Merkwürdige Assoziation, die sich an die Erinnerung an einen Schatten knüpft, der mittags über ein Schulpult wandert: Es muß dasselbe Klassenzimmer gewesen sein, in dem in einer Religionsstunde in der zehnten Klasse der damalige Lehrer eine ablehnende Bemerkung zur Selbstbefriedigung machte, nachdem er einen Mitschüler aus dem Religionsbuch einen entsprechenden Passus hatte ablesen lassen. Natürlich weiß ich nicht mehr, was für ein Buch das war, aber vielleicht weiß das Netz etwas. Ein Forum, über dessen sonstige Ausrichtung ich mir kein Urteil erlaube, führt mich in diesem Zusammenhang zu folgendem Auszug aus dem «Jugendkatechismus der Katholischen Kirche, Youcat» (Was es alles gibt!):
Die Kirche verteufelt Selbstbefriedigung nicht, aber sie warnt davor, sie zu verharmlosen. Tatsächlich sind viele Jugendliche und Erwachsene davon gefährdet, im Konsum von geilen Bilder, Filmen und Internetangeboten zu vereinsamen, statt in einer persönlichen Beziehung Liebe zu finden. Die Einsamkeit kann in eine Sackgasse führen, wo Selbstbefriedigung zur Sucht wird. Nach dem Motto «Für Sex brauche ich niemanden; den mache ich mir selbst, wie und wann ich ihn brauche» wird aber niemand glücklich.
Und siehe da! Genau das war die damals vertretene Auffassung. Wie der weiteren Lektüre in der Diskussion zu entnehmen ist, gibt es tatsächlich Menschen, die so etwas immer noch glauben:
Und kann da nur zustimmen! Es gibt Menschen, die werden durch Pornokonsum beziehungsunfähig und denken beim «realen» Sex nur mehr an ihre «heimlichen» Fantasien. Man braucht ja nur in irgendein Erotikforum zu schauen und bekommt alle Möglichen Fantasien geboten.
Beziehungsunfähigkeit durch Pornokonsum? Steht so ein Quark eigentlich heute immer noch in den Religionsbüchern? (Ich würde mein Kind sofort abmelden.) (Nicht daß mich das damals beeindruckt hätte. Aber verunsicherten Jugendlichen kann man leicht was vom Pferd erzählen.)
Du bist zu dick, du bist zu schlaff, mach mal Sport, du bist zu käsig, ernähr dich gesünder, geh früher zu Bett, iß mehr Obst und Gemüse, wasch dir die Haare, geh mal an die frische Luft, drück nicht an den Pickeln rum, halt dich gerade, popel nicht, nimm die Hand aus der Hose!
Als hätten Eltern, Lehrer, Geistliche, sonstiges Erziehungspersonal iregndein Anrecht auf den Körper von Jugendlichen. Irgendein Mitbestimmungsrecht. Eine Verfügung. Als hätten die heranwachsenden Söhne und Töchter ihren Körper nur von den Eltern geborgt. Als müßten sich jene bei diesen für jedes Vergnügen dieses Körpers noch eine Extraerlaubnis wegen Zweckentfremdung einholen.
Insofern könnte man die Selbstbefriedigung auch als einen Akt der emanzipatorischen Selbstbehauptung ansehen, der Ermächtigung über den eigenen Leib. Dazu müßte man Jugendliche eigentlich nur ermuntern, wenn darin nicht über den Akt des Gewährens wieder eine subtile Ermächtigung läge.
Tod, Fortpflanzung, Essen, Kleidung – das sind Bereiche, die viele Religionen zu ihrer Sache gemacht haben. Bei uns sind Kleidung und Nahrung inzwischen Privatsache; die Sexualität wird es (langsam, das gebe ich zu), bloß den Tod, den will niemand sonst.
Interessant finde ich ja, daß in der modernen, “aufgeklärten” Gesellschaft Mode und Diäten die religiösen Vorschriften in ähnlicher Härte abgelöst haben.
Ganz so schlimm ist es dann doch wohl nicht. Niemand, der das Falsche trägt oder sich ungesund ernährt, wird im Maße geächtet wie jemand es geworden wäre, wenn er vor 150 Jahren sich Sonntags nicht in der Kirche blicken ließ. Und nicht-religöse Kleiderordnungen gab es damals auch schon. Food fads wohl noch nicht; dafür war einfach nicht genug Essen da.
Niemand, der das Falsche trägt oder sich ungesund ernährt, wird im Maße geächtet …
Nein? In gewissen Subgruppen schon. An Schulen kann man einige davon sehen. Im Geschäftsleben auch.
Und wer sich ungesund ernährt, begeht Sünden, die mit Leibstrafen abgegolten werden müssen. Torte –> Joggen, Schokolade –> Crosstrainer. Menschen in Restaurants neigen dazu, über Essen zu reden — und nicht darüber, wie es schmeckt, sondern darüber, wie sich das wieder runtertrainieren läßt.
Gibt, wie in der Religion auch, mehr und weniger Radikale, natürlich.