)

Dem Vorurteil, der Übergeneralisierung als solcher entkommt jedoch niemand. Manchmal ist die Übergeneralisierung rassistisch, manchmal nicht, weil nur Hunde oder Schwebfliegen diskriminiert werden, der Mechanismus ist derselbe. Die Forderung kann daher nicht sein, keine Vorurteile zu haben. Sie muß vielmehr dahin zielen, die notwendigen Vorurteile korrigibel zu halten – also die Bereitschaft zu haben, dazuzulernen und sich eines Bessern belehren zu lassen. Im Mißtrauen, aber auch im Vertrauen.

Noch einmal Neujahr

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Ein Gang über winterliche Gefilde, wir zählen zwei und zwei die fünf Bäche zusammen.

Ehe sie sich vereinigen, unterirdisch, unbeobachtet in conspirativen Kanälen, aus denen die feuchte Kälte rauscht.

Gebäude stellen die Topologie voll. Es ist schwierig, den Überblick zu behalten.

Wir behalten ihn. Wir krempeln dem Talgrund den Ärmel auf. Landschaft, an den Häusern vorbeigeschmuggelt. Ich mag es, deinen Augen zuzusehen, wenn wir vom Wandern sprechen.

Ein weggeworfenes Mühlrad neben der alten Mühle, mahlt Schnee mit schwarzen Schaufeln. Eine Fremde tritt auf den Weg zur Mühle, sieht sich um, stumm, wir grüßen auch nicht. So stehen wir jedes für sich vor der Vergangenheit, die für alle gleich ist.

Der Mühlteich verlandet; Wasserpflanzen stoßen ans Eis, wie Lippen von Kindern, die eine Fensterscheibe küssen.

Noch eine neue Schicht Weg übern Weg gelegt. Eine tröstliche, neue Schicht, noch einmal Feiertagskerzen in den Fenstern.

Der Schnee wie frische Farbe in den Zimmern eines neu zu beziehenden Hauses. Zu Hause in der Welt, wieder zu Hause da, das wär was.

Überall schon die Meisen, als hingen die Bäume voller Fahrradklingeln.

„Was hast du für kalte Hände!“, sagst du, und dann ist es wirklich Zeit, nach Hause zu gehen.

Die Dinge behaupten sich

Ich schaue mir schräge Dinge an. Der Drehschalter am Elektroherd, damit fängt es an. Eine Bewegung, eine Haltung, die auf andere Dinge abstrahlt, von ihnen aufgenommen, weitergegeben, variiert wird. Ein paar Küchenhandschuhe, schräg an ihrem Haken, leer wie verschmähte Kollektebeutel. Ein abgeleckter Löffel, schräg neben der Tasse. Eine Möhre auf dem Schneidbrett. Eine sich neigende Hyazinthe, wie ein müdes Kind, die Stirn auf dem Tisch.

Alles, was ist, denke ich. Alles, was ist. Reflexe, Schattierungen, Schatten. Tiefen und Flächen, Oberflächen. Dinge, die sich in der Welt behaupten, einfach so, mühelos, so selbstverständlich, daß es mich vor ihnen in Frage stellt. Ich bin kein Ding, ich denke, ich denke zuviel. Ich bin Empfindung, Schmerz, Sorge, Einsamkeit. Ich bin Verschwinden. Weniger als ein Tier.

Wie die Dinge sich neigen, die aufgehängten Löffel, Kartoffelstampfer, Pfannenwender, war da nicht schon ein Rutschen im Gewürzregal, auf dem Tisch, die Teller, Tassen, als kränge das Zimmer wie ein Schiff, nicht nur das Zimmer, das Haus, und alles, als hörte jetzt jede bekannte Ordnung auf, um durch eine völlig neue, aberwitzige, unbegreifliche Unordnung ersetzt zu werden.

Zeit und Maß. Das Ticken der Uhr, das Grollen des Kühlschranks. Autos auf der Straße, An- und Abschwellen von Geräusch. Räume, ausgedehnt hinterm Fenster, so riesig und unabmeßbar, daß man sagen kann, das ist alles, das enthält alles, was es gibt. Nacht, aus der Tag wird, und wieder Nacht, ich bin Verschwinden und Haltlosigkeit, und alles, was gut und sicher wäre, jeder Halt, jeder Trost, ist unerreichbar, in mir nicht zu erreichen und außer mir auch nicht.

Frühprotokoll: eine Bahn früher als sonst

Die Hügelkette wie aus dem nassen Acker mit einem schmutzigen Daumen an den Horizont geschmiert. Ein Überlauf an Schatten. Die Fahrzeuge sind fortgewandert, wie Herden, die woanders Weidegrund gefunden haben. Wege, verschlammt wie Kinder, spielen Fangen auf dem Feld. Ein Kirchturm hält Wache.

Eine Bahn früher als sonst. Ein Anspannung weicht. Sich einen Finger vors Gesicht halten und die Sehschärfe einstellen, Hügelkette, Finger, Finger, Horizont. Irgendwann ist alles zum Greifen.

Die Gesichter so weich und lebhaft. Vor mir zwei alte Frauen, so fein und bunt, so schwarzrotgoldenblaß, gäbe es Barbie für Greise, sie müßten genau so aussehen. Sie sprechen rheinischen Dialekt, der Singsang mit den seltsam langen Vokalen macht einen merkwürdigen Absatz mit der gesuchten Eleganz ihres Äußeren. Man würde etwas Gezierteres vermuten, Vokale, die sich mit kaum geöffneten Lippen artikulieren lassen, mit gespitztem Mund.

Schuhe beobachten. Ich muß allen Leuten auf die Schuhe gucken. Immer. Meistens graut mir vor dem, was ich erblicke, ich tue es trotzdem. Heute gefallen mir diese schwarzweißen Sneaker, aber die sind nur bei Frauen mit kleinen Füßen hübsch. Ab einer gewissen Schuhgröße sehen die nur noch albern aus.

Mephisto-Schuhe dagegen sehen egal in welcher Größe albern aus.

Manche Schuhe gleichen Rennautos oder vielleicht Hochtechnologie-Staubsaugern. So mit Röhren und Abgasleitungen drumrum. Ein weißer Belag fällt der Trägerin solcher Sportschuhe von der Sohle. Hat es draußen geschneit, oder löst der Schuh sich auf?

Draußen nur Schlamm, der bis zu den Fenstern reicht. Ein Traktor versinkt in der Dämmerung. Wie trockene Pizzaränder liegen die Gehöfte verstreut in der Ebene. Das Licht tut sich schwer mit Hecken und Bäumen, als schmerzte die Stirn. Den Kopf wieder ins Buch stecken. Nur nicht aufstehen müssen! Schon gar nicht für Mephistoschuhträger. Während die Bahn sich füllt, lasse ich mich in den Tag ziehen vom muntern Gewicht griechischer Verse.