Peace of mind

Nachmittag um vier, eine schmale Straße zum Bahnhof, ein Gelähmter auf Krücken kommt mir entgegen. Ich vermeide den Blick, weiche aus, ohne meinen Schritt zu verlangsamen, weiche aus, ohne den Anschein zu geben, daß ich ausweiche. Ich bin schon zwei Meter weiter, da höre ich es hinter mir rufen, „Hallo? Entschuldigung?“, und ich weiß schon, es ist der Mann mit der Lähmung. Ich bleibe stehen; und in diesem Moment ist die Entscheidung für alles weitere bereits gefallen, ich kenne mein Skript so gut wie der Gelähmte es kennt, und indem ich stehengeblieben bin, anstatt kopfschüttelnd weiterzugehen, keine Zeit, keine Zeit, habe ich in meine Rolle eingewilligt in dem Stück, das wir jetzt aufführen werden. Ich drehe mich um.
Kleine Statur, Brille mit dicken Gläsern, dunkle, südländische Haut, die Kleidung gedecktes Blau, unauffällig elegant.
„Entschuldigung“, ruft der Gelähmte noch einmal, „darf ich Sie was fragen? — Sind Sie von hier?“ Ich bejahe. „Kennen Sie sich hier ein bißchen aus?“ Ich bejahe abermals. Zu meiner Rolle gehört jetzt auch, daß ich noch kurz die Hoffnung haben muß, der andre werde mich nur nach dem Weg fragen, obwohl schon vollkommen klar ist, daß diese Fragen zur eröffnenden Strategie eines Vollprofis gehören. Vertrauen erschleichen, das Gefühl vermitteln, wichtig zu sein, gebraucht zu werden. Hat man jemanden dazu gebracht, zweimal ja zu sagen, wird er höchstwahrscheinlich bei der dritten Frage, die nach dem Geld nämlich, auch ja sagen. Die höchst abenteuerliche Geschichte von einem verlorenen Zugticket, von einer Epilepsieerkrankung und einem alle drei Stunden einzunehmenden Medikament ist dann eigentlich nur noch Nebensache, eine notwendige Formalität. Das Skript sieht es so vor, und so geschieht es auch. Ich greife nach dem Portemonnaie, runzele meiner Rolle gemäß ein wenig die Stirn, damit es nicht allzu bereitwillig aussieht, ziehe einen Zehner heraus, reiche den dem Gelähmten, „Wieviel brauchense denn?“ Irgendetwas in meinem Betragen muß mein Gegenüber jedoch übermütig gemacht haben, denn er beschließt, das Skript ein wenig in seinem Sinne zu ändern. Jammernd stößt er hervor, „Das Ticket kostet sechzundfünzig Euro“. Und plötzlich steht da ein weinender Mann vor mir.
Nun gut, ich bin stehengeblieben, er schreibt das Stück, ich habe eingewilligt, und Tränen kann ich unmöglich widerstehen, nicht einmal falschen. Im Skript steht, daß ich erst protestiere („Sechsundfünzig Euro? Also hörnsemal!“), daß der andre beteuert, so etwas sei ihm noch nie passiert, ich müsse ihm bitte glauben, er habe wirklich ein Problem! Und daß ich ihm dann alles gebe, was ich noch habe, vierzig Euro, „Ich hoffe sehr, daß Ihre Geschichte stimmt“, kann ich mir nicht verkneifen zu sagen, und er: „Ich kann’s Ihnen auch zurückschicken … “, und auch das steht im Skript.
„Vergessen Sie’s“, murmele ich und wende mich ab.
Der Bahnsteig war voller Menschen. Ich ging unter ihnen herum, einer, der gerade einem Betrüger aufgesessen war. Ich stellte mir vor, man hatte die Szene beobachtet. Schämte ich mich? Kam ich mir blöd vor? Reute es mich? Ich hatte in vollem Bewußtsein, daß ich betrogen werde, in den Betrug eingewilligt: Also schämte ich mich weder, noch reute es mich im geringsten.
Bei Patti Smith lese ich ein Geschichtchen von einer Busreise in Spanien: Ein Losverkäufer verkauft ihr in einer Autobahnraststätte ein überteuertes Lotterielos, bestellt sich von den sechs Euro ein Essen, setzt sich zu ihr an den Tisch und verspeist es in ihrer Gesellschaft. Das Los ist eine Niete. Ob sie glaube, zuviel für das Los bezahlt zu haben?, wird sie von Teilnehmern der Reisegruppe gefragt. Smith verneint: You never can pay too much for peace of mind.

Lebensmaschine

Und so geht es immer weiter.
Als wäre nichts gewesen. Es ist erstaunlich. Es ist unheimlich. Es hat die Unerbittlichkeit einer Maschine, einer Lebensmaschine, die ich, der Teil von mir, der glaubt, zu denken, zu lenken und den Überblick zu haben, mühsam bewohne. Mühsam. Weil man ja nicht anders kann, als zu wohnen. Nicht mehr zu wohnen, gar nicht mehr … unvorstellbar. Keinen zweiten Gedanken wert.

