Devon

Beim Wandern habe ich einmal am Ackerrand einen merkwürdigen Stein gefunden. Etwa honigmelonengroß, wog er gut seine zehn bis zwölf Pfund und hatte die Form einer riesigen Kartoffel. Er war von schmutzigroter bis graubrauner Farbe, wies keine Bruchkanten auf, war aber auch nicht glattgeschliffen, und zeigte auf der Oberfläche zahlreiche Narben und Grübchen, die sich bei näherm Besehen als Versteinerungen münzgroßer Muscheln und Schnecken herausstellten. Es war Winter, Wind tobte übers Feld, Schneegraupel fanden keinen Halt auf den frisch gebrochenen Schollen. Ich las den Stein mit vor Kälte fühllosen Fingern auf, reinigte ihn von Schneematsch und Erde und legte ihn in meinen Rucksack. Ich trug ihn noch fünfzehn Kilometer nach Hause, wo er seitdem die Badezimmerfliesen ziert.

Was ich noch weiß von dieser Wanderung: Einem nicht mehr gepflegten Weg folgen, an Viehweiden auskommen, unter einem Weidezaun durchkriechen, dabei die Hand auf einen Brennesselschößling stützen, eine Erinnerung, die noch tagelang schmerzt. Neue Wege durch abgelegene Landstriche, ein Landgraben, ein Wacholderschutzgebiet; mit steifen Fingern eine Brotrinde halten, da hat der Wind nachgelassen. Auf einem neuen Weg in eine alte Stadt. Worte, die ich wie einen Mantel über mich werfe. Beim Nachhausekommen das glückhafte Gefühl, etwas Schönem begegnet zu sein, eine Gnade des Landes selbst erfahren zu haben. Wie Wind, der noch im Innern weiterbraust. Der Stein machte ein hohles Geräusch, als ich ihn im Bad auf den Boden legte.

Koniferenzapfen; knospende Zweige; Pilze und Beeren; Häherfedern. Meistens ist aber das, was ich vom Wandern mitnehme, ein Stein. Ein kleines Schieferstückchen vielleicht, schwarz wie Gagat. Oder ein Stück Basalt, den eine Quarzspur durchzieht. Oder einen symmetrischen Kiesel, der mir in der Dämmerung als irgendwie leuchtend in die Augen fällt. Solche Funde trage ich Monate mit mir herum, in jeder Jacke habe ich mindestens einen. Wenn ich nichts zu tun habe, etwa auf eine Straßenbahn warte, spiele ich damit herum. Mit der Zeit werden die Steine ganz abgegriffen und glänzend. Dann sind sie irgendwann mehr als nur ein Stein. Stecke ich die Hand in die Tasche, ist mir der Stein sofort vertraut. Ich weiß immer genau, welchen ich wo gefunden habe.

Ein Gegenstand, der so langsam altert, daß er als Anker im Strom der Zeit dienen kann. Eine Fadenbindung der übereinander fallenden Augenblicke, die Stelle, die alles zusammenhält, über die eigene Existenz hinaus, aus dem Devon übers Erdmittelalter bis zur Erdneuzeit, mein eigenes Daseinsblinken ebenso verklammernd wie die unendliche Zukunft. So langsam, so sehr in sich selbst ruhend, so sehr sich selbst gleichend von Augenblick zu Augenblick, daß die Zeit ihn aus sich fallen läßt.

Ich starre auf ein Mosaik aus Herbstblättern. Gelb an Rot an Braun. Kältesteife Finger halten ein Würstchen, ein Stück Brot. Ich kaue, es schmeckt nicht. Ich müßte die Nase putzen, lasse den Rotz über die Lippe laufen. Und starre aufs Laub. Hier, und jetzt, und hier, und irgendeinmal. Ich saß hier mal mit einem Freund und beschwerte mich über das Geklingel aus fremden Kopfhörern. Es war ein froher Sommertag, und statt Jetztpunkten gab es Erleben. Ströme. Erinnerungen.
Elstern schimpfen in entlaubten Espen. Vom parallelen Pfad jenseits des Baches klingen Stimmen herüber. Die Strukturen des Laubs brennen sich auf der Netzhaut fest. Die Elstern schweigen wieder, sind bereits Vergangenheit, während sie im Kopf noch nachzuhallen scheinen, wie das Nachbild des Laubs, Vergangenheit genauso wie das Gespräch mit dem Freund, wie die Stimmen am Bach, die eben verstummt sind, wie alles, was nicht jetzt.
Jetzt.
Jetzt.
Ist.
Und nicht mehr ist.

Wenn ich wandere, versuche ich, zurückzukehren, in ein Haus aus Bildern und Luft. Ich sehne mich nach Orten, aber wenn ich dort bin, sind die Orte nicht mehr da. Ort und Zeit scheinen verschränkt, eins so unerreichbar wie das andere. Nur das Jetzt, da müßte man zu Hause sein, heimisch werden im Flug, im freien Fall. Oder in den Erinnerungen.

Als könnte man sich noch und noch in den Bildern der eigenen Geschichte aufhalten. Es gelingt nicht. Ich bin weder hier ganz, noch woanders. Ich fasse den Stein in meiner Jackentasche fester, und bin in einem seltsamen Raum, indem ich mir dabei zusehe, wie ich den Rotz hochziehe und auf ein Mosaik von Herbstblättern starre.