Warum ich Begegnungen mit Fremden anstrengend finde

Später am Tag, als wir im Gespräch auf etwas zurückkommen, das unser selbsternannter Fremdenführer uns mittags erzählt hat, sagt meine Begleiterin lachend, du hast da gar nicht richtig zugehört, nicht?
Das stimmt, ich habe nicht richtig zugehört, ich war mit etwas anderem beschäftigt. Damit hängt auch zusammen, warum ich so schwer mit Leuten ins Gespräch komme. Schon die schiere Präsenz eines Fremden, noch dazu eines, der sich uns förmlich aufgedrängt hat, muß ich erstmal in Ruhe verdauen, ehe ich das, was mir diese schier übermächtige Gegenwart sagt, erfassen kann. Ich kann vorerst nicht mehr, als diesen alten Mann mustern, der uns, wie wir unentschlossen auf dem Marktplatz standen, mit einem zugerufenen Entschuldigen Sie bitte! angesprochen hat, um uns unaufgefordert den Weg zur Touristeninformation zu erklären: Einen Kopf kleiner als ich, ist er mit einem dunkelblauen Anzug von feinem Stoff gekleidet, trägt Krawatte, keinen Hut, und, ein Stilbruch, über dem Jackett – es ist ein kühler Tag – eine Windjacke vom Grabbeltisch. Sein Blick ist klar, sein Gesichtsausdruck wach. Seine Sprache dialektal mit rollendem r, er artikuliert deutlich, spricht gepflegt und höflich. Sein Kopf ist voll von Fakten, und die Art, wie er diese Fakten erzählt (historische Begebenheiten, die mit dem Freiherrn vom Stein zu tun haben, ebenso wie jüngere örtliche Ereignisse, etwa die Schließung einer Realschule) die routinierte Leichtigkeit, mit der sie ihm einfallen, läßt darauf schließen, daß er sie nicht zum ersten Mal und wahrscheinlich oft wiedergibt. Sein Alter sicher jenseits der siebzig, aber wenn es ein Mensch ist, der viel an der frischen Luft war in seinem Leben, könnte er auch etwas jünger sein. Vom Kinn zum Hemdkragen zieht sich eine lockere Hautfalte, einer Stierwamme nicht unähnlich. Die Hände sind kräftig, kurze Finger, die leicht nach der Seite gekrümmt sind. (Später verrät er uns, daß er das achte Jahrzehnt schon überschritten hat.) Es ist ein schönes, ja, ein prachtvolles Greisenantlitz, und um diesem Menschen zuhören zu können, müßte ich ihn erstmal eine halbe Stunde ganz in Ruhe betrachten dürfen, einfach nur betrachten. Erst dann wäre ich so weit, zur nächsten Information überzugehen. So aber strömt alles auf einmal auf mich ein, und noch dazu völlig unerwartet. Dazu kommt noch, daß mich mehr die Situation der Begegnung selbst fordert, so daß ich mir Fragen stelle wie diese: Was will dieser Mensch? Sucht er jemanden zum Reden? Ist er einsam oder einfach nur ein geselliger Typ? Sind wir seine heutigen Opfer? Was sieht er in uns? Welchen Verlauf wird dieses Gespräch nehmen? Wie läßt es sich schonend wieder beenden? Was soll ich antworten, wenn überhaupt? Soll ich Interesse zeigen oder wenigestens welches heucheln? Müßte ich mich nicht interessieren, nur damit ich später darüber schreiben kann? Soll ich allem einfach zustimmen, falls der Mann beginnt, Unsinn zu erzählen, oder lieber hübsch akademisch widersprechen? Was würde Bill Bryson tun? Undsoweiter. Dies alles natürlich nicht wohlgeordnet, sondern in einem einzigen Strom verworrener, eher dem Unangenehmen zuneigender Empfindungen, was mich sofort nervös und verschlossen macht.
Ist es da ein Wunder, wenn ich so gut wie nichts von dem habe aufnehmen können, was uns der Greis erzählt hat? Und so ist es meistens.
Daher kommt es, daß ich, obwohl ich immer gerne von Begegnungen lese, die andere beim Wandern oder Reisen machen, sie doch recht ungern selbst erlebe. Dabei träume ich davon, interessante Menschen zu treffen. Ich male mir tiefe Gespräche, verblüffende Einsichten, überraschende Philosophien, kuriose Lokalhistörchen aus. Ich stelle mir vor, wie der Wanderer und der Einheimische einander mit Erfahrungen bereichern. Ich schwärme von einem Schatz an Geschichten, den ich von der Reise mit nach Hause bringe. Aber wie soll das passieren, wenn man die Begegnung nicht nur nicht sucht, sondern sogar scheut? So nehme ich mir vor, Begegnungen, wo sie passieren, wenigstens geschehen zu lassen, ja, sie zu ertragen; mache es mir zur Pflicht, auszuharren, nicht zu urteilen, mir Zeit zu nehmen. Überlege mir Fragen, die man stellen könnte. Denke an Bill Bryson.
Aber sobald ein Mensch aus Fleisch und Blut vor mir steht, will ich nur noch eins: weg.
Diesmal ist es meine Begleiterin, die uns loseist, indem sie geschickt nach einer Empfehlung für ein Café fragt. Wir lassen den schönen Greis stehen, und ich atme enttäuscht auf.

0 Gedanken zu „Warum ich Begegnungen mit Fremden anstrengend finde

  1. Geht mir verflixt ähnlich. Allerdings habe ich einen internen Grüßaugust, den ich vorschicken und der dann Konversation machen kann, während mir all das verworrene Zeug durch den Kopf geht. Der ist manchmal hilfreich.

  2. Schließe mich euch an. Aber ich sehe keine Ambivalenz. Es geht um Sehnsucht nach wirklichem Austausch, und man merkt schnell, ob eine Begegnung dieses Potential hat oder nicht. Und wenn nicht, wird das Gespräch quälend, und dann nichts wie weg.

    1. Na, es gibt halt Menschen, die kommen mit allen ins Gespräch, ohne oberflächlich zu sein. Und die bringen dann die Geschichten nach Hause. So jemand wäre man gern manchmal. Ist man aber nicht. Die Ambivalenz besteht dann zwischen dem, was man ist und dem anderen, wie man gern sein möchte. Bei mir ist das jedenfalls so.

  3. Ja, ich verstehe das sehr gut. Bei mir als Augenmensch kommt immer erst das gucken und dann lange nichts. Meist ist die Situation dann schon vorbei.

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