Leben als eine Droge. Der Stoff macht keinen Spaß mehr, man braucht ihn. Man ist seiner überdrüssig, man saugt ihn ein. Gierig saugt man. Weil man nicht anders kann. Auf dem Leben hängengeblieben.

Morgens, vor dem Aufstehen. Der Radiowecker plärrt. Gleich stehe ich auf, denke ich, gleich, und bleibe liegen. Gleich, denke ich, wirst du aufgestanden sein, wirst die Bettdecke weggeschlagen haben, die Beine über die Bettkante geschwungen haben. nach den Hausschuhen getastet haben. Gleich wird, denke ich, dieser Gedanke Wirklichkeit sein. Wie kann es dazu kommen? Unbegreiflich. Warum bleibe ich nicht liegen? Unbegreiflich. Warum vergeht die Zeit? Warum wird gleich später sein, warum – – –

Habe ich wirklich eben die Bettdecke weggeschlagen, die Beine über die Bettkante geschwungen, nach den Hausschuhen getastet, setze ich gerade wirklich die Brille auf, gehe ich wirklich in die Küche, schließe ich wirklich das Fenster, fährt dort wirklich ein Mofa durch die Straße, bin ich das überhaupt? Wie ist es möglich, daß ich das bin?

Lebensmaschine. Zeitmaschine, ein Werk, das Zeit produziert und vernichtet, unaufhörlich, noch im Schlaf. In dieser Maschine feststecken und sich selbst beobachten, wie man sich selbst beobachtet, wie man vorausschaut auf den Moment, wo man, eine halbe Stunde später, auf einem Feldweg laufen wird. Die Furcht davor. Die Furcht, diesen Moment wirklich Wirklichkeit werden zu lassen, um dann auf den Moment zurückschauen zu müssen, an dem man zu dem, was jetzt (jetzt?? dann??) wirklich ist, vorausschaute, um den Moment, wo man zu dem Moment, wo man zu dem, was jetzt ist, vorausschaute, vorausschaute. Um dann den Moment … wo man …

Die Furcht davor, diesen Moment nicht Wirklichkeit werden zu lassen.

Vielleicht nie mehr. Niemals.

Tänzer

Sie tanzen.
Drüben tanzen sie.
Ich stehe am Fenster in der eiskalten Luft. Die Straßenlaterne überstrahlt alle Sterne, aber man riecht den freien, schwarzen Himmel, es riecht, wie nur eine eisige Winternacht ohne Schnee riechen kann. Noch keine acht Uhr, und die Scheiben der geparkten Autos belegen sich schon mir Reif, und beschlagen ist auch der ins Zimmer ragende Fensterflügel. Licht fällt zu meinen Füßen in den Vorgarten, auf welke Geranienklumpen, veredelt durch Rauhreif. Die Straßen sind leer, niemand geht bei dieser Witterung ohne Not raus.
Aber irgendwo ist doch Musik? Das kommt doch von draußen, es klingt, als spielte jemand einen Popsong vom Mobiltelephon ab und sänge dazu, hohe Stimmen, Jugendliche, Mädchen, drüben auf der Bank an der Kreuzung vielleicht? Oder kommt es näher? Nein. Es muß ganz nahe sein, irgendwo in der Straße, aber wo …?
Im Haus gegenüber sind mehrere Fenster erhellt. Da ist die Familie mit kleinen Kindern, man sieht durch die Vorhänge ins Wohnzimmer. Rechts ein Arbeitszimmer, scheint es. Und dann ist da dieses Fenster im ersten Stock. Schummeriges Licht herrscht in dem Raum. Die Wände sind kahl, die Lichtquelle nicht zu sehen. Das Fenster ist gekippt, und von dort kommt die Musik, kommt das gedämpfte Singen. Dann sehe ich jemanden hüpfen. Und noch einen. Der Leuchtfleck eines Smartphones zuckt durch den Raum.
Sie tanzen. Sie springen und tanzen. Es müssen fast noch Kinder sein, die Bewegungen sind voller Übermut, ohne das Gespreizte von Teenagern zu haben, ohne das Gefallenwollen, die da tanzen, gleichen eher tobenden Kindern als pubertären Feiernden. Und doch ist es kein Toben, diese jungen Leute tanzen wirklich. ausgelassen, hüpfend (immer wieder fliegt jemand aus der Tiefe des Raums ins Bild und verschwindet wieder, als spielten sie Fangen), voller Elastizität und Wildheit, Leute, denen niemand zuschaut, und die deshalb alles wagen. Deshalb das gekippte Fenster, wer so tanzt, wer so alles gibt, dem wird schnell warm.
Eine Party ist es auch nicht, denn dazu ist es zu früh, die Musik zu leise, die Tänzer zu wenige. Für eine Party, überhaupt für etwas Geplantes, ist das alles nicht ernst genug. Es scheint wirklich so zu sein, daß sich hier ein paar Freunde getroffen und spontan in Tanz gefallen sind. Einfach so, weil die Musik so schön ist, weil die Beine jung sind, und, klar, weil das Leben viel zu wundervoll ist, um mit trüben Gedanken am Fenster zu stehen und andern beim Tanzen zuzuschauen.