Frühprotokoll

Im Radio läuft ein kleines Stückchen für Klavier. Die Töne scheinen unsicher, zögern, es ist ein bißchen so, als suche das Instrument nach dem richtigen Ton, nach dem richtigen Einfall, oder als versuchte es sich nur zu erinnern, was es mal irgendwo gehört hat. Und zugleich versucht der Hörer herauszufinden, woran ihn dieser Erinnerungsversuch seinerseits erinnert. Falsch klingt es nicht, eher … gedankenverloren, könnte man sagen, wie etwas, das sich selbst überraschen muß, dem Gekritzel nicht unähnlich, das manche Menschen beim Telephonieren auf dem Notizblock niederlegen, wobei sie völlig unbewußt mitunter verblüffend schöne Ornamente zurücklassen.
Und so, wie man später auf dem Notizblock jene seltsame, rätselhaft schöne Zeichnung aus eigener Hand findet, die von einem Fremden angefertigt scheint, so entdeckt sich diese Musik plötzlich selbst. Der richtige Gedanke ist zum Greifen nah, liegt den Akkorden, die sich anschicken, in die Dominante zu wechseln, schon auf der Zunge, noch ein Umherschieben, ein Atemholen, ein Innehalten auf dem Leitton nach E-Dur, und da, da ist es. Eine zwei- oder viertaktige Phrase, die man sofort wiedererkennt, obwohl man sie noch nie gehört hat; es ist wie die verblüffende Lösung auf ein vertracktes Rätsel, und spätestens jetzt weiß man, das muß Scarlatti sein.

Mit Scarlatti hat sich mir eine harmlos-unangenehme Begegnung unauflöslich verknüpft. Eine Dozentin an dem Institut, wo ich studierte und als Hilfkraft tätig war, nahm ihren Abschied aus dem Dienst und hatte alle Institutsangehörigen zu einer Feier eingeladen, die im Hauptgebäude der Universität stattfinden sollte. Ich war ein paar Minuten zu früh dran, und da ich noch etwas zu erledigen hatte, beschloß ich, noch kurz in meinem Istitut vorbeizugehen. Und da kamen sie mir auch schon alle entgegen, ihrerseits in umgekehrter Richtung vom Institut auf dem Weg ins Hauptgebäude, in dem Augenblick, wo ich gerade vom Ort der Feierlichkeit wegstrebte. Professoren, Dozenten, Lehrbeauftragte, Sekretärinnen und das ganze Gefolge der Hilfskräfte. Erst nur ein, dann zwei bekannte Gesichter, bis der Blick vom Einzelnen ins Gesamte springt und man sich einer Menge gegenüber sieht, in deren Augen wiederum das, was man gerade tut, bizarr erscheinen muß, so daß man, den Blickwinkel der andern, der Menge, einnehmend, mit der eigenen Erscheinung wie mit einer lächerlichen Clownsgestalt konfrontiert wird. Jetzt nur rasch irgendeine lässige Erklärung, etwas, das dir die Souveränität wieder zurückgibt, den Anschein wenigstens solcher Souveränität den andern gegenüber vertritt. Was natürlich nicht gelingen kann, wenn man diesen Punkt der Selbstwahrnehmung einmal erreicht hat.
Das alles hat mit Scarlatti nicht das geringste zu tun; es besteht nur eine dieser seltsamen Verknüpfungen, deren einziger Zusammenhang darin liegt, daß sie zwischen zwei zeitgleichen Ereignissen bestehen, wo eins auf das andere abzufärben, sagen wir: gelernt hat. Oder eins das andere zu usurpieren erfolgreich war: Während ich vom Hauptgebäude zum Institut ging, muß ich jedenfalls diese petite phrase der Sonate K 322 im Ohr gehabt haben.

Eine zweite zeitliche Verknüpfung zu dem Scarlattistück ist die, daß ich in einem Wohngebiet mit Mietshäusern umherfahre und wahllos kleine Wohnungsgesuche auf Zetteln in Briefkästen verteile. Wenn nicht derselbe Tag wie der der Verabschiedungsfeier, so doch in unmittelbarer Nähe, mindestens dieselbe Woche. Seit jenen Tagen höre ich, kenne ich, Scaralatti, weiß ihn einzuordnen. Der Wahlspanier war eine Entdeckung jenes Frühsommers, aber wie und woher? Ich weiß es nicht mehr, ich wünschte, ich hätte Buch darüber geführt. Wahrscheinlich ist, daß ich eine Scarlattisonate im Radio hörte, irgendeine, nicht die fragliche, und daß, immer hungrig nach frischer Musik wie ich war, mich darüber der Komponist zu interessieren begann. Ich weiß sogar noch, wo ich die CD dann kaufte, und je länger ich schreibend darüber nachdenke, desto mehr glaube ich, es war doch eine bestimmte Sonate, die ich haben wollte, die dann aber in der angeschafften Sammlung doch nicht vorkam. Aber welche Sonate war das? Und habe ich sie später doch noch gefunden?

Es muß der zweite Sommer nach meiner Rückkehr aus der Stadt am Ende des Jahrtausends gewesen sein, und alles legte mir Anfänge nahe. Die Musik, die Jahreszeit, die Liebe, die Bücher, die Wege durch den von ungewohnter Seite her betretenen Wald: Anfänge, die nicht mehr ganz frisch schienen, denen eine Müdigkeit anzumerken war, etwas von Vergeblichkeit, von Wiederholung. Um die Ecke meiner damaligen Wohnung gab es ein kleines Freibad, ich ging jeden Morgen schwimmen. Ich las in der neuen Sprache, ich belegte Vorlesungen und Seminare, ich lernte viel, ich kam nicht weiter, ich machte Pläne, die einander in ihrer Kühnheit zu übertreffen suchten. Rückkehr aus dem Licht, dem Staub, dem Lärm, aber auch der kompromißlosen Schönheit und Häßlichkeit der Stadt am Ende des Jahrtausends. Ich war immer noch geblendet, noch im hellsten Sommer. Ich schenkte einer hübschen Hilfskraft im lateinischen Seminar eine Packung Kekse als Dank für eine freundliche Hilfestellung, hoffte auf noch mehr Freundlichkeit, wurde enttäuscht.

Ich fand eine neue Wohnung. Ich fand ein neues altes Schwimmbad. Je mehr ich lernte, desto ferner schien der Abschluß. Und irgendwie war da immer diese Sonate von Scarlatti.

Das Cembalo stöbert in Akkorden wie in einem vertaubten Archiv, bis plötzlich Licht auf ein altes Photoalbum fällt, und da ist sie wieder, die zwei- oder viertaktige kleine Phrase, warm und bei sich zu Hause, ein Atemzug der Gewißheit in einer See aus Ungewissem, wie die plötzlich scharfrandige Erinnerung an einen fernen, schwebenden Sommertag.

